Für Gerechtigkeit und Wiedergutmachung

Psychosoziale Gutachten bei Prozessen gegen Menschrechtsverletzungen

Anlässlich eines von ECAP (Equipo de Estudios Comunitarios y Acción Psicosocial – Gruppe für gemeinwesenorientierte Forschung und psychosoziale Aktion) organisierten und von medico finanzierten zweitägigen Workshops diskutierten 40 TeilnehmerInnen zum Thema psychosozialer Sachverständigengutachten im Rahmen von Prozessen gegen gravierende Menschenrechtsverletzungen. Das Gros der TeilnehmerInnen kam aus Guatemala; VertreterInnen von Menschenrechtsorganisationen, psychoszialen Projekten, des Menschenrechtsprokurators, des Nationalen Programms für Entschädigungen Wiedergutmachung und anderen mehr. VertreterInnen aus Mexiko, Kolumbien und Peru bereicherten die Diskussion mit konkreten Erfahrungen aus ihren jeweiligen Kontexten (Mexiko: Femizid; Peru: Verfahren gegen den ehemaligen Präsidenten Fujimori für dessen intellektuelle Verantwortlichkeit für Massaker; Kolumbien: Massaker gegen indigene Zivilbevölkerung).

Konkreter Anlass für diesen Erfahrungsaustausch war die Veröffentlichung der ebenfalls von medico finanzierten ECAP-Publikation "Psychosoziale Sachverständigengutachten". Damit kulminiert ein langjähriger Prozess, den wir seit Beginn begleitet und unterstützt haben. Nieves Gómez Dupuis, Projektkoordinatorin bei ECAP und Autorin dieser Publikation, erläutert: "Das Ganze begann 2002, als uns CALDH (Centro para la Acción Legal y Derechos Humanos – Zentrum für Legale Aktion und Menschenrechte) bat ein Gutachten zu erstellen mittels dessen - im Rahmen der von CALDH eingereichten Klagen gegen die Verantwortlichen für den Genozid in Guatemala – die Verletzungen der psychischen Integrität (salud mental) nachgewiesen werden können, die die Überlebenden des Genozids, der Massaker, Folter, Vertreibung, Militarisierung der Gesellschaft oder sexueller Folter erlitten haben.

Das Team von ECAP musste erst einmal nach bereits existierenden Erfahrungen, konzeptionellen Bezugsrahmen, Methoden und Instrumenten suchen. "Anfänglich fanden wir nur wenige schriftliche festgehaltene und systematisierte Erfahrungen. Wir haben daraufhin die Urteile des Interamerikanischen Menschenrechtsgerichtshofs, die Dokumentation der Ad-Hoc-Tribunale zu Ex-Jugoslawien und Ruanda sowie das Istanbul-Protokoll (unter diesem Titel wurden 1999 erstmals Richtlinien zur wirksamen Untersuchung und Dokumentation von Folter – sowohl der körperlichen als auch der seelischen Folgen - veröffentlicht und ein Jahr später von den Vereinten Nationen angenommen) gesichtet. Dabei stellte sich heraus, dass diese meist auf einzelnen Personen ausgerichtet sind und nicht die soziale, kollektive und kulturelle Dimension mit berücksichtigen, was wir von ECAP für Guatemala als sehr wichtig erachteten." so Nieves.

"Eine zentrale Herausforderung bestand für uns zudem darin, eine Kombination zu finden zwischen den strengen Anforderungen an die Beweisführung, die im Rahmen der Gerichtsprozesse gefordert wird und der Einführung einer psychosozialen, kultur- und kontextbezogenen Perspektive. Letztendlich ist es uns gelungen einen geeigneten methodischen Ansatz zu entwickeln, der gleichermaßen die individuelle, familiäre und gemeinwesenorientierte Sphäre, sowie dem Schaden für das Lebensprojekt Rechnung trägt."

2004 wurde das Gutachten zum Massaker in Plan de Sanchez beim Interamerikanischen Gerichtshof eingereicht und trug dazu bei, dass der guatemaltekische Staat verurteilt wurde. Siehe dazu auch medico Jahresbericht 2008.

Zentrale Punkte der angeregten Diskussion unter den TeilnehmerInnen war unter anderem das Spannungsverhältnis zwischen der juristischen, gerichtsverfahrenorientierten Logik der Anwälte und Richter, die auf vermeintlich objektiv belegbare Fakten drängen und in Kategorien direkter Ursache-Wirkung-Zusammenhänge denken, und den prozess- und kontextorientierten psychosozialen Konzepten, die die Personen und Gemeinschaften in der Vordergrund stellen, im Kontext des von diesen erlittenen Unrechts. "Ein psychosoziales Gutachten ist ein zusätzliches Beweiselement, mittels dessen nachgewiesen werden kann, dass gewisse psychologische und psychosoziale Schäden vorliegen und welche ursächlichen Beziehungen zwischen diesen und den zur Anklage gebrachten Vorkommnissen bestehen. Dies ist immer dann von besonderer Bedeutung, wenn es sich um Menschenrechtsverletzungen handelt, die keine physischen Schäden hinterlassen, wie es bei psychologischen und sexuellen Übergriffen der Fall ist." führt Nieves weiter aus. Oft beginnt der Widerspruch jedoch bereits in den Teams aus Juristen und Psychologen, die die Opfer vertreten und begleiten. Die Anwesenden teilen die Bedeutung entsprechender psycho-juristischer Ansätze, um beiden Ansätzen besser gerecht werden zu können und gegenseitiges Verständnis zu fördern.

Die praktischen Erfahrungen der TeilnehmerInnen sind eindeutig. Während die Richter des Interamerikanischen Menschenrechtsgerichtshofes auf die psychosoziale Dimension eines Falles eingehen, ist bei nationalen Gerichtsinstanzen eine weitgehende Ablehnung zu verzeichnen.

Ein weiterer wichtiger Aspekt sind die diagnostischen Kriterien, mittels derer die Schlussfolgerungen des Gutachtens untermauern werden. ECAP entschied sich für semi-strukturierte Interviews mit den Opfern. Nach eingehender Prüfung wurde das Clinician-Administered PTSD Scale (CAPS), als ein reliables und valides strukturiertes Interview, als Leitfaden herangezogen, auch weil diese Kategorien seitens der Gerichte eher Anerkennung finden. Ein mexikanischer Vertreter fasste dies pragmatisch so zusammen "wenn es der Sache dient, weil ein Richter sich nur damit überzeugen lässt, dann sollte man das DSM-IV anwenden. In manchen Fällen sollte man aber eher darauf verzichten". Die Fragen wurden von ECAP, mit Unterstützung muttersprachlicher MitarbeiterInnen in den verschiedenen indigenen Sprachen, eingehend auf die Übertragbarkeit auf den konkreten Kontext und Aspekte der indigenen Kosmovision, insbesondere des Verständnisses von Krankheit-Gesundheit-Wohlbefinden, überprüft und entsprechend modifiziert. Wichtig war auch, dass das CAPS zulässt, dass die befragte Person im Detail beschreibt und berichtet welche Auswirkungen das Ereignis auf ihr Leben hatte und hat. Dies ist für die auf mündliche Wiedergabe und Darstellung orientierte indigene Kultur von großer Bedeutung.

Konsens bestand darüber, dass der Prozess der Erstellung eines Gutachtens erneut eine schmerzvolle Erfahrung für das Opfer darstellen kann und ein entsprechend behutsames Vorgehen erfordert, um eine Re-Traumatisierung zu vermeiden. Ideal sei eine Situation in der ein Gutachten im Rahmen eines langfristigen Prozesses der psychosozialen Begleitung erstellt wird.

Für all jene, die sich zukünftig im lateinamerikanischen Kontext mit der Thematik psychosozialer Gutachten auseinandersetzen wollen oder müssen, bietet die ECAP-Publikation eine wichtige Handreichung im Kampf für Gerechtigkeit und Wiedergutmachung.

Dieter Müller

Veröffentlicht am 25. Juli 2009

Jetzt spenden!