Ukraine global

Für eine globale Politik gegenseitigen Respekts

Interview mit Professor Alex Awiti dazu, wie sich ein Blick aus Nairobi auf den in Europa herrschenden Krieg in der Ukraine darstellt.

medico: Guten Morgen nach Nairobi, Professor Awiti, und danke für Ihre Zeit. Bei unserem letzten Gespräch haben wir das Verhalten reicher Länder problematisiert, Impfstoffe zu horten und sich einer globalen Strategie der Pandemiebekämpfung zu verweigern. Nun gibt es einen Krieg in der Ukraine, der neue Fragen aufwirft. Wie wird der Krieg auf dem afrikanischen Kontinent und in Kenia diskutiert?

Alex Awiti: Der Krieg zwischen Russland und der Ukraine ist keineswegs nur eine europäische Angelegenheit. Er ist ein Flächenbrand von globaler Tragweite. Afrika ist als wichtiger globaler Akteur definitiv von diesem Konflikt betroffen. Wir haben gesehen, dass sich kritische Engpässe auf dem gesamten Kontinent bilden. Es gibt eine Energiekrise und eine Getreidekrise. Russland und die Ukraine sind mit Abstand die größten Einzelproduzenten von Weizen, Maismehl und sogar Mais. Wir haben bereits einen Anstieg der Preise für Pflanzenöle in Afrika erlebt. In den meisten südlichen afrikanischen Ländern herrscht ein Mangel an Treibstoff, der offenkundig mit der allgemeinen globalen Krise zusammenhängt, da Russland ein wichtiger Akteur bei der Erdölproduktion ist.

An dem Verhalten Südafrikas, als einer wichtigen wirtschaftlichen und geopolitischen Kraft, sich nicht entschieden von der russischen Invasion loszusagen oder sie zu verurteilen, vollzieht sich eine Fragmentierung des Kontinents. Afrika beginnt, in einer widersprüchlichen Weise Partei zu ergreifen, wie wir sie nur während des Kalten Krieges gesehen haben. Das sind keine guten Aussichten für den Kontinent, aber auch nicht für eine globalisierte, geeinte Welt, die in der Lage wäre, mit kritischen Krisen wie dem Klimawandel oder Pandemien umzugehen und darauf zu reagieren.

Viele afrikanische Länder haben sich bei der UN-Resolution zum Krieg in der Ukraine der Stimme enthalten, was sind Ihrer Meinung nach die Hauptgründe dafür?

Viele Länder enthalten sich, weil sie ihre Volkswirtschaften im Auge behalten, deren Grundlage überwiegend die Gewinnung von natürlichen Ressourcen ist. Sie schauen auf die enge Beziehung zwischen China und Russland. Russland ist ein aufstrebender und zunehmend wichtiger Akteur auf dem Kontinent, insbesondere in Zentralafrika, am Horn von Afrika, Auch in der BRIC-Organisation, dem Wirtschaftskonsortium Brasilien, Russland, Indien, China nimmt Russland eine wichtige Rolle ein. Afrikanische Regierungen versuchen herauszufinden, wie sie einem Konflikt aus dem Weg gehen können, weil sie nicht wissen, wie er ausgehen wird. Außerdem geht der Einfluss Europas auf dem Kontinent zurück und auch Amerika entwickelt sich zu einem weit entfernten Akteur. Dieses Vakuum wird nun neu gefüllt und in sehr präsenter und strategischer Weise von China besetzt. Es ist nur folgerichtig, dass der afrikanische Kontinent auf ein Bündnis setzt in dem China und Russland eine wichtige Rolle spielen.

Welche Rolle spielt der westliche Impfnationalismus für die Positionierung Afrikas zum Krieg?

Europa und Nordamerika haben eine ausgefeilte und genau definierte nationale Agenda zur Lösung der Impfstoffsituation in den Mittelpunkt gestellt. Die afrikanischen Länder haben deswegen zu Recht das Gefühl, dass sie auf sich allein gestellt sind. Sie betrachten die geopolitischen Verhältnisse vor allem in Bezug auf Ressourcen wie medizinische Versorgung und setzen auf die Länder, zu denen sie die größte Affinität zu haben glauben. Entscheidungen oder Positionierungen werden danach bestimmt, Brücken schnell wieder aufbauen zu können, je nachdem, wer Ressourcen auf den Tisch legt und wer attraktive bilaterale Kompensationen anbietet. Vor diesem Hintergrund beobachten die afrikanischen Länder die aktuellen geopolitischen Entwicklungen und es scheint das Einfachste für sie zu sein, in diesem Krieg keine Partei zu ergreifen.

Es geht also um Vertrauen und berechtigtes Misstrauen. Sie schrieben vor einiger Zeit: "Das Problem ist, dass die EU nur redet und nicht handelt. Sie hat versprochen, mehr zu investieren, um die wirtschaftlichen Bedingungen auf dem Kontinent zu verbessern und legale Wege der Einwanderung anzubieten. Stattdessen hat die EU brutalere Maßnahmen ergriffen, um afrikanische Einwanderer zu stoppen, und strafende, böse, rassistisch motivierte Reiseverbote stehen an der Spitze der COVID 19-Pandemie." Kann es überhaupt gelingen, Europa angesichts der globalen Probleme als die bessere Wahl gegenüber Russland oder China anzubieten?

Man kann Europa nicht trauen. Afrikanische Regierungen glauben einfach nicht, dass die EU ein verlässlicher Gesprächspartner ist. Die EU hat die transkontinentalen Beziehungen in vielerlei Hinsicht einfach auf sich beruhen lassen und einige ihrer kritischen Versprechen nicht eingelöst.

Wir haben das kürzlich in der Ukraine gesehen wie der Rest Europas im Grunde die Türen geöffnet hat. Wir haben erlebt, wie die Ukrainer heldengleich willkommen geheißen werden in den USA oder in Ungarn unter Viktor Orban. Gleichzeitig sehen wir den schrecklichen Umgang mit afrikanischen Einwanderern, insbesondere aus Nordafrika, die das Mittelmeer überqueren wollen.

Dazu kommen Äußerungen führender EU-Politiker die über ukrainische Flüchtlinge ganz anders sprechen als über Menschen aus Asien und Afrika. Dies waren und sind deutliche Botschaften. Für die afrikanischen Länder ist es besser bündnisfrei zu sein und sich der Stimme zu enthalten, als einfach jemandem zuzujubeln - wem auch? Die Behandlung der Afrikaner:innen, die in der Anfangszeit des Krieges in der Ukraine waren, hat wirklich nicht dazu beigetragen, das Vertrauen und die Sympathie zu gewinnen, die Europa gut hätte brauchen können.

Immerhin ist das Wahlergebnis in Frankreich sehr ermutigend. Dennoch: Afrika klebt im Grunde genommen an seinen Fernsehgeräten und schaut sich an, was Al Jazeera sendet oder was auch immer der Kanal ist, und das ist das, was sie als das vorherrschende Bild einer nicht sehr freundlichen europäischen Gemeinschaft sehen.

Wenn wir auch die Frage der direkten Auswirkungen des Krieges auf Kenia und andere afrikanische Länder ansprechen stellen wir fest, dass Europa dies hauptsächlich als ein Problem der humanitären Hilfe ansieht, insbesondere eine Erhöhung der Mittel für das Welternährungsprogramm zum Beispiel. Ich habe mich gefragt, ob das Problem des Mangels an Nahrungsmitteln, der Souveränität nicht viel grundlegender ist.

Gute Frage. Afrika kann sein Produktivitätsdefizit in der Landwirtschaft nicht lösen, indem es sich auf das World Food Programm (WFP) verlässt. Das WFP selbst ist angewiesen auf billige und reichlich vorhandene Nahrungsmittel aus Russland und der Ukraine. Da diese nicht mehr oder nur eingeschränkt bezogen werden können, leidet der ganze Globus, vor allem das südliche Afrika, weil es weniger zum Verteilen gibt. Aufgrund der Dürre in der Sahelzone und ausgebliebenen Regenfällen, auch hier in Kenia droht uns jetzt eine Zuspitzung der Krise. Aber die Krise kann wie gesagt auch nicht allein durch das WFP gelöst werden.

Der Schaden, den der Ukraine-Russland-Krieg für die afrikanischen Volkswirtschaften bedeuten wird, ist enorm. Aber ich glaube nicht, dass der IWF oder die Weltbank lange darüber diskutieren werden, wie man die Auswirkungen des Ukraine-Krieges auf die afrikanischen Volkswirtschaften abfedern kann. Wenn sich also die Weltwirtschaft verlangsamt und jeder anfängt, über den Wiederaufbau der Ukraine nachzudenken und darüber, welche Auswirkungen der Krieg in einigen Teilen Europas haben wird, werden wir in Afrika ganz unten auf dieser Liste stehen. In der jetzt entstandenen humanitäre Krise wurden und werden auch bereits Ressourcen aus den europäischen Haushalten abgezogen, die eigentlich für Afrika bestimmt gewesen wären, um unsere Krise zu bewältigen.

Aber auch in Afrika selbst muss von Regierungen Verantwortung übernehmen werden. Wir haben bei weitem die größte Pro-Kopf-Fläche, die nicht bewirtschaftet wird. Die afrikanische Landwirtschaft schneidet schlecht ab. Die afrikanischen Regierungen investieren einfach nicht genug. Es gibt die Erklärung von Maputo, 10 % in die Landwirtschaft zu investieren. All diese Länder haben sich nicht daran gehalten. Ja, wir verstehen den Klimawandel. Aber jetzt wissen wir auch, dass es intelligente Wege gibt, die Landwirtschaft an ein raueres Klima anzupassen. Die afrikanischen Regierungen setzen die Mittel einfach nicht dort ein, wo sie es sollten. Es geht nicht so weiter, dem Rest der Welt bei jeder globalen Krise die Schuld in die Schuhe zu schieben, sondern herauszufinden, wie die entscheidenden nationalen Ressourcen zur Steigerung der landwirtschaftlichen Produktivität eingesetzt werden können.

Was muss Europa tun, um neue Brücken zu den Ländern des globalen Südens zu bauen, von denen viele eine lange Liste völlig berechtigter Beschwerden gegen den westlichen Kolonialismus und auch die Ausbeutung in den letzten Jahrzehnten haben.

Angesichts der 500-jährigen kolonialen wie postkolonialen Geschichte Europas in Afrika hätte man erwarten können, dass Europa in das Projekt des Brückenbauens, des Vertrauens, investieren würde. Aber es sieht nicht so aus, als hätte das Priorität. In den afrikanischen Volkswirtschaften und Gesellschaften gibt es eine Menge Probleme, die tief in der Kolonialgeschichte und im Erbe dieses Kontinents verwurzelt sind. Viele afrikanische Länder kämpfen immer noch damit, ihre Wirtschaft so umzugestalten, dass sie sich selbstbewusst als moderne Staaten etablieren können. Das ist meines Erachtens auch eine zentrale Frage in Bezug auf den Ukraine-Krieg. Einerseits halte ich es für ziemlich problematisch und Ausdruck kolonialen Denkens, als was Russland und Europa jetzt konstruiert werden. Ich weiß nicht, wie man plötzlich die Grenzen ziehen kann und die Ukraine tief in Europa liegt. Andererseits geht es um eine Politik des gegenseitigen Respekts, der nicht mehr nachgegangen wird. Das hätte eine postkoloniale Perspektive sein können. Russland muss verstehen, dass man den Ukrainern den Wunsch nicht absprechen kann, sich dem übrigen Europa anzuschließen, eine vollwertige Demokratie zu werden, der NATO beizutreten und schließlich in die EU aufgenommen zu werden. In dem Maße aber, in dem sich Europa nach Osten ausdehnt, entsteht eine enorme, instabile und angespannte Situation, die zu einem globalen Krieg führen könnte. Das ist der Knackpunkt. Es geht also um zwei Dinge: Ich denke, dass Europa in seinen Beziehungen zu China und Russland äußerst vorsichtig sein muss. Ich denke, dass diese Beziehungen so gestaltet werden können, dass sie von gegenseitigem Respekt und Verständnis für die geopolitischen Empfindlichkeiten geprägt sind. Es geht nicht darum, die Kolonialgeschichte zu revidieren, es geht nicht darum, sich für den Kolonialismus zu entschuldigen. Die Frage ist, wie wir daraus lernen und ein globales Spielfeld der Gegenseitigkeit und des Respekts zwischen allen Nationen schaffen können.

Das Interview führte Anne Jung.

Veröffentlicht am 11. Mai 2022

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