Nach dem Urteil gegen Lula

Noch ist nichts entschieden

Der konservative Block in Brasilien hat einen wichtigen Sieg errungen, nicht aber das Kräfteverhältnis verändert. Lula spielt darin noch immer eine entscheidende Rolle.

Von Antonio Martins

"Sie haben den Putsch nicht gemacht, um Lula wieder an die Macht zu lassen." Dieser defätistische und vor allem verkürzte Satz geistert durch die Filterblasen der Linken, nachdem das Regionale Bundesgericht sein Urteil gegen den ehemaligen Präsidenten bestätigt hat. Was ist (so) falsch daran?

Eine Welle der Euphorie erfasste die Märkte und Medien, nachdem am Mittwoch, dem 24.1.2018 drei Richter des Vierten Regionalen Bundesgerichts Lulas Strafmaß noch einmal erhöht und seine Verteidigung durch ein vorab abgekartetes Urteil erschwert haben. Die Wertpapierbörse von São Paulo verzeichnete Zuwächse um 5.1%, die Zeitungen verkünden zum wiederholten Mal den politischen Tod des ehemaligen Präsidenten und sehen ihn bereits im Gefängnis, erst recht seit ein Ersatzrichter aus Brasilia, der selbst mehrfach der Begünstigung von Steuerhinterziehung großer Unternehmensgruppen beschuldigt wurde, ihm eine Ausreise nach Äthiopien untersagte. Womöglich, darauf wird gesetzt, ist die Bevölkerung jetzt bereit, für einen Kandidaten der Gegenreform zu stimmen.

Auch einige alternative Nachrichtenseiten scheinen von dieser Welle erfasst: „Lulas Haft ist das Tor zur Verhärtung“, und „nach ihm könnten weitere Anführer in Haft kommen“, prophezeite ein mutiger Renato Rovai in der Zeitschrift Fórum. In den sozialen Netzwerken blasen die Linken - gerade noch übertrieben optimistisch - inzwischen in dasselbe Horn. Ein Satz steht für den melancholischen Ton der Debatte: „Sie haben den Putsch nicht gemacht, um in demokratischen Wahlen die Macht wieder abzugeben.“

Wer diesen Satz weiterverbreitet, macht allerdings einen einfachen Fehler: Den Wunsch des Gegners mit der konkreten Betrachtung der Kräfteverhältnisse zu verwechseln. Weder haben die Vereinigten Staaten Milliarden von Dollar für die Invasion des Irak ausgegeben, um Macht und Erdöl danach einer mit dem Iran verbündeten Regierung zu überlassen, noch haben die Militärs nach 1964 Brasilien zur achtgrößten Wirtschaftsmacht der Welt gemacht, mit der Absicht, den Stab schließlich an Tancredo Neves weiterzugeben, der sie bereits einen Tag nach dem Putsch als „Gesindel“ bezeichnete. Dennoch: Die Szenerie nach der Entscheidung des Bundesgerichts gegen Lula ist komplex und voller Widersprüche. Defätismus ist immer ein leichter Ausweg, denn er drückt sich vor der aufwändigen Betrachtung der Lage genauso, wie vor der Suche nach taktischen Auswegen. Genau dies aber versucht dieser Text, und zwar ausgehend von drei grundlegenden Hypothesen:

1. Der konservative Block hat einen wichtigen Sieg errungen, nicht aber das Kräfteverhältnis verändert.

Es war ein lumpiger Sieg, eine Demonstration der Brutalität und Arroganz des Herrenhauses, sonst nichts. Mit ihrer gleichlautenden Verurteilung Lulas zu zwölf Jahre und einem Monat (!) Haft haben die Richter des Bundesgerichts klargestellt, dass es sich um einen politischen Prozess handelt und nicht um die Untersuchung eines angeblichen Korruptionsfalls. Die zufällig gleichlautenden Plädoyers dreier Richter waren abgesprochen. Das zu erreichende Ziel war, die Berufungschancen des Angeklagten möglichst zu minimieren, mit dem Ziel seine Kandidatur im Oktober zu verhindern.

Die Euphorie der Märkte ist ein Beweis für den Klassencharakter der Entscheidung. Doch keinesfalls, dass die letzte Messe bereits gesungen sei und der Weg frei wäre für eine Welle von Inhaftierungen populärer Anführer. Seit Mitte 2017 prägt eine Pattsituation das politische Gefüge Brasiliens - die weiterhin andauert. Ein heterogener konservativer Block aus Wirtschaftsmacht, politischer Kaste und Medien hat genügend Kräfte vereinen können, um einen Prozess der Rückführung von Gesetzen zu erzwingen, bei der es darum geht, ohne Aufsehen und Diskussion sowohl die in der Verfassung von 1988 festgeschriebenen sozialen Errungenschaften zu liquidieren, als auch jene, die bereits auf die dirigistische, antikommunistische Ära Getúlio Vargas zurückgehen.

Doch dieser Prozess ist vor etwa neun Monaten ins Stocken geraten. Der Widerstand aus der Bevölkerung hat die Rückschritte teilweise durchkreuzt. Dies äußert sich bislang nicht in Massenprotesten (die es, wie etwa die „Generalstreiks“ im April und im Mai, zwar gab, aber nicht weiterverfolgt wurden), sondern eher in einer Wahlabsicht, die alle an diesem Putsch Beteiligten fürchteten. Hierin liegt der latente große Widerspruch: Die politische Kaste, die unsere Demokratie in Geiselhaft nimmt, benötigt die Zustimmung der Bevölkerung. Genau deshalb zögern die Abgeordneten, die Abschaffung (oder „Reform“) des Rentenwesens zu vollenden.

Nach und nach - und langsamer als erhofft - formiert sich eine Opposition, die sich der Gegenreformen bewusst ist. Substanzielle Mehrheiten stehen bereits gegen die Demontage des Rentensystems, das neue Arbeitsrecht und die Privatisierung der Staatsbetriebe. Die Allianzen, die den Putsch durchgeführt haben, besitzen in den meisten Situationen die Kraft, diese Mehrheiten zu ignorieren. Zuletzt war dies der Fall, als die Gegenreform des Arbeitsrechts durchgedrückt wurde. Doch die Allianz scheiterte, als sich eine Fraktion unter Führung des Medienkonzerns Globo der Reform der Wahlkampffinanzierung verweigerte.

Die Kräfte des Putsches sind nicht in der Lage, einen institutionellen Bruch herbeizuführen, der zu einer Absage der Wahlen oder eskalierender Repression mit der massenhaften Festnahme sozialer Führungspersönlichkeiten führen würde. Der Vergleich mit 1964 hinkt daher aus zwei wichtigen Gründen. Es gibt keine vereinheitlichende Kraft, die eine auch nur annähernd ähnliche Rolle spielen würde wie damals die Militärs. Und noch wichtiger: Es gibt kein vertretbares konservatives Projekt, das man der Gesellschaft anbieten könnte. Das Militärregime hat die Demokratie unterdrückt und massiv Menschenrechte verletzt - doch zugleich einen beachtlichen Prozess kapitalistischer Modernisierung in Gang gesetzt, der das Land urbanisiert und industrialisiert hat. Die Putschisten heute treten für unbezahlte (Sklaven-)Arbeit auf dem Land ein, haben den Preisanstieg beim Kochgas zugelassen (und so teilweise die Rückkehr zum Brennholz befördert) und den Arbeitsschutz für Schwangere und stillende Müttern gelockert. Vor zweihundert Jahren lehrte Napoleon Bonaparte, dass man sich wohl auf Bajonette stützen, jedoch nicht setzen kann.

Der Sieg der konservativen Koalition mit der Gerichtsentscheidung gegen Lula am 24.01. hat sie wieder in die Offensive gebracht, löst jedoch nicht die sich seit dem vergangenen Jahr abzeichnende taktische Pattsituation. Eine neue Schlacht kommt auf uns zu. Nach einer neuerlichen Reduzierung ihrer ursprünglichen Ziele werden die Putschisten versuchen, im Februar ihre Rentenreform durchzubringen. Es wird vor allem eine symbolische Auseinandersetzung. Die Maßnahmen werden so ausgedünnt worden sein, dass sie auf Jahrzehnte keinerlei merkliche Auswirkung auf den Haushalt haben werden. Versucht wird jedoch, damit ein Signal der Stärke zu senden. Das Schlimmste, was man nun, am Vorabend der Auseinandersetzung tun könnte, wäre, den Kampf gegen den Putsch für verloren zu geben.

2. Die Auseinandersetzung über die Zukunft des Landes nach dem Zusammenbruch der Neuen Republik ist noch nicht entschieden. Und Lula spielt darin eine entscheidende Rolle.

Warum ist Lula, der Moderate und Versöhnende, derart ins Fadenkreuz der Konservativen geraten? Warum setzen die Zeitungen der alten Medien klar parteiisch auf die Möglichkeit einer Pulverisierung der linken Kandidaturen? Um dies zu beantworten, muss man die entscheidende Rolle analysieren, die den Wahlen von 2018 zukommt.

Im Mai 2016 kollabierte nach dreißig Jahren die Neue Republik. Der Pakt der Regierbarkeit mit moderaten Präsidenten und zivilisierter Opposition zerfiel. Doch was wird an dessen Stelle treten? Im Moment gibt es zwei mögliche Alternativen: Die erste hieße, den Putsch rückgängig machen, die Demokratie wiederherstellen und den Weg freizumachen für die demokratische Auseinandersetzung von Projekten - nun fokussierter und weniger konziliant. Dies läge im Interesse aller politischen Formationen der Linken (von der PT bis zur im Dezember in Belo Horizonte ausgerufenen Bewegung Ocupa Política). Und mehr noch wäre es im Interesse einer breiten Palette sozialer Bewegungen, die sich, obwohl ihr Streben darüber hinaus geht, von der institutionellen Politik noch nicht abgewandt haben.

Die andere Option ist ein Szenario der Normalisierung des Putsches, des Sieges des ultraliberalen Staats, der Annullierung der Politik als realer Möglichkeit einer Veränderung der Gesellschaft. Unter dieser Perspektive verfestigten sich die Rückschritte nach 2016. Der Verfassungszusatz 95 blockiert die Chance auf kreatives und handfestes politisches Handeln der Allgemeinheit, degradiert das System der staatlichen Gesundheitsfürsorge und die zaghaften Fortschritte im Bildungswesen mit der Schaffung neuer Universitäten und technischer Hochschulen. Die milliardenschweren Erdölgewinne werden den multinationalen Konzernen überlassen. Der Rückbau im Arbeitsrecht und im Rentensystem wird die Lebensbedingungen der Lohnabhängigen (und damit deren Kampfbedingungen) spürbar auf ein niedrigeres Niveau zwingen. Eine bereits in Gang gesetzte Steuerreform wird der öffentlichen Daseinsvorsorge wichtige Ressourcen entziehen. Es verfestigt sich die Idee, dass es weder soziale noch allgemeine Rechte gibt - sondern nur einen Markt, in dem die „Fähigsten“ überleben. Der brasilianische Staat regrediert auf den Stand vor 1930 als reiner Garant von Gesetz, Ordnung, öffentlicher Sicherheit und Justiz.

Am wenigsten im Sinne des konservativen Blocks wäre eine Auseinandersetzung der beiden Szenarien. Der Ultraliberalismus hält der Demokratie nicht stand. Sobald sie erkennt, was genau auf dem Spiel steht, wird die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung ihre Wahl treffen. Das ist der Grund für den beeindruckenden Vorsprung von Lula in allen Meinungsumfragen, auch nach vier Jahren täglichen Bombardements durch Medien, Gerichtsbarkeit und die traditionellen Politiker. Ihn jetzt aus dem Spiel zu nehmen würde das Gefüge verwischen. Guilherme Boulos zum Beispiel - ein möglicher Kandidat der PSOL - steht deutlich weiter links als Lula, doch für die große Mehrheit der Wählerschaft nicht für die Möglichkeit eines anderen Brasiliens.

Doch: Als Verfolgter hat Lula begriffen, dass sein einziger Ausweg darin liegt, sich seinen Angreifern zu stellen. Indem er dies tut, hält er die Auseinandersetzung aufrecht, gewinnt Zeit und verhindert, dass die gegenwärtige Überlegenheit des konservativen Gefüges das Spiel beendet. Die Intentionder Akteure des Putsches ist, ihr auf Rückschritt zielende Projekt für Jahrzehnte zu festigen. Doch noch rollen die Würfel.

3. Lula als Symbol und das Glück nimmt seinen Lauf

Lulas besondere Strategie vor dem Bundesgericht umschreibt er selbst in zwei bemerkenswerten Reden, auf der Praça da República in São Paulo, nur wenige Stunden nach seiner erneuten Verurteilung, und etwa zwölf Stunden danach, bei der Ankündigung seiner Kandidatur zu den Vorwahlen zur Präsidentschaft. Dabei fallen in seiner Rede drei Punkte auf, die alle darauf hinweisen, dass er nicht beabsichtigt, das Handtuch zu werfen:

Erstens: Die Kandidatur wird bis zum Schluss durchgehalten, entgegen aller Versuche, sie juristisch zu stoppen. Damit nutzt er eine Lücke im widersprüchlichen Wahlgesetz, nach dem es keine automatische Kassation von Kandidaturen geben kann. Die Annullierung einer bis zum 20. August angemeldeten Präsidentschafskandidatur muss beim Obersten Wahlgericht erst beantragt werden, und das kann nur das Wahlgericht selbst oder das Oberste Bundesgericht. Da der erste Wahlgang am 6. Oktober stattfinden wird, dürfte es weitgehend unmöglich sein, die gefürchtete Lanzenotter, Lulas Kampagnensymbol, von den elektronischen Wahlurnen fernzuhalten.

Zweitens: Bereits im Februar wird Lula wieder auf Wahlkampftour gehen und, wie er in seiner Ansprache vom 25.1. klargestellt hat, selbst im Fall einer Festnahme kandidieren. Und um den oppositionellen Charakter seiner Kandidatur herauszustreichen, wird er im Februar einen weiteren „Brief an die Brasilianer“ veröffentlichen, diesmal „an die Gesellschaft und nicht die Finanzmärkte“ gerichtet. Man spekuliert, dass in diesem Dokument symbolhaft rebellische Vorschläge formuliert werden sollen, wie die Besteuerung großer Vermögen und Dividenden sowie im Gegenzug eine Steuerbefreiung für Einkommen unter 5.000 Reais (umgerechnet derzeit ca. 1.300 Euro). Ins Gefängnis wird er, wenn überhaupt, erst im April müssen. Das heißt: Es bleibt Zeit, eine Situation herbeizuführen, in der seine Haft als Repressalie der Eliten gegenüber einem wahrgenommen wird, der sich der Ordnung nach dem Putsch und der Agenda der Rückschritte widersetzt.

Drittens: Man sucht nicht krampfhaft nach einer Einheit der Linken. Das vermeidet aufreibende Auseinandersetzungen und lässt ein kurioses Szenario entstehen: Ob frei oder in Haft - in jedem Fall aber in den Fängen der Justiz - wird Lula den gesamten Wahlkampf über ein Symbol sein, als womöglich hypothetische Aussicht auf eine andere Zukunft. Je realer das Risiko ist, als Kandidat von der Liste gestrichen zu werden, desto unangreifbarer wird er für seine Gegner sein. In seinem Schatten werden andere Kandidaturen Raum zum Wachsen bekommen - Ciro Gomes [PDT]), Manuela D’Ávila [PCdoB], Guilherme Boulos [MTST und möglicher Kandidat für PSOL], Nildo Ouriques [PSOL]? Der Raum wird frei sein und das Glück seinen Lauf nehmen.

Ebenso werden in diesem Freiraum Ideen und Projekte wachsen, die über den reinen Wahlkampf hinausgehen. Etwa der Vorschlag von Volksabstimmungen gegen die wichtigsten Maßnahmen des Putsches. Aus den sozialen Bewegungen und der Zivilgesellschaft heraus betrieben, könnte dies über den symbolischen Widerstand gegen das Projekt eines rückwärtsgewandten Landes hinausgehen, die Bevölkerung animieren, sich konkret mit der Bedeutung der laufenden Agenda des Rückschritts auseinanderzusetzen und insbesondere Alternativen zu denken.

Lula scheint mit seinem außerordentlichen politischen Gespür einen Weg gefunden zu haben. Eine traurige Linke tut sich noch etwas schwer, ihn zu erkennen.

Übersetzung: Michael Kegler

Veröffentlicht am 31. Januar 2018

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