Interview

Ende der Straflosigkeit in Guatemala?

In den vergangenen zwei Jahren sind in Guatemala mehrere ehemalige führende Militärs wegen Menschenrechtsverletzungen verurteilt worden. Auch Guatemalas Ex-Präsident Efraín Ríos Montt wird demnächst wegen Völkermordes und Verbrechen gegen die Menschlichkeit der Prozess gemacht. Diese Erfolge haben auch neuen Gegenwind provoziert.

Ein Interview von Dieter Müller mit dem Menschenrechtsanwalt Michael Mörth, der beim medico-Partner Bufete de Derechos Humanos und der Internationalen Juristenkommission in Guatemala als Berater arbeitet, über ihre Strategie und die aktuelle Situation.

Dieter Müller: Guatemalas neuer Präsident Otto Perez Molina (OPM) hat kurz nach der Amtsübernahme im Januar 2012 eine vielbeachtete Erklärung zum Umgang mit den Verbrechen der Vergangenheit abgegeben. Darin hat er denjenigen, die den Geist des bewaffneten Konfliktes aufrechterhalten, versteckt gedroht. Gleichzeitig hat er seine Absicht bekräftigt, eine de-facto-Amnestie voranzutreiben. Unterstützt wurde er dabei von Arenales Forno, dem Chef des staatlichen Friedenssekretariats SEPAZ, der in einer Rede behauptete, dass in Guatemala nie ein Genozid stattgefunden habe. Welche Bedeutung hat das für eure Arbeit?

Michael Mörth: Um das zu erklären, muss ich etwas weiter ausholen. Seit der Ernennung von Claudia Paz y Paz zur Generalstaatsanwältin im Dezember 2010 sind erstmals Leute in Verantwortung, die ernsthaft bereit sind, den Kampf gegen die „impunidad“ zu führen, also gegen eine Straflosigkeit für aktuelle Delikte als auch für Taten in der Zeit des bewaffneten Konfliktes. Ihre Amtsübernahme hat die insgesamt positive Entwicklung der letzten Jahre wesentlich beeinflusst. In der Strafermittlung von Menschenrechtsverletzungen gab es konkrete Fortschritte. Im Sommer letzten Jahres etwa ließ die Generalstaatsanwältin auf Basis langjähriger Ermittlungen, die bislang nie Erfolg hatten, mehrere Generäle verhaften. Anfang dieses Jahres kam es zu weiteren Verhaftungen, darunter auch der ehemalige Präsidenten und Putschgeneral Efrain Rios Montt. Das hat auf der anderen Seite dazu geführt, dass Reservisten mit einer Kampagne auf die Absetzung von Paz y Paz gedrängt haben, jedoch vergeblich, unter anderem weil ihre Erfolge bei der Verfolgung aktueller Verbrechen von der Bevölkerung sehr positiv gesehen werden. Die Reservisten – hier ist vor allem die Vereinigung AVEMILGUA zu nennen – haben zudem begonnen, Anzeigen gegen ehemalige Guerilleros zu erstatten.

Warum das?

Ziel ist es, eine Situation zu schaffen, in der Staat und Gesellschaft letztlich gezwungen sind, ein neues Amnestiegesetz zu erlassen, das alle gleichermaßen amnestiert – ehemalige Militärs ebenso wie einstige Guerrilleros. Das ist der Hintergrund, vor dem man die Äußerungen von OPM und von Forno sehen muss. Sie haben erkannt, dass die Prozesse, die wir gegen ehemalige Militärs führen, sehr gut angelegt sind. Sie haben auch unsere guten Beziehungen zur internationalen Gemeinschaft und vor allem zum Interamerikanischen Menschenrechtssystem wahrgenommen. Vom Tag der Machtübernahme an hat die Regierung daher in diese Kerben gehauen.

Was meinst du damit?

Bufete de Derechos Humanos führt praktisch 80 Prozent der Fälle gegen ehemalige Militärs und vertritt darin auch die Nebenkläger, also die Opfer. Ein Fall richtet sich sogar gegen den jetzigen Präsidenten. Bislang hat Bufete finanzielle Unterstützung aus dem Ausland erhalten, zum Beispiel von Kanada. Die neue Regierung hat unverzüglich Gespräche mit Kanada aufgenommen – mit dem Ergebnis, dass die Gelder für Bufete vom einen auf den anderen Tag zum 31. März 2012 gestrichen wurden. Die guatemaltekische Regierung greift eindeutig das Internamerikanische Menschenrechtssystem, die Menschenrechtskommission und den Menschenrechtsgerichtshof an.

Auch Venezuela beschuldigt ja die Interamerikanischen Menschenrechtskommission, ein „Werkzeug der USA“ zu sein, und hat jüngst seinen Austritt erklärt. Andere Staaten haben sich ebenfalls kritisch geäußert. Welche Bedeutung haben die Kommission und der Gerichtshof für die Geschichtsaufarbeitung in Lateinamerika?

Man könnte ja einmal die Opfer Lateinamerikas, die in letzten zwanzig oder dreißig Jahren für ihre Rechte, für eine Anerkennung des Geschehenen, für Aufklärung und Entschädigung gekämpft haben, fragen, von wem sie Unterstützung bekommen haben. Natürlich gibt es Beispiele aus den vergangenen Jahren, in denen auch staatlichen Institutionen tätig geworden, etwa Gerichten in Argentinien und Chile. Diese Entwicklungen wären aber nicht möglich gewesen ohne den ständigen Druck seitens der Kommission und des Menschenrechtsgerichtshofs. Für uns in Guatemala war es in mehreren Fällen eindeutig ein strategisches Mittel, über das Interamerikanische System den Druck auf die nationalen Gerichte und das nationale Justizsystem zu erhöhen. Der Druck sowie die Verpflichtungserklärung Guatemalas, diese Instanzen anzuerkennen und ihre Urteile in der nationalen Rechtssprechung zu übernehmen, haben dazu geführt, dass es wirklich Veränderungen gegeben hat. Wir haben viele Fälle geführt – und alle gewonnen.

Worin bestehen diese Veränderungen konkret?

Nach jahrelangem Komplizentum der Behörden und betrügerischen Einstellungen von Strafverfahren hat der Interamerikanische Gerichtshof in den letzen zwei Jahren mehrfach entschieden, dass seine Urteile automatisch als ausführbar erklärt wurden und umgehend Ermittlungen der guatemaltekischen Staatsanwaltschaft unter neuer Führung eingeleitet wurden. Dies gilt übrigens auch für den Prozess, den wir gegen den aktuellen Präsidenten führen, der Fall „Bamaca“. Das ebenfalls neu besetzte Oberste Gericht von Guatelmala hat alle Entscheidungen mitgetragen. Ähnliche Entwicklungen haben in vielen Ländern Lateinamerikas stattgefunden. Deswegen ist das Interamerikanische Menschenrechtssystem allen Regierungen, die etwas zu vertuschen haben, seien sie links oder rechts, ein Dorn im Auge – eben weil sie unabhängig sind. Das erklärt auch die merkwürdige Allianz der Antikommunisten OPM und Forno mit linken Regierungen Südamerikas.

Die Urteile des Interamerikanischen Menschenrechtsgerichtshofes, die neue Generalstaatsanwältin Claudia Paz y Paz, die personelle Neubesetzung anderer wichtiger nationaler juristischer Instanzen – inwieweit hängen diese Entwicklungen zusammen?

Vieles ist zwar nicht direkt miteinander verknüpft, läuft aber auch nicht völlig getrennt voneinander ab. So haben die Urteile des Interamerikanischen Gerichtshofes vor allen 2009 und 2010 wie gesagt den Druck in Guatemala erhöht. Dass dann aber Claudia Paz berufen wurde, lag auch der völlig verunglückten Ernennung des vorherigen Generalstaatsanwaltes, der zwei Wochen später schon wieder abgesetzt werden musste. Die Exekutive war praktisch gewungen, eine „saubere“ Person zu benennen, um keinen Zweifel an ihrer Integrität aufkommen zu lassen.

Zu welchen strafrechtlichen Erfolgen haben diese Veränderungen geführt?

Wir haben in den letzten zwölf Monaten mehrere absolut strategische Urteile erreicht. So wurden in dem Fall des Massakers an mehr als 300 Menschen in dem Dorf Las Dos R fünf Täter zu über 6.000 Jahren verurteilt. Diese Urteile sind zwar noch nicht rechtskräftig, aber immerhin gibt es sie. Zurzeit stehen wir vor mehreren großen Verfahren bzw. strategischen Entscheidungen der nationalen Gerichte. Wir wollen den Eröffnungs- und den Zulassungsbeschluss für die Anklage wegen Völkermord gegen den ehemaligen Präsidenten Rios Montt und andere Generäle durchsetzen. Dazu muss man wissen, dass die Kollegen etwas versuchen, was es meines Wissens nach so noch nicht gegeben hat: Bislang wurden alle Prozesse gegen ehemalige Staatspräsidenten wegen Völkermord vor internationalen Instanzen wie dem Internationalen Strafgerichtshof geführt. Wir hingegen versuchen, den Prozess gegen Rios Montt vor nationalen Gerichten zu führen. Das ist ein unglaublicher Kraftakt und der Druck auf die zuständigen Richter und Anwälte ist gewaltig. Bisher, und das sage ich voller Anerkennung, haben sie diesem mehr oder weniger standgehalten. Auch in anderen Fällen stehen Entscheidungen an, die mit darüber entscheiden werden, ob die vielen Fortschritte nachhaltig sein werden. Die Auseinandersetzung ist noch nicht entschieden, aber wir sind auf einem guten Weg.

Was haben diese Erfolge mit der „strategischen Verfahrensführung gegen die Straflosigkeit“ von Buefete zu tun?

Wenn ich einem System gegenüberstehe, in dem es eine Komplizenschaft zwischen Beschuldigten und Richtern bzw. Staatsanwälten gibt, brauche ich eine juristisch-politische Strategie, um diese unglaublich feste Mauer der Straffreiheit angreifen zu können. So wollten wir anfangs vermeiden, dass sich alle gegnerischen Kräfte zusammenschweißen und verbünden. Also haben wir uns zunächst auf kleinere Prozesse konzentriert, um der Mauer erste Risse zuzufügen. Der erste war der Fall Candido Noriega 1998. Wir haben ein Verfahren gegen einen Militärbeauftragten angestrengt, der mehrerer Vergewaltigungen beschuldigt wurde und Menschen hat verschwinden lassen. Diese Taten waren allerdings nicht unbedingt Teil der seinerzeitigen Militärstrategie, sondern dienten eher den persönlichen Vorteilen des Beschuldigten. Heute ist der Fall übrigens rechtsgültig abgeschlossen. Der zweite Prozess ein Jahr später betraf dann ein Massaker. Wir haben aber keine Anklage gegen Militärs erhoben, sondern lediglich gegen die Kommandanten der beteiligten Zivilpatrouillen, also der Paramilitärs. Wir wären seinerzeit nämlich nicht in der Lage gewesen, Militärs und gar ranghöhere Offiziere anzugreifen. Das sind wir erst im Lauf der Zeit geworden. Es folgten die Urteile im Fall Myrna Mack, in dem zum ersten Mal ranghöhere Offiziere angeklagt wurden, genauso wie im Fall der Ermordung von Bischof Gerardi.

Wie ging es weiter?

Noch in der Nacht nach dem Urteil gegen die Verantwortlichen des Mordes an Myrna Mack 2002 haben wir beschlossen, dass der Moment gekommen ist, um in dem Fall des Massaker Las Dos R weiterzukommen. Das war der nächste Schritt: Prozesse gegen führende Militärs zu führen. Solche Verfahren sind langwierig und erfordern viel Hartnäckigkeit. Zu dem ersten Urteil sind wir 2011 gekommen. Mit meinem Kollegen des Bufete, Edgar Perez, habe ich zum Beispiel bereits 1998 begonnen, den Vorwurf des Völkermords gegen Rios Montt zu bearbeiten. Uns war klar, dass wir dieses Verfahren nie würden voranbringen können, wenn zuvor nicht andere Schritte getan werden. Deshalb sind bei diesem Prozess erst 2012 Haftbefehle ausgestellt worden.

Wie ist der aktuelle Stand im Prozess gegen Rios Montt?

In dem Verfahren wegen des Genozids am Volk der Ixil sind mehrere Generäle angeklagt. Zwei von ihnen – die damaligen Chefs von Generalsstab und Geheimdienst – sitzen im Gefängnis, Rios Montt steht unter Hausarrest und wird angeklagt werden. Mit solchen Verurteilungen sind wir an einem strategischen Punkt angekommen. Jetzt müssen das Justizsystem und die Gesellschaft entscheiden, ob sie bereit sind für einen solchen Schritt. Das ist der aktuelle Stand – und deshalb bläst uns auch kalter Wind ins Gesicht. Mit einigen wenigen Einschränkungen haben die Richter bislang aber bewiesen, dass sie bereit sind, trotz aller Risiken unabhängige Entscheidungen zu treffen.

Der „kalten Wind“ zeigt sich ja nicht nur in den eingangs erwähnten Äußerungen von OPM und Forno. In der Tageszeitung El Periódico wird aktuell auf NGOs als „Opportunisten“ und „Kriegsgewinnler“ eingedroschen, die von der Vergangenheit lebten. Wiederholt wurde behauptet, es habe nie einen Genozid gegeben. Hinzu kommen die Klagen der Armeereservisten. Wie ist das einzuordnen: Ist die Gegenseite zur Erkenntnis gelangt, dass sie andere Strategien verfolgen muss, um eure Erfolge zu torpedieren?

Ich glaube, dass es tatsächlich einen Strategiewechsel gegeben hat, aber nicht erst in diesem Jahr. Bei allen bisherigen Fällen gegen Paramilitärs, Militärbeauftragte oder Soldaten, also Militärs unterer Dienstränge, war zu beobachten, dass die Beschuldigten nur solange Unterstützung vom Militär bekommen haben, bis sich die Staatsanwaltschaft der Sache angenommen hat. Dann sind sie stets sich selbst überlassen worden. Das hat sich auch im Fall Las Dos R und den Verhaftungen von Generälen im Sommer letzten Jahres gezeigt. Von 2000 bis 2011 hat das Militär den Beschuldigten die besten Verteidiger an die Seite gestellt und die Verfahren letztendlich elf Jahre lang verzögert. Als das nicht mehr möglich war, wurden diese Anwälte zurückgezogen. Die Botschaft war klar: Jetzt könnt ihr nicht mehr mit uns rechnen. In den Verfahren hat sich aber noch etwas anders gezeigt: Die Verurteilungen wurden auch dadurch möglich, dass einige Elitesoldaten, die Kaibiles, ausgesagt haben. Diese beiden Aspekte haben dazu geführt, dass führende Militärs erkannt haben, wie heikel die Lage für sie geworden ist. Was, wenn etwa Offiziere mittlerer Ränge begännen auszusagen? Wir waren uns dieser Situation bewusst und haben versucht, sie noch zu forcieren. Das war der Punkt, an dem die Gegenseite einen Strategiewechsel vorgenommen hat. Wurde bislang vor allem versucht, die Generäle zu schützen, geht es seither darum, zu verhindern, dass überhaupt jemand aus ihren Reihen angegriffen wird. Seitdem werden die Verteidigungen anders aufgebaut und wird eine andere Unterstützung geleistet. Uns wurde ein Geheimdienstdokument zugespielt, aus dem hervorgeht, dass so etwas wie ein Generalstab für die strafrechtliche Verteidigung aufgebaut werden sollte. Es geht darin um die Finanzierung der Verteidiger, aber auch darum, einen Informations- und Aktivitätsaustausch zwischen den verschiedenen Militärstützpunkten und -zonen zu schaffen. Und es geht um eine Politik der Massen, um Mobilisierung und psychologische Kriegsführung. In diesen Kontext sind auch die Anzeigen gegen ehemalige Guerilleros einzuordnen.

Wie funktionieren diese Anzeigen?

Sie sind meist absurd. Bei der jüngsten werden zum Beispiel insgesamt 66.000 Delikte aufgeführt sind, die jedoch nicht konkret benannt werden, und 100 Ex-Guerilleros angezeigt, ohne dass ein konkreter Bezug zwischen einer bestimmten Tat und einem bestimmten Beschuldigten hergestellt wird. Eine Strafverfolgung ist auf dieser Basis gar nicht möglich. Darum geht es auch nicht. Ziel ist vielmehr, eine Situation zu schaffen, in der Ex-Guerilleros und ehemalige Militärs sich mit der Exekutive zusammensetzen und besprechen, wie ein Gesetz des „Punto Final“ (Schlussstrich) aussehen könnte, also ein neues Amnestiegesetz, oder andere Maßnahmen, um – so hat es ein Betroffener formuliert – „endlich aus dieser Situation raus zu kommen“.

Mein Eindruck ist, dass es letztlich darum geht, Stimmung zu machen: dass es weder einen Völkermord noch einen bewaffneten Konflikt gab, sondern lediglich eine Auseinandersetzung zwischen zwei militärischen Strukturen, dem Militär und der Guerilla. OPM hat dezidiert argumentiert, dass die Guerilla, wenn sie im Quiche, im Ixil, im Einflussgebiet des EGP, Frauen und Kinder mobilisiert, damit hätte rechnen müssen, dass diese umgebracht würden. Sind das nicht Versuche, das Ganze auf eine andere Ebene zu bringen und euren Anstrengungen das Wasser abzugraben

Ja, so ist das, und es ist wirklich skandalös. OPM hat in mehreren Interviews gesagt, dass die Guerilla sich hinter Frauen und Kindern versteckt hat und damit letztlich für ihren Tod verantwortlich ist. Die neue Strategie zeigt sich auch in Kleinigkeiten wie in der Semantik. So hat die Regierung eine Instruktion herausgegeben, wonach in der Exekutive nicht mehr von „conflicto armado interno“, also einem „internen bewaffneten Konflikt“ gesprochen werden darf, was übrigens die offizielle Bezeichnung der Vereinten Nationen für den Bürgerkrieg in Guatemala ist. Die offizielle Sprachregelung lautet jetzt vielmehr „enfrentamiento armado“, was eine militärische Auseinandersetzung zwischen zwei militärischen Seiten meint. Diese Formulierung blendet völlig aus, dass das Militär die gesamte Mayabevölkerung etwa im Ixil zu ihrem internen Feind erklärt hat. In der gleichen Anordnung wird auch der Begriff „cementerios clandestinos“, also „geheime Friedhöfe“, als Bezeichnung für Massengräber durch die Formulierung „Begräbnisorte“ ersetzt.

Inwiefern basieren eure Erfolge auf der Zusammenarbeit mit anderen Initiativen und Institutionen?

Die Arbeit, die Edgar Perez und seine guatemaltekischen Kolleginnen und Kollegen machen, wäre in dieser Form undenkbar, wenn wir sie völlig isoliert machen müssten. Es gab solche Phase, von 1998 bis 2009. Bis dahin, das hat auch die Staatsanwaltschaft des Interamerikanischen Gerichtshofs erklärt, gab es eindeutig eine Politik der Staatsanwaltschaft Guatemalas, die Fälle nicht zu untersuchen. Seither aber haben wir immer besser mit der „Fiscalia de Derechos Humanos“, der Staatsanwaltschaft für Menschenrechtsverletzungen, zusammengearbeitet. Vor allem seit Anfang dieses Jahres begreifen wir uns wirklich als gemeinsame Teams. Entscheidend war zudem eine Veränderung im Justizsystem, die von der CICIG angeregt wurde: die Schaffung der „Tribunales de Alto Impacto“, also von Gerichte für besondere schwierige und riskante Fälle. Für diese wurden Untersuchungs- und Ermittlungsrichter wie auch Instanzrichter berufen, die ihre Unabhängigkeit zuvor bewiesen hatten. Mit ihnen haben wir im Wesentlichen sehr gut zusammengearbeitet und sie haben auch die vielen Urteile der letzten Jahre gefällt. Von daher ist es nicht nur die Arbeit des Bufete. Wir achten sehr darauf, dass wir die Unabhängigkeit der Richter unberührt lassen. So würden wir uns nie mit ihnen nie privat zusammensetzen. Gleichzeitig tun wir alles, um den Richtern und Staatsanwaltschaften die Kenntnisse, die sie brauchen, und Fortbildungen etwa im internationalen Recht zu ermöglichen.

Früher kam es immer wieder vor, dass engagierte Richter bedroht wurden und das Land verlassen mussten. Das scheint heute nicht mehr der Fall zu sein.

So etwas gab es eher früher im Zusammenhang mit dem Fall Gerardi. Heute erfahren Richter wesentlich mehr Unterstützung. Noch einmal zur Strategie. All das, was wir geschafft haben, wäre nicht möglich gewesen ohne einen entscheidenden strategischen Faktor: 2005 haben wir das bis dahin verleugnete geheime Polizeiarchiv gefunden. Damit waren 80 Millionen kleine Ordner, Polizeidokumente von 1882 bis 1997, in unabhängiger Hand. Ein großer Teil betrifft die Jahre der schlimmsten Gewalt von 1975 bis 1985. Mittlerweile sind diese Dokumente sogar digital zugänglich. Diese Beweise haben uns enorm geholfen. Hierfür mussten wir aber in einem Land, in dem es praktisch keine Archive und entsprechend auch keine Erfahrung damit gibt, erst einmal Menschen im Umgang mit dem Dokumentarbeweis ausbilden. Ich war Dozent in diesem Prozess und Koordinator der juristischen Abteilung. Zusammen mit der Lateinamerikanischen Fakultät für Sozialwissenschaften haben wir einen Kurs abgehalten, in dem wir Rechtsanwälte, Forscher, Sachverständige in der Arbeit mit Beweismaterial ausgebildet haben. Das war ein Meilenstein.

Kannst du ein Beispiel nennen, bei dem die qualifizierte Auswertung und Verwendung der Dokumente hilfreich waren?

Im Mai dieses Jahres habe ich als Gutachter vor dem Interamerikanischen Menschenrechtsgerichtshof im Fall von fünf Massakern an der Gemeinde von Rio Negro ausgesagt. Ich habe nachgewiesen, das das, was wir in den letzten fünfzehn Jahren an Weigerung erlebt haben, die Fälle ernsthaft zu untersuchen, eine logische Konsequenz dessen ist, was damals passiert ist. Ich habe dem Gericht nämlich Beweise und Dokumente vorlegen können, die genau aus der Zeit der Massaker stammen. Darin wird zwar nicht direkt über die Vorfälle gesprochen. Sie enthalten aber eine Anweisung von 1980 an die Spezialeinheit Kommando 6, der damaligen Polizei. Sie besagt, dass einem Richter, der in einer Polizeistation mit einem Antrag auf „exhibición personal“ vorstellig wird, also den Aufenthaltsort einer verschwundenen Person untersuchen will, auf gar keinem Fall Zugang zu den „libros control de detenidos“, den Einlieferungsbüchern, gewährt werden soll. Ein ähnliches Dokument stammt von 1984. Es stammt von der „Dirección General de la Policia“, der Obersten Leitung der Polizei und besagt, dass sich kein Polizist Sorgen machen müsse, wenn er Leute mit oder ohne Haftbefehl verhaftet hat. Die Polizeileitung würde sie immer unterstützen und ihre Vergehen decken. Sozusagen die Kirsche auf dem Kuchen war ein Dokument von 1983 vom Außenministeriums Guatemalas, das an den damaligen Chef des „Estado Mayor Presidencial“, hinter Rios Montt der wohl mächtigste Mann im Staat, gerichtet war. Es enthielt Empfehlungen für die Funktionäre, die sich im September 1983 mit der Interamerikanischen Menschenrechtskommission trafen. Sie wurden daran erinnert, dass die Vertreter der Kommission sie nicht vernehmen dürfen und dass sie Informationen, die sie aus Gründen der Staatsräson nicht gegeben wollten, auch nicht geben sollten. Diese drei Dokumente zeigen, dass es tatsächlich eine systematische Verschleierung gab.

Vor dem Hintergrund eurer jüngsten Erfolge und der neuen „Gegenwehr“ von Regierung und Militär: Was ist eure Botschaft an solidarische Menschen und an die internationale Staatengemeinschaft? Welche Form der Unterstützung ist momentan am wichtigsten?

Die nächsten zwölf Monate werden entscheidend sein. Ich will zwar nicht sagen, dass das, was wir in diesem Zeitraum nicht erreichen, nie mehr geschafft werden kann. Dennoch wird die Gegenseite jetzt versuchen, das Rad zurückzudrehen. Und wir werden alles versuchen, weiter voranzuschreiten. Dafür ist es wichtig, dass wir in Ruhe arbeiten können und das diejenigen, die diese Arbeit bislang unterstützt haben, das auch weiterhin tun. Damit meine ich nicht nur finanzielle Hilfe. In dieser Hinsicht hat OPM leider auch in der deutschen Regierung oder beim Deutschen Botschafter Gehör gefunden. Wichtig sind auch die Solidarität und die Beobachtung der Prozesse. Wir werden zum Beispiel in den nächsten Monaten über das Bufete und über unsere Zusammenarbeit mit der Internationale Juristenkommission eine hochrangige Delegation nach Guatemala einladen, um die Prozesse zu beobachten. Uns zu begleiten und Richtern sowie Staatsanwälten in ihrer schwierigen Arbeit Rückhalt zu geben – das wird in den nächsten Monaten unglaublich wichtig sein.

Veröffentlicht am 04. Februar 2013

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