Die Gesellschaft der Vielen

Einladung zur Solidarität

24.06.25   Lesezeit: 6 min  
#migration  #strategien gegen rechts 

Eine Erklärung zur Verteidigung der Migrationsgesellschaft. 

Am 14. Juni 2025 hat in Berlin der Solidarische Migrationsgipfel der Rosa-Luxemburg-Stiftung getagt. Zum Abschluss haben die Teilnehmenden folgende Erklärung zur Verteidigung der Migrationsgesellschaft verabschiedet.

Deutschland war und ist eine Migrations- und Einwanderungsgesellschaft – das ist keine Behauptung, keine Vision oder Utopie, sondern eine Tatsache. Es gibt kein „vor der Migration“. Deutschland hat einen Migrationshintergrund, ein anderes Deutschland gibt es nicht und gab es nie. Es gibt nur unterschiedliche Arten der Gestaltung der Migrationsgesellschaft. Hier erinnern wir auch an den demokratischen Impuls des sog. Sommers der Migration vor zehn Jahren, der von Gastfreundschaft, gegenseitigen Interesse und Solidarität gekennzeichnet war und unsere Gesellschaft nachhaltig positiv geprägt hat.

Die Migrationsgesellschaft wird derzeit massiv angegriffen. Das führt zu Abbau und Zerstörung von Demokratie und Menschenrechten allgemein. Forderungen nach Homogenität und Schließung behaupten zwar Harmonie und Sicherheit, bedeuten aber Exklusion und Gewalt. Abschottung schafft ein Klima der Ohnmacht, des Misstrauens und der Angst. Aktuell beobachten wir in erschreckender Parallele zur Entwicklung in den USA, wie sich ein Bundesinnenminister öffentlich gegen geltendes Recht stellt, zivil-gesellschaftliche Organisationen mit kleinen Anfragen, Klagen und Verleumdungen an ihrer demokratischen Arbeit gehindert werden, Menschen um ihren Aufenthalt und ihre Staatsangehörigkeit, ihre körperliche Unversehrtheit und das Recht auf freie Meinungsäußerung bangen müssen, Kinder aus ihrer Schulklasse heraus abgeschoben werden und geflüchteten Familien das Zusammenleben unmöglich gemacht wird – alles im Namen eines imaginierten homogenen „Wir“, dessen Willen gegen vermeintliche Minderheitenpositionen durchgesetzt werden soll. Aber die Bedrohung liegt in der Kategorisierung und Entrechtung von Bevölkerungsgruppen, den offenen Rechtsbrüchen der Regierung, den autoritären Angriffen auf die demokratische Zivilgesellschaft und rassistischer Gewalt, nicht in der Migration. 

Diejenigen, die – sichtbare oder unsichtbare – Grenzen überschreiten, um ihre Ausgrenzung zu überwinden, sind Pionier*innen der Demokratie. Sie streben ein gutes Leben unter Bedingungen ihrer strukturellen Entrechtung an. Dabei fordern sie ein, was allen zusteht und erweitern so den demokratischen Raum: Bedingungen, unter denen Menschen sich als würdige und gleichberechtigte Subjekte verstehen, darstellen und als solche leben können. In diesen Kämpfen offenbart sich, was Demokratie im Kern ist: nicht ein Vorteilssystem für Wenige, sondern die gemeinsame Aushandlung gesellschaftlichen Zusammenlebens unter Vielen. 

Als Solidarischer Migrationsgipfel stellen wir uns gegen rassistische Stigmatisierung und moralische Panikmache. Wir weisen die vehemente Skandalisierung von Migration und Leugnung der migrationsgesellschaftlichen Realität Deutschlands zurück und wenden uns gegen alle Spielarten eines zunehmenden Autoritarismus. 

Eine offene Migrationsgesellschaft stellt ein Versprechen auf eine Zukunft dar, in der soziale Rechte nicht begrenzt, sondern erweitert werden – für alle. Migration benötigt nicht nur demokratische Verhältnisse, sondern bringt diese auch maßgeblich hervor.

Wir kämpfen um und für die Gesellschaft der Vielen, für einen offenen Raum des Zusammenlebens unter Bedingungen von Differenz und Dissensfähigkeit. Genau darin liegt ihre demokratische Qualität. Denn Demokratie lebt nicht von Vereindeutigung und Vereinseitigung, sondern vom produktiven Streit, von konflikthaften Aushandlungen darüber, wie wir zusammenleben wollen, und darüber, was gerecht, gleichberechtigt und menschenwürdig ist. 

Bewegungen der Migration sind Ausdruck unser globalen Verwobenheit und unser lokalen Bedürfnisse. Sie bringen die Vielfalt menschlichen Lebens und menschlicher Lebens-weisen miteinander in Kontakt, erfordern ein anderes gesellschaftliches Miteinander in der Gegenwart und ermöglichen so neue Zukunftsentwürfe – nicht im Sinne multikultureller Buntheit, sondern als Vision radikaler Mitbestimmungsrechte für alle, die von Entscheidungen betroffen sind. Die vielen solidarischen Kommunen und Solidarity Cities machen vor, wie Inklusion, Wohlstand und Sicherheit für alle gestärkt werden kann. Dort, wo sich verschwistert wird, wo Nachbarschaften sich gegen die Abschiebung ihrer Mitmenschen wehren, wo eine Stadtgesellschaft vereint um Opfer rechter Gewalt trauert, wo gemeinsam gelernt, gearbeitet und gelebt wird, schwindet die Angst und wächst der gesellschaftliche Zusammenhalt. 

Die solidarische Migrationsgesellschaft der Vielen ist beides: Eine gelebte Realität und gleichzeitig ein Ausblick auf eine gerechtere Zukunft. Sie ist der Ausgangspunkt für eine politische Praxis, die auf gelebte Solidarität und soziale Inklusion zielt: auf mehr Teilhabe, mehr Freiheit, mehr soziale Gerechtigkeit und die Ausweitung sozialer Rechte für Alle.

Der Solidarische Migrationsgipfel lädt dazu ein, unsere Türen zu öffnen und empathisch für die Gleichwertigkeit der Leben einzutreten. Und er fordert dazu auf, uns ausdrücklich und vehement zur Gesellschaft der Vielen zu bekennen und für Offenheit, Streitbarkeit und Solidarität zu kämpfen!

Berlin, 14. Juni 2025

Sprecher:innen auf dem Migrationsgipfel:

Mehmet Arbag - Verband binationaler Familien und Partnerschaften e.V. | Naika Foroutan - Migrationsforscherin an der Humboldt-Universität zu Berlin | Lydia Lierke - Offener Prozess – Dokuzentrum NSU Komplex | Kien Nghi Ha und Manik Chander - korientation e.V. | Massimo Perinelli - Rosa-Luxemburg-Stiftung | Kerem Schamberger - medico international e.V. | Elif Eralp - Mitglied des Berliner Abgeordnetenhauses, Die Linke | Edwin Greve - Migrationsrat Berlin e.V. | Gian Mecheril - Politikwissenschaftler | Juliane Karakayali - Evangelische Hochschule Berlin (EHB) | Kasia Wojcik - Berlin Polyphon | Mekonnen Mesghena - Heinrich-Böll-Stiftung | Bethi Ngari - Women in Exile e.V. | Hamze Bytyçi - RomaTrial e.V. | Hamidou Maurice Bouguerra - Dachverband der Migrant*innenorganisationen in Ostdeutschland (DaMOst) | Pazhareh Henning-Heidari - Linkskanax | Birgit zur Nieden - Büro der Berliner Integrationsbeauftragten (Botschaft) | Remzi Uyguner - Türkischer Bund Berlin-Brandenburg (TBB) | Hassan Nugud - We’ll Come United | Maura Magni - Moving Cities | Valeria Hänsel - medico international e.V. | Hannah Peaceman - Jalta – Positionen zur jüdischen Gegenwart | Tareq Alaows - PRO ASYL e.V. | Ibrahim Arslan - Reclaim and Remember | Sheila Mysorekar – neue deutsche organisationen – das postmigrantische Netzwerk e.V. | Rebecca Gotthilf - Rosa-Luxemburg-Stiftung | Dan Thy Nguyen - Fluctoplasma | Saraya Gomis - APO | Tiago Da Cruz - From the Sea to the City - „A consortium of civil society organizations for a welcoming Europe“ | Kutlu Yurtseven - Herkesin Meydanı — Platz für alle | Sabine Hess - KritNet – Netzwerk kritische Migrations- und Grenzregimeforschung | Ferat Koçak - MdB, Die Linke | Laura Langona - OEZ / Erinnern Berlin | Koray Yılmaz-Günay - Migrationsrat Berlin e.V. | Barbara Wessel - Republikanische Anwältinnen- und Anwälteverein (RAV) | Noa K. Ha - Stadt- und Rassismusforscherin | Manuela Bojadžijev - Migrationsforscherin an der Humboldt Universität zu Berlin | Cana Nurtsch - Türkische Gemeinde Deutschland e.V. (TGD) | Simin Jawabreh – Politikwissenschaftlerin und Aktivistin migrantische Selbstorganisierung | Berena Yogarajah - Kölner Aktivistin | Özcan Karadeniz - Politikwissenschaftler | Sowmya Maheswaran - Transforming Solidarities | Aurora Rodonò - Kuratorin Migrationsgeschichte | Rola Saleh - Flüchtlingsrat Brandenburg e.V. | Céline Barry - Migrationsrat Berlin e.V. | Clara Bünger - MdB, Die Linke | Heike Kleffner - Verband der Beratungsstellen für Betroffene rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt e.V. (VBRG) | Margarita Tsomou - Hebbel am Ufer | Newroz Duman - Initiative 19. Februar Hanau


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