Ukraine

Krieg und Frieden

Was heißt Solidarität in Zeiten des Krieges? Ausgehend von ihrer Reise durch die Ukraine und Begegnungen mit Partnerorganisationen vor Ort suchen Katja Maurer und Riad Othman von medico nach Antworten – jenseits der schrillen Töne in der deutschen Öffentlichkeit. Ein Interview

Nicht ganz ein Jahr nach Kriegsbeginn seid ihr in einem VW-Bus einmal quer durch die Ukraine bis nach Charkow, auf Ukrainisch Charkiw, gefahren. Die Stadt liegt nur 30 Kilometer von der russischen Grenze entfernt. Welchen Eindruck habt ihr dabei von dem Land bzw. dem Leben und Überleben in Charkow gewonnen?

Katja: Im Westen der Ukraine schien der Krieg sehr weit weg zu sein. Je näher wir dann Charkow kamen, umso weniger Autos waren auf den Straßen zu sehen. Es wurde immer dunkler, in der Stadt selbst war es stockdunkel. Es herrschte Ausgangssperre. Kaum waren wir angekommen, gab es einen Luftalarm. Das ist für die Menschen dort inzwischen allerdings so normal, dass sie die Warnungen weitgehend ignorieren. Sie versuchen, trotz allem eine Art Alltag aufrechtzuerhalten. Das drückt sich zum Beispiel darin aus, dass die Stadt extrem sauber ist. Gibt es neue Schäden, schickt die Kommune sofort Leute, die den Schutt wegräumen. Insgesamt wirkt die Stadt, obwohl sie in den ersten Kriegswochen von russischer Seite aus massiv beschossen wurde, nicht so kriegszerstört, wie wir erwartet hatten. Dass es neben dem Krieg eine Normalität gibt, zeigt sich auch daran, dass viele Menschen nach Charkow zurückkehren.

Warum kommen die Menschen in ein Gebiet zurück, in dem das Leben gefährlicher und auch komplizierter ist als in anderen Teilen des Landes?

Riad: Tatsächlich sind Schulen, Universitäten und auch die meisten Betriebe geschlossen. Viele Menschen kommen aber zurück , weil sie sich das Leben im Westen des Landes schlicht nicht leisten können. Die Preise sind dort in die Höhe geschossen, zudem hat die anfänglich extrem hohe innerukrainische Solidarität merklich abgenommen. Man muss oder will Miete zahlen, kann das aber nicht mehr. Die staatliche Unterstützung von intern vertriebenen Familien ist sehr gering. Der andere Punkt ist, dass Menschen einfach nach Hause wollen. Selbst wenn dort geschossen wird, wollen sie wissen und sehen, ob das eigene Haus noch steht, die Wohnung noch existiert, die Nachbarn noch am Leben oder auch wieder zurückgekehrt sind. Neben dem wirtschaftlichen Druck gibt es also eine Sehnsucht, zu einem Leben zurückzukehren, das man vor dem Krieg hatte.

Im Vorgespräch habt ihr von dem Eindruck erzählt, dass in Charkow weniger ukrainische Nationalfahnen zu sehen seien als in Berlin oder Frankfurt.

Katja: Das stimmt. Man muss wissen, dass Charkow schon zu Sowjetzeiten eine wichtige Universitätsstadt war und das ist sie geblieben. Das trägt dazu bei, dass die Bevölkerung dieser tief in der Steppe gelegenen Stadt sehr multikulturell und weltoffen ist. Und obwohl die Region mehrheitlich russischsprachig ist, wollen die Menschen auf jeden Fall Teil der Ukraine sein. Den Krieg sehen sie als russischen Überfall an, gegen den sie sich mit allen Mitteln verteidigen. Aber was sie da verteidigen, das ist Charkow und ihr Leben dort – weniger aber ein nationales ukrainisches Projekt.

Ist die Ukraine in diesem Sinne ein gespaltenes Land?

Katja: Im Westen des Landes beruft man sich schon sehr viel stärker auf die ukrainische Nationalbewegung und die ukrainische Sprache. Man hat also eine Idee von einer einheitlichen Nation, auch ethnisch. Im Osten hingegen ist das Russische allein schon über die Sprache präsenter.

Möglich wurde diese Reise nicht zuletzt dadurch, dass medico auch in Charkow Partnerorganisationen unterstützt, zum Beispiel die Initiative Mirnoe Nebo Charkowa, zu Deutsch „Friedlicher Himmel über Charkiw“. Was macht diese Organisation?

Riad: Nach Beginn des Krieges hat medico binnen weniger Monate mehrere Kooperationen zu neuen Partnerorganisationen in der Ukraine, aber auch in den Nachbarländern aufgebaut. Frühere Dienstreisen beschränkten sich auf die westlichen Teile des Landes. Jetzt ging es darum, auch mit den Kollegen und Kolleginnen im Osten zu sprechen und sich vor Ort einen Eindruck zu verschaffen. Die Zusammenarbeit mit der Initiative Mirnoe Nebo Charkowa begann mit einem Pilotprojekt im Mai 2022, es war eine der ersten medico-Kooperationen in der Ukraine. Gegründet worden war die Initiative von Sergej Tschubukow. Sergej war im Januar 2022 noch Unternehmer, seine 180 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter kümmerten sich um die Wartung von Eisenbahnstrecken und Maschinen. Als der Krieg ausbrach, wollte er seine logistische Erfahrung anders nutzen. Also tat er sich mit seinem Bekannten Stanislav Ljubimskij zusammen, der bis dahin Restaurants und ein Café betrieben hatte. Zusammen gründeten sie Mirnoe Nebo Charkowa. Zunächst versorgten sie die von der russischen Armee besonders angegriffenen nördlichen Bezirke der Stadt Charkow mit Lebensnotwendigem. Denjenigen, die noch nicht ausgebombt waren, lieferten sie Lebensmittelpakete. Und den Menschen in Schutzräumen, ob das nun Keller von Wohnblöcken oder Metrostationen waren, brachten sie warme Mahlzeiten. Unsere weitere Unterstützung ermöglichte ihnen, ihre ausgebombte Bäckerei wieder zu öffnen und eine weitere Großküche zu eröffnen. Ab Juni konnten so täglich knapp 15.000 Menschen versorgt werden.

Zahlreiche westliche Hilfsorganisationen sind seit Kriegsausbruch in der Ukraine aktiv. Wenn medico Kooperationen eingeht, geschieht das meist mit Initiativen oder Organisationen, die schon länger aktiv sind und mit denen man ein politisches Verständnis teilt. Wie seid ihr in der Ukraine vorgegangen, inmitten eines Krieges und in einem Land, in dem medico bislang keine Geschichte hat?

Riad: Wie überall geht es auch hier darum, progressive Partner:innen zu finden, die ein politisches Verständnis ihrer Tätigkeit haben und dieses nicht rein karitativ verstehen. In einer Situation wie in der Ukraine, also in einem heißen Krieg, stehen wir dabei vor besonderen Herausforderungen. Für die Linke vor Ort ist es momentan nicht leicht, ultranationalistische Tendenzen in der Ukraine infrage zu stellen oder offen regierungskritische Positionen zu beziehen, sei es zur Kriegspolitik, sei es zur weiteren Deregulierung des Arbeitsmarktes, die Selenskyj jüngst im Schatten des Krieges durchgedrückt hat. Gleichzeitig ist es umso wichtiger, weil es ja auch darum geht zu bestimmen, wie die Ukraine künftig verfasst sein soll. Wird das Land zum Beispiel weiterhin ein vielsprachiges Land bleiben? Um auch widerspenstige Räume offenzuhalten, unterstützen wir Kräfte, die sich über Nothilfe und den Kriegshorizont hinaus für emanzipatorische Entwicklungen einsetzen. Zum Beispiel fördern wir die Organisation Bud‘ jak Nina, zu Deutsch „Sei wie Nina“. In ihr setzen sich Gesundheitsarbeiterinnen für faire Arbeitsbedingungen, eine angemessene Gesundheitsversorgung und entsprechende Ausstattung im Gesundheitswesen ein. Das haben sie schon vor Februar 2022 getan und das tun sie weiterhin, zumal die Rechte der Arbeiterinnen unter Berufung auf den Krieg weiter beschnitten wurden.

Katja: In der Tat ist die Ukraine für medico kein einfaches Projektland – wie grundsätzlich der gesamte postsowjetische Raum. Viele Teile der kleinen Linken in der Ukraine betrachten den Nationalismus als Befreiungsprojekt. Sie erhoffen sich ein Ende der Oligarchie. Der ukrainische Nationalismus hat aber rechte bis rechtsradikale Wurzeln. Mir kommt das in den linken Debatten wie ein Strohhalm vor. Eine Linke im postsowjetischen Raum hat es einfach schwer und erst recht nach der Katastrophe des russischen Überfalls. Unsere Partner in Charkow sind Geschäftsleute, die nun humanitäre Arbeit machen. Das tun sie sehr professionell und klug. Da gibt es dann in der Sache eine gemeinsame Basis. Sergej fand es zum Beispiel absurd, dass er anfangs 1.000 Kilometer durch die Ukraine fahren musste, um Lebensmittel von der Grenze zu Polen abholen. Von uns bekommt er Geld, mit dem die Organisation vor Ort einkaufen und damit auch die lokale Produktion unterstützen kann. Meinem Eindruck nach hat Mirnoe Nebo Charkowa – binnen kürzester Zeit und unter schwierigen Bedingungen – über die Selbstermächtigung in der Hilfe einen eigenen Raum geschaffen und ein „Gegenüber“ konstituiert, das wichtig sein kann für die künftige Entwicklung dieser Stadt. Was sie damit machen werden, ist ihre Sache, nicht unsere.

Landwirtschaft, Diskurs, Gesundheit

Drei Beispiele für medico-Kooperationen in der Ukraine

Bud‘ jak Nina (dt.: Sei wie Nina) wurde von Gesundheitsarbeiterinnen in der Westukraine gegründet. Die Organisation besteht größtenteils aus Frauen und setzt sich für eine angemessene Gesundheitsversorgung und entsprechende Ausstattung ein. Der Name bezieht sich auf den Kampf der bekannten Krankenschwester Nina Kozlovs‘ka. Weitere Schwerpunkte sind Arbeitnehmerinnenrechte sowie die Gesundheitsreform in der Ukraine. Das Bündnis leistet juristische Unterstützung für medizinisches Personal, organisiert Bildungsveranstaltungen und Proteste sowie bildet Koordinatorinnen aus. Schon in Friedenszeiten ist diese Arbeit unabdinglich, im Krieg umso mehr.

Das europäische Netzwerk landwirtschaftlicher Kooperativen Longo Maï wurde in den 1970er-Jahren gegründet, um die Gesellschaft vom Land aus zu verändern. Seit Anfang der 1990er-Jahre gehört auch eine Kooperative im westukrainischen Transkarpatien dazu. Im Zuge des Krieges sind im benachbarten Dorf Menschen auf der Flucht gestrandet, die von der Kooperative mit medico-Unterstützung untergebracht und versorgt werden. Dabei entwickeln sich auch dauerhafte Perspektiven in der Region. Mit ihrer ökologischen Landwirtschaft trägt Longo Maï in der Ukraine und an anderen Standorten auch zur langfristigen Ernährungssicherung bei.

Das 2009 gegründete Medienkollektiv Commons: Journal of Social Criticism ist eine der wichtigsten linken Stimmen in der ukrainischen Zivilgesellschaft. Es arbeitet auf eine Gesellschaft ohne Ausbeutung und Diskriminierung hin und hat dabei immer wieder Debatten über die Ursachen sozialer Ungerechtigkeiten angestoßen. Mithilfe von medico kann Commons seine Arbeit auch während des Krieges weiterführen. Themen sind zurzeit unter anderem die internationalen Folgen des Krieges, progressive Perspektiven für den Wiederaufbau und Fragen von Hilfe und Solidarität.

Der Krieg hat in Deutschland den Diskurs schlagartig verändert und die Frage der Unterstützung der Ukraine starke Kontroversen ausgelöst. medico kommt nicht umhin, sich zur „Zeitenwende“ zu verhalten und zu positionieren. Ende 2022 habt ihr die Übersetzung eines Buches des spanischen Philosophen und Aktivisten Raúl Sánchez Cedillo unterstützt, das auf Deutsch den Titel „Dieser Krieg endet nicht in der Ukraine“ trägt. Es soll ein Beitrag zu der überfälligen Debatte sein, wie eine zeitgemäße antimilitaristische Position aussehen kann. Welche Grundlinien lassen sich formulieren?

Katja: Natürlich muss sich jede Anti-Kriegsposition komplett von dem russischen Überfall distanzieren. Da lebt ein Imperium wieder auf, das den Stalinismus mit dem Zarismus verbindet. Das ist ein einziger Schrecken. Das Putin-Regime führt einen völkerrechtswidrigen Angriff. Kein Land ist zu solchen imperialen Offensiven berechtigt – das waren die USA beim Irak-Krieg 2003 nicht und das ist heute Russland nicht. Dass die Ukraine in dieser Situation unterstützt wird, halte ich also für richtig. Was das aber genau heißt und wie weit das geht, ist eine offene Frage. Raúl spricht in seinem Buch von einem „konstituierenden Frieden“ als notwendigem Horizont. Das meint, dass ein wirklicher Friede mit einer ökologischen Zeitenwende, Demokratisierung und letztlich der Schaffung einer anderen Weltordnung einhergehen muss. Das ist richtig, aber es ist auch ein Horizont, der mir aktuell sehr weit weg zu sein scheint. Dennoch dürfen diese Fragen nicht wegen des Krieges aufgeschoben werden – zumal der Krieg eben auch Folge davon ist, dass sie bislang aufgeschoben wurden. Wir erleben das Ende der westlichen Hegemonie, wie sie seit 30 Jahren galt. Russland, eine autoritäre Mittelmacht mit Atomwaffen, hielt das für einen günstigen Moment. Auch wenn jetzt viel von westlichen Werten geredet wird, die in den vergangenen Jahrzehnten selten eingelöst wurden: Es bleibt bei dem Ende dieser Hegemonie.

So kompliziert die Situation ist, wurde sie in den vergangenen Monaten auf eine vermeintlich eindeutige Frage zugespitzt: Ist man für oder gegen Waffenlieferungen?

Katja: Zu dieser Frage ist aus einer emanzipatorischen Perspektive nichts abzulegen. Ich glaube, es besteht große Unklarheit darüber, um welche Ziele es eigentlich geht. Was heißt Verteidigung oder Befreiung der Ukraine? Wie soll dieser Staat zukünftig verfasst sein? Womöglich werden wir eine extrem nationalistische Ukraine erleben. Für eine offen linke Position gibt es dort augenblicklich sehr wenig Platz. Doch auch hierzulande ist der Druck, sich uniformieren zu lassen, sehr groß. Dabei wird so getan, als verkörpere der Westen plötzlich alles Gute. Plötzlich sind alle gegen neokoloniale Verbrechen – sofern es die der Russen sind. Man muss auch wahrnehmen, dass das Entsetzen, das in Europa herrscht und in Deutschland zu einer Art moralischen Mobilmachung geführt hat, keineswegs überall auf der Welt geteilt wird. Das wird hierzulande nicht gerne gesehen. Dabei wäre es wichtig, die Gründe nachzuvollziehen. Letztlich bestätigt der Westen die Skepsis zum Beispiel damit, wie er in seinem neuen Hunger nach alternativen Energiequellen die Welt durchforstet: Wo lässt sich möglichst günstig Gas aufkaufen? Wo lassen sich neue Quellen erschließen, wo kann Kohlenwasserstoff produziert werden? Alles unter der Maßgabe, dass zunächst einmal unsere Versorgung hier gesichert ist. Das ist eine neokoloniale Praxis.

Die Frage bleibt: Was tun?

Katja: Trotz der moralischen Seite, die dieser Krieg hat, müssen wir den Kontext und die Folgen verstehen – hierzulande und global. Wir müssen uns gegen ein verallgemeinertes Kriegsregime, dass nur noch Freund und Feind kennt, stellen. Ich bin nicht in der Regierung und muss nichts entscheiden. Aber ich kann mir zum Beispiel die Sprache der Regierung anschauen und kritisieren, dass es eine eskalierende Sprache ist. Ich sehe auch die Medien als extremen Treiber. So wurde der Angriff Russlands in Mainstream-Medien als Vernichtungskrieg bezeichnet. Ein Begriff, der bislang für das Vorgehen der Wehrmacht und andere Einsatzgruppen in Osteuropa reserviert war, wird verallgemeinert und damit verwaschen. Es macht mich fassungslos, wie die eigene Geschichte ausgeblendet wird nach dem Motto: „Wir haben jetzt 70 Jahre zivilisiertes Deutschland, wir können jetzt wieder eine weltweit führende Militärmacht werden.“ Deutschem Militarismus, selbst wenn er sich in westliche Werte kleidet, werde ich immer misstrauen.

Die Fragen stellte Steen Thorsson.

Im unserem Dossier „Ukraine: Krieg in Europa“ bringen wir ausführliche Informationen zu den Kooperationen von medico in der Ukraine und angrenzenden Ländern sowie Beiträge zur kontroversen Debatte um Krieg, Frieden und Solidarität.

Veröffentlicht am 07. Juni 2023

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