Lösungsmittel: Erfindungsgeist

Brasilien

Bis vor wenigen Jahren war Itacaré in Brasilien ein verschlafenes Fischernest am atlantischen Ozean. Umgeben von einem der artenreichsten Regenwälder der Erde. Eine von der Außenwelt abgeschnittene Enklave. Ein paar Stunden Elektrizität am Tag, Fischfang und Subsistenzwirtschaft als Haupteinnahmequelle der 25.000 Einwohner. Das ändert sich schlagartig, als die Weltbank 1997 den Bau einer Straße beschließt, um den Tourismus in der strukturschwachen Region zu fördern. Innerhalb weniger Jahre entstehen Luxus-Hotels, wird Itacaré zu einem international angesagten Reiseziel. Heute trifft sich an den mittlerweile privatisierten Traumstränden Itacarés der Jetset der Welt.

In irrwitzigem Tempo verändert die Straße das Leben im Ort. Doch neue Perspektiven oder gar Wohlstand für die große Mehrheit der Bevölkerung bringt sie nicht. Den gravierenden sozialen und ökologischen Folgen setzen die Einwohner Itacarés zahlreiche Aktivitäten und Initiativen entgegen. Ihr Kapital: Erfindungsgeist, Improvisationstalent - und die Überzeugung, daß sie ein Recht auf ein menschenwürdiges Leben haben. Daß sie dabei durchaus erfolgreich sind, zeigt die Landarbeiterinitiative, die Urwald-Setzlinge für die Wiederaufforstung kultiviert. Es ist eine von 3 Initiativen, die medico in Itacaré unterstützt. medico-Mitarbeiter Christoph Goldmann hat mit Senhor Domingos, dem Mitbegründer der Initiative, gesprochen.

medico hilft mit:

Ökologische Ökonomie

»Alle reden immer von der bedrohten Biodiversität. Wir scheinen offensichtlich nicht dazuzugehören. Um uns zumindest hat sich bis vor kurzem keiner gekümmert. Das ändert sich jetzt zwar, aber denken Sie ja nicht, es ginge da um uns. Darum müssen wir uns schon selbst kümmern. Und das tun wir auch«, versichert Senhor Domingos. Wie ein Komet ist der ca. 30 kilometerlange Küstenstreifen zwischen Serra Grande und Itacaré in den letzten Jahren am Himmel brasilianischer und internationaler Umweltorganisationen aufgestiegen. Laut einer Studie des renommierten Botanischen Gartens von New York findet sich in dieser Region eine der höchsten Biodiversitäten der Welt. Noch vor einem Jahr wollte Senhor Domingos seine 25 Hektar atlantischen Regenwaldes verkaufen. Seitdem ist sein Flecken Erde luftfotografiert, gescannt, vermessen, bodenanalysiert und Gegenstand mehrerer internationaler Umweltstudien geworden. Doch alle Analysen, finanziert von internationalen Organisationen zur Rettung des atlantischen Regenwaldes, halfen Senhor Domingos nicht weiter. Und ganz nebenbei bemerkt dem atlantischen Regenwald auch nicht: Da wird weiter abgefackelt wie eh und je. Die Nachfrage nach lokalem, illegal geschlagenem Holz ist ungebrochen, trotz der Schließung aller großen Sägereien in der näheren Umgebung. Der einzige Unterschied zu früher: Jetzt wird alles fein und säuberlich dokumentiert, analysiert und gedruckt. Für die vielen international tätigen Umweltschutzorganisationen, die fieberhaft nach neuen Lösungsmodellen für die bedrohte Umwelt fahnden. » Auf meine Art kenne ich jetzt auch etwas von der Welt«, so Senhor Domingos. »Deutsche, Japaner, Amerikaner, ja selbst Holländer und Austrianer, Entschuldigung Australianer, waren schon hier. Alle wollen meinen Rat. Dabei habe ich eigentlich gar nichts Besonderes gemacht, außer daß ich alle jene ernst genommen habe, die als einzige diese herrliche Natur hier schützen können, und das sind in erster Linie nun mal wir Landarbeiter selbst.«

Gescheiterte Landreform

Wie viele andere Mitglieder der Landarbeiterorganisationen im Munizip Itacaré kam auch Senhor Domingos im Rahmen einer der vielen gescheiterten brasilianischen Landreformen in den Besitz einer Landparzelle. Selbst in der Landwirtschaft völlig unerfahren, hatte Senhor Domingos vor vielen Jahren keine Lust mehr auf das miserable Leben als Reservearbeiter der Industriehöllen von Sao Paolo, Belo Horizonte und Rio de Janeiro. »Hire and Fire« als Lebensprinzip griff die Gesundheit von Senhor Domingos zunehmend an. Als sich die Möglichkeit auf ein eigenes Stück Land ergab, packte Senhor Domingos seine Koffer, und seit nunmehr 13 Jahren trotzt er seinem Land mitten im Dschungel gerade einmal das Nötigste zum Leben ab. Bis vor einem Jahr erreichte das maximale Monatseinkommen von Senhor Domingos ca. 100 Reais (rund 50 €). Davon lebten er und seine Frau und seine drei Kinder. »Gut, zum Leben reichte es irgendwie, aber meine Kinder hatten nicht einmal das Geld für den Bus, um in die 4 Kilometer entfernte Schule zu fahren. In der Regenzeit erreichten sie die Schule total durchnäßt. Ich kann Ihnen ein Lied von dem Zusammenhang zwischen Ökonomie und Gesundheit erzählen. Bis vor einem Jahr wollten hier eigentlich alle armen Landbesitzer verkaufen. Aber einige von uns fragten sich: »Und was kommt dann? Ein Häuschen in der Stadt kaufen, von vorne anfangen, in der aussichtslosen Konkurrenz um einen festen Job, oder aber irgend etwas auf der Straße verkaufen? Ich habe dieses Leben lange genug geführt, ich wußte was mich erwartet. Also haben wir uns getroffen, die Leute von den Landbesetzern aus der Marambaia, und eine andere Gruppe aus der Camboinha«.

Überleben versus Urwaldschutz

»Leicht war es nicht, denn unser Leben basierte auf der stetigen Zerstörung der Natur um uns herum«, schildert Senhor Domingos die Anfänge der Initiative. »Holzkohle und Maniokmehl waren unsere Haupteinnahmequellen. Schließlich wandten wir uns an einige Mitarbeiter einer Umweltorganisation mit der für uns überlebenswichtigen Frage, wie sie sich eigentlich ihre Schutzprogramme vorstellten, ohne uns und unser Überleben dabei zu berücksichtigen? Urwaldschutz, Tierschutz, Biodiversität, ich konnte diese Worte nicht mehr ertragen. Die gehen nur jenen leicht über die Lippen, die ihr Geld woanders verdienen, vor allem da, wo kein Baum mehr steht.«

Der Plan

Ausgehend von einer ökonomischen Bedarfsanalyse, also, was braucht die Region, und was können die Landarbeiter mit ihren absolut beschränkten Mitteln dazu beitragen, entwickelte ein kleiner Kern von Leuten einen Plan, wie eine wirtschaftliche Integration der armen Landarbeiter angesichts der veränderten sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse zu bewerkstelligen sei. Die Lösung lag buchstäblich zu Füßen der Beteiligten: die anhaltende touristische Entwicklung in der Region muß auf die Erhaltung und Verbesserung ihres größten Kapitals, unberührter Natur eben, achten. Die Landarbeiter beschlossen, die kleinen Sprößlinge, die überall auf dem Boden im Urwald liegen, zu sammeln, und in kleinen Gewächshäusern zu hegen und zu pflegen. Der Erfolg stellt sich ein: Mittlerweile ist ein ganzes Netz von Kleinproduzenten entstanden, die diese Setzlinge in großen Mengen produzieren. Mit Unterstützung von einigen Spezialisten in Urwaldbewirtschaftung und Vermarktungsexperten ist es den Landarbeitern gelungen, ein kleines regionales Netz von Abnehmern aufzubauen, die die Sprößlinge zur Wiederaufforstung aussetzen. Inzwischen ist nicht nur Senhor Domingos dabei, die Produktion zu diversifizieren. Auch andere bauen Salat, Rucola und weitere Frischware für die große Nachfrage in den benachbarten touristischen Gebieten an.

Perspektiven

»Das mühsamste für uns ist, permanent das Wasser von den weit entfernten Wasserquellen zu unseren Gewächshäusern zu transportieren«, so ­Senhor Domingos, der sein Monatsgehalt im letzten Jahr mehr als verdoppelt hat. Deshalb hat medico beschlossen, die Initiative mit 15 000 € für den Kauf von Wasserrädern zu unterstützen. Die dafür notwendige Infrastruktur, sprich der Bau von kleinen Staudämmen, Kanalisierung des Wassers etc., legen die Beteiligten in Eigenarbeit gemeinsam an. Mit der Einrichtung eines Rotativfonds, in den alle Beteiligten einen gewissen Monatsbetrag einzahlen, sollen im Laufe der Projektlaufzeit, auch andere Bauern ausgestattet werden. »Die Warteliste ist jetzt schon lang«, schließt Senhor Domingos mit einem strahlenden Lächeln.

Unterstützen Sie die Einwohner von Itacaré bei ihrem täglichen Kampf für ein menschenwürdiges Leben. Mit einer Spende unter dem Stichwort »Brasilien«.

Weitere Informationen zu unseren Aktivitäten in Itacaré finden Sie im Internet unter www.medico.de oder erhalten Sie auf Anfrage in der Geschäftsstelle: Tel. (069)94438-0.

Veröffentlicht am 01. April 2002

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