Prozess gegen Ex-Diktator

Völkermord vor Gericht

Am 10. Mai 2013 wurde Guatemalas ehemaliger Diktator Ríos Montt des Völkermords schuldig gesprochen. Nur 10 Tage später kassierte das Verfassungsgericht dieses historische Urteil wieder. Michael Mörth, Menschenrechtsanwalt des medico-Partner Bufete de Derechos Humanos, hat die Opfer und Angehörigen in diesem Prozess vertreten und berichtet eindrucksvoll, wie er den Tag vor der Urteilsverkündung im Gerichtssaal erlebt hat.

Guatemala, Donnerstag, 9. Mai 2013, im Gerichtssaal, 21. Verhandlungstag, 9:05 Uhr

Edgar Pérez hält sein Plädoyer. Er ist 46 Jahre alt. Bereits seit seinem Staatsexamen 1997 vertritt er vor allem Opfer des Bürgerkriegs bei ihrer Suche nach Recht und Gerechtigkeit. Seit 1998, also seit 15 Jahren, gehen wir diesen Weg gemeinsam. Heute stehen wir wenige Stunden vor dem Urteil in einem Strafverfahren, in dessen Anfängen wir uns 1998 kennenlernten und seitdem zusammengearbeitet haben. Edgar hält in diesem Augenblick das Plädoyer stellvertretend für so viele Opfer, nicht nur die des Maya – Ixil Volkes.

Er hat Halsschmerzen, wie ich, und Schnupfen. Der Stress der letzten Wochen und Monaten ist uns allen anzusehen. Heute früh um 7:00 Uhr, noch im Bunker der Staatsanwaltschaft, haben wir darüber gesprochen, wie die Verteidigung versucht hat, diesen historischen Prozess in einen Zirkus zu verwandeln. Sie haben Dreck aufgewirbelt, mit Tricks gearbeitet, korrupte Richter bezahlt und versucht, die Opfer als hasserfüllt abzuschreiben.

Verhaltensweisen, die ein Gericht unter anderen Bedingungen sofort mit Würde und Härte zurückgewiesen hätte. Das war hier nicht der Fall. Das Gericht konnte sich gestern nicht einmal wehren, als ein Verteidiger ihnen drohte, er werde nicht ruhen, bis die Richter selbst im Gefängnis säßen.

„Das entscheidende Instrument, um die Ixiles teilweise auszurotten, war das Konzept des internen Feindes. Sie wurden zu 100% als die Basis der Guerrilla bezeichnet“, sagt Edgar in diesem Augenblick. Diese Einschätzung war das Todesurteil für viele und stammt aus der damals geltenden Militärdoktrin. Ohne es zu wollen, hatte einer der Zeugen der Verteidigung das während des Prozesses bestätigt: „Alle diese Leute waren Guerrilleros und mussten kontrolliert und bekämpft werden.“ Der Wunsch der Bevölkerung nach Veränderung führte dazu, dass sie alle als Feinde angesehen wurden.

Opfer und Täter zugleich: Das Massaker von Xococ

Vor meinem inneren Auge ziehen die Opfer des Massakers von Xococ am Río Negro vorbei, einer anderen Region Guatemalas. Das Urteil gegen den Leiter der Zivilpatrouille, die dieses Massaker verübt hatte, brach 1998 einen ersten Riss in die Mauer der Straflosigkeit. Ich denke an unsere Sitzungen mit den Opfern UND den Tätern aus der Nachbargemeinde von Xococ. Vom Militär geführt und manipuliert nahmen die Bewohner dieser Gemeinde am Massaker von Xococ teil als so genannte Zivilpatrouillen. Dabei sind sie ebenfalls arme Bauern, die wie alle anderen auch über Jahrhundert hinweg ausgenutzt, belogen, manipuliert wurden. Die Diskriminierung, der Rassismus und die Ausgrenzung machen nicht resistent gegen Manipulierung, Zwang und Grausamkeit.

Für uns war es 2002 ein Schlüsselerlebnis mit ihnen, also auch den Tätern, zu arbeiten. Sie hatten am 23.3.1982, am Tag des Putsches von Ríos Montt, 163 Frauen und Kinder umgebracht. Auch sie sind letztlich Opfer - nur mit viel Blut an den Händen. Ich erinnere mich an die Aussage eines Elitesoldaten, der am Massaker gegen die Gemeinde „Las 2 RR´s“ im Petén beteiligt war: „Sie haben mit meinen eigenen Händen getötet.“. Er übernahm Verantwortung und versuchte sie auch wieder abzugeben, ein Überlebensmechanismus. Dennoch sagte er in mehreren Prozessen aus und stand zu seiner Vergangenheit. Ríos Montt und der ehemalige Geheimdienstchef, Rodriguez Sanchez, dagegen haben ihrer eigenen Aussage nach nur am Schreibtisch gesessen und hatten mit den Exzessen ihrer Untergebenen nichts zu tun.

Die Politik der verbrannten Erde

Edgar redet gerade von jenen Zivilpatrouillen, an denen teilzunehmen, die überlebenden Ixiles gezwungen wurden. Gezwungen die Ernten und Häuser der noch Flüchtenden zu verbrennen: Abgerichtet und gezwungen, ihrem eigenem Volk Schaden anzurichten. Keiner der Zeugen wollte gerne über die eigene Beteiligung an den Zivilpatrouillen sprechen. Sie waren Opfer und wurden gezwungen an Verbrechen teilzunehmen. Das spaltet, bringt noch mehr Opfer hervor und schwächt ein Volk. Es war Teil der Strategie. Doch die Zeugenaussagen helfen, das zu überwinden.

“Ich habe gesehen, wie sie 96 Personen von der Brücke stießen, sie schnitten einigen die Kehle durch, andere fielen mit Machetenhieben ins Wasser. Alle starben. Ich war 12 Jahre alt.” Edgar erinnert an diesen Zeugen, stellvertretend für alle. Ich denke dabei wieder an Río Negro und die Ohnmachtsgefühle der Opfer und Zeugen nach dem Plädoyer der Verteidigung damals 1998. Es ist nicht leicht auf ein System zu setzen, das immer gegen einen stand und steht.

“Was die Opfer in Guatemala erlebt haben, war nicht ein Gefecht, in dem ein Feind getötet wurde. Was sie erlebt haben war, dass die eigenen Soldaten in Blut gewatet sind, dass sie Grausamkeiten begangen haben, die wir uns kaum vorstellen können“ sagt Edgar. “Meiner Tochter hat ein Soldat das Herz rausgerissen. Welches Verbrechen hat sie mit acht Jahren begangen, dass sie sie so behandelt haben?“ fragte der Vater das Gericht.

Edgar fährt fort: “Es ist kein Zufall, dass wir in Guatemala von der Politik der verbrannten Erde sprechen. Sie haben alle Ernten verbrannt, alle Tiere und alle Häuser, oft haben sie die Bewohner gleich mit verbrannt.“ Die Überlebenden wurden jahrelang verfolgt und hatten doch nichts mehr zum Überleben. Das war die Idee.

Die hetzerische Verteidigung von Ríos Montt

Die Richter hören Edgar sehr konzentriert zu. Die Verteidiger spielen währenddessen mit ihren Telefonen. Der angeklagte Ex-Geheimdienstchef Rodriguez Sánchez macht Notizen. Verteidiger García Gudiel betrachtet das Publikum. Gestern hatte er noch auf unterstem Niveau gehetzt und gesagt, er würde nicht ruhen, bis das Gericht im Gefängnis säße. Er wird heute sicher wieder neue Beschuldigungen ausspucken. Aber Augenblicke wie dieser jetzt, in dem Edgar spricht, oder die, in denen die Opfer erzählten, geben diesem Prozess seine Würde wieder.

Ríos Montt betrachtet Edgar aufmerksam. Man könnte fast sagen nachdenklich. Es ist sicher kein leichter Augenblick für ihn. Er war allmächtig 1982 und 83, Chef aller drei Gewalten. Noch 2000 bis 2004 war er Präsident des Kongresses.

Der „Schrecken"

“Viele Menschen starben an Hunger, andere am Schrecken“, sagt Edgar. Der „Schrecken“, dieses komplizierte Konzept, das aus der Kosmovision der Maya entstanden ist. Es beschreibt die Reaktion auf die ewige Verfolgung, die Bombardierung, das verzweifelte Überleben in einer gänzlich feindlichen Welt. Jahrelang in den Bergen unter Bäumen versteckt, in Löchern, verfolgt, bombardiert. Sie kamen nie zur Ruhe, lebten von Kräutern, von Wurzeln. Als ihnen die Kleider in Fetzen vom Leib fielen, haben sie sie mit Plastik repariert, das sie irgendwo gefunden haben.

„Morgen ist Muttertag“ sagt Edgar und erzählt, was eine Zeugin berichtete: „Sie waren hinter uns her, die Kinder durften nicht schreien, sonst wären wir alle gestorben.“ Sie musste ihrem Baby einen Lappen vor den Mund halten. Es erstickte, damit andere leben konnten. Sie feiert sicher nie wieder Muttertag.

Edgar erzählt von den Vergewaltigungen und unserem Versuch, den Frauen zu ermöglichen unter Ausschluss der Öffentlichkeit auszusagen. Eine Erlaubnis, die das Gericht nicht erteilte. Trotzdem nahmen sie alle ihren Mut zusammen und sagten aus: “Als sie meine Mama vergewaltigten, musste ich zugucken. Danach haben sie es mit mir gemacht, ich war 12 Jahre alt.” Mir geht die Frau aus Tululché durch den Kopf, die Edgar und mir 1998 von einer Vergewaltigung erzählte, die so nicht stattgefunden hatte. Sie war vergewaltigt worden von unbekannten Soldaten und wollte aussagen, dass es ein Offizier war, von dem sie wusste, dass er andere Frauen vergewaltigt hatte, die nicht aussagen wollten. Die Wahrheit hat viele Facetten.

Nicht der erste Völkermord, aber der erste vor Gericht in Guatemala

Dieser Prozess, der von der Verteidigung so systematisch mit Dreck beworfen wurde, bedeutet Hoffnung und Licht für die Opfer. So wie andere Prozess dies vorher taten. Was neu ist, ist dass es heute gegen die Köpfe dieser Gräuel geht. Deswegen fällt es dem System so schwer, hier standhaft zu bleiben, sich auf die Seite der Wahrheit zu stellen und dieses mutige Gericht zu unterstützen. Neu ist auch, dass es um Völkermord geht, um Dimensionen von Rassismus, Ausgrenzung und Diskriminierung aus über 500 Jahren. Edgar sagt gerade: „Es ist der erste Völkermord in Guatemala, der vor einem Gericht steht; aber es ist nicht der erste Völkermord hier“.

Wie viele Autofahrten haben wir mit Edgar ins Landesinnere gemacht, um mit Opfern zu arbeiten? Wie viele Fahrten hat Edgar alleine gemacht, um diese Hoffnung aufrechtzuerhalten. Er hat Attentate überstanden, ist als Kommunist und Guerrillero beschimpft worden. Gestern noch ätzte der Angeklagte Rodriguez Sanchez mir gegenüber: „Michael, du musst mehr Geld besorgen.” Er geht davon aus, dass ich - der Weiße - Kopf und Geldbesorger bin. Sie denken nach wie vor in den gleichen Rastern. Der Hass auf die alten Guerrilleros ist immer noch da.

Rodríguez Sanchez scheint auf einmal zu lächeln, schmunzelt, Ríos Montt in diesem Moment auch. Edgar redet von den Toiletten, die während der Hauptverhandlung auf einmal für die Ixil-Zeugen abgeschlossen waren: Es ist der gleiche Rassismus, der ein weißes Neugeborenes in der Familie begrüßen und ein dunkles „Negro“ (Schwarzer) nennen lässt. „Benimm dich nicht wie ein Indio!“ -wer hat dies in seiner Kindheit hier noch nicht gehört?

Der interne Feind

„Wenn ich das Militär nicht kontrolliere, was mache ich dann hier? Wir haben Befehlsgewalt und sind in der Lage, dem Feind zu antworten.“ Das sind Worte von Ríos Montt aus einem Interview im Juni 82. Klarer kann man nicht Verantwortung übernehmen. Auch wenn er diese Verantwortung heute nicht mehr wahrhaben will. „Ich hatte nur administrative Aufgaben, konnte die Mobilisierung anordnen und Beförderungen vornehmen.“

Er wusste genau, wie die Situation war. Und er sagte es in seinen Sonntagspredigten in Radio und Fernsehen. Dort sprach er von der Bedrohung in Cotzal und Chakul. Er kann das nicht bestreiten. “Der Widerstand ist ganzheitlich und dauerhaft”, hat er damals gesagt. Das war das Konzept vom internen Feind: die Zivilbevölkerung als Gegner.

Ríos lehnt sich zurück, hört genau zu. Garcia Gudiel schaut weiter Löcher in die Zuschauer. Und dann spielt er mit seiner Uhr. Sie ist golden, sicher sehr teuer. Rodriguez Sánchez macht weiter Aufzeichnungen.

Guatemala, Uganda, Srebrenica

Die Angeklagten und ihre Verteidiger sagen, es gäbe nicht ein Dokument, das den Befehl zum Völkermord enthält. Diesen Befehl werden sie auch nicht in Uganda finden, nicht in Sebrenica. Natürlich gibt es diesen Befehl nicht schriftlich, aber sein Schatten ist überall sichtbar. Sie wussten genau, was Kriegsverbrechen sind. Die Zivilbevölkerung ist nach den Genfer Konventionen selbst im Krieg unantastbar.

Edgar fragt gerade Ríos Montt direkt: „Darf ein Zivilist, der der Guerrilla Essen gibt, militärisches Ziel sein? Dürfen Sie ein Kind töten, das Guerrilleros als Eltern hat? Starben die Ixiles im Gefecht? Ist ein Sympathisant ein erlaubtes militärisches Ziel?“ Edgar muss sich seine Fragen selbst beantworten. Alle mit Nein.

Der Sachverständige Fredi Pecereli erklärte, dass im konventionellen Krieg zwei von zehn Personen, die verletzt werden, sterben. Hier waren es acht von zehn. Das Töten war gezielt. Es waren alte Leute, Kinder, Menschen ohne Waffen. Wie hat der große argentinische Rechtswissenschaftler Zaffaroni gesagt: „Völkermord ist ein lang angekündigter Tod.“

Ríos hat die Augen geschlossen. „Sie hatten die Befehlsgewalt über alles militärsche und politische Handeln“, sagt Edgar. „Sie haben sogar die Richter ernannt und die Gesetze erlassen, es gab keinen Kongress.“ Ríos richtet die Augen auf Edgar, atmet tief durch. “Sie waren der Einzige, der alles kontrollierte”. Ríos ist blass, seine Hand stützt sein Kinn, nach wie vor hört er zu. „Aber Sie konnten nicht handeln ohne die Informationen des Geheimdienstes”. Und das haben die Sachverständigen bestätigt. Alle, egal welche Seite sie benannt hat. Man kann eben nicht alles verschweigen. Es gibt Dinge, die lassen sich nicht leugnen.

“Sie hatten die absolute Kontrolle”. Ríos lächelt. Diese Stelle schmeichelt ihm immer noch. Rodríguez Sánchez hört sehr aufmerksam zu. García Gudiel ist jetzt auf die Hinterbank gerutscht und würdigt die Nebenklage mit keinem Blick. Otto Ramirez, der Pflichtverteidiger, der das gleiche schmutzige Spiel der Verteidigung spielt, scheint gelangweilt. Palomo, der Kopf der Verteidigung von Ríos, blättert in den Akten. Und Rodríguez Sänchez macht weiter Notizen, nimmt Informationen entgegen. Die Reflexe eines Geheimdienstchefs funktionieren immer noch.

„Gibt es Gerechtigkeit auch für uns?“

“Justiz ohne Gerechtigkeit ist Tyrannei, Justiz ohne Kraft bringt keine Gerechtigkeit“. Edgar richtet sich an das Gericht. Zitiert die Opfer, die nicht wollen, dass dies alles wieder passiert und deswegen Gerechtigkeit fordern. Ich erinnere mich an einen von ihnen, der sagte: „Ich bin hier, weil ich wissen will, ob es Gerechtigkeit auch für uns gibt.“

Wir werden es sehen. Ríos Montt schreibt auf, was Edgar beantragt: „Verurteilung wegen Völkermordes und Verbrechen gegen die Menschlichkeit“. Hinter mir sitzen Frauen aus der Ixil Zone, in ihren wunderschönen Kleidern. Eine schluchzt. Abschließend zitiert Edgar noch einen Zeugen: „Sie sahen uns, als wären wir Wilde, als hätten wir keine Gefühle, als wären wir ihnen nicht gleich“.

Veröffentlicht am 17. Mai 2013

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