Jugendbanden

Ein Zeichen der Deeskalation

Manchmal sind unorthodoxe Lösungen die besten. Das Problem der Jugendbanden in El Salvador, Guatemala und Honduras wurde für unlösbar gehalten. Innenminister und Präsidenten überboten einander mit Androhungen einer „Politik der harten Hand“. Jeder Jugendliche, der sich durch Körpertätowierungen als Mitglied einer „Mara” zu erkennen gab, wurde von der Polizei angehalten, festgenommen und manchmal gleich umgebracht. Die von den Banden ausgehende Gewalt konnte dadurch nicht vermindert werden.

Die Banden entstanden, als nach den Friedensabkommen in El Salvador (1992) und Guatemala (1996) tausende Zentralamerikaner aus den USA abgeschoben wurden. Viele Jugendliche hatten sich dort nach dem Vorbild der einheimischen Banden zusammengeschlossen. Die Bande bot Schutz und ersetzte oft die kaputte Familie. In ihren Heimatländern hatten die entwurzelten Jugendlichen weder Aussicht auf einen Job, noch sozialen Anschluss. Den fanden sie wieder nur in der Bande, die durch Schutzgelderpressung und Drogenhandel auch für ein Einkommen sorgte.

Umso überraschender war es, als am 9. März 2012 die beiden größten Jugendbanden El Salvadors, die Pandilla Salvatrucha und die Mara 18, ein Abkommen schlossen, in dem sie darauf verzichten, Gebietsstreitigkeiten blutig auszutragen, und sich verpflichten, keine Sicherheitskräfte und Behördenvertreter mehr zu attackieren. Als einziges sichtbares Zugeständnis wurden 30 Bandenchefs vom Hochsicherheitsgefängnis in Zacatecoluca in Haftanstalten mit weniger rigorosem Vollzug verlegt. Seither ist die Todesrate durch Gewalteinwirkung von durchschnittlich 14 auf 5,2 pro Tag gesunken.

Vermittelt wurde das Abkommen von Raúl Mijango und Militärbischof Fabio Colindres. Mijango, ehemaliger Guerillakommandant und mehrere Jahre als Abgeordneter für die FMLN im Parlament, ist Projektpartner von medico international. Er steht der Prothesenwerkstatt PODES in San Salvador vor. Die letzten Jahre hatte er sich als Händler von Butangaszylindern in der Privatwirtschaft verdingt. Dabei war er in den städtischen Randbezirken auch mit Bandenmitgliedern in Kontakt gekommen.

Am 3. Mai folgte eine weitere spektakuläre Erklärung. Die beiden Banden erklärten sämtliche öffentliche und private Schulen zu Friedenszonen. Das heißt, dass dort keine Drogen angeboten und Mitglieder angeworben werden. Auch auf Zwangsrekrutierungen wollen die Banden verzichten. Inzwischen sind auch die anfangs skeptischen Innenminister der Nachbarstaaten Honduras und Guatemala aufmerksam geworden und haben sich von ihrem Kollegen über die erstaunlichen Erfolge berichten lassen. Ein Indiz, dass auch die Bevölkerung den Prozess mehrheitlich unterstützt, ist eine Umfrage von Mitte Mai 2012, in der Innenminister David Munguía Payés, der das Abkommen mitträgt, von allen Kabinettsmitgliedern am besten abschneidet.

Nachfolgend ein Interview mit Raúl Mijango, das Ralf Leonhard im April 2012 führte:

Herr Mijango, Sie haben das Abkommen der beiden Jugendbanden Salvatrucha und Mara 18 vermittelt. Glauben Sie, dass es eine Perspektive hat?

Raúl Mijango: Ich halte es für irreversibel, weil alle gewinnen. Es hat dem Land in den ersten knapp 6 Wochen 342 Tote erspart. Das Besondere ist, dass es sich nicht um einen Verhandlungsprozess zwischen Regierung und Banden handelt, sondern um ein Abkommen zwischen den Banden.

Halten sich alle Bandenmitglieder daran?

Die Basis respektiert sehr diszipliniert die Entscheidungen ihrer Chefs. Es gilt ein strenger Ehrenkodex, in dem Wortbruch verpönt ist. Natürlich hat es vorher einen Konsultationsprozess gegeben.

Aber die Banden treffen sich ja jetzt schwerlich nur mehr zu Kaffeekränzchen.

Die Schutzgelderpressungen und der Drogenhandel gehen vorerst weiter. Aber wir haben erreicht, dass die Banden erkennen, dass sie nicht nur Teil des Problems sind, sondern auch Teil der Lösung sein können. Auch die etwa 10.000 Gefangenen haben ein Kommuniqué herausgegeben, in dem sie den Prozess unterstützen, obwohl ihnen weder Amnestie noch Strafnachlass in Aussicht gestellt wurden.

Vor nicht allzu langer Zeit hieß es, das Problem der Jugendbanden sei politisch unlösbar.

Das war ein Irrtum. Die Bandenchefs sind sehr gebildet, sie lesen viel. Die meisten sind zweisprachig und kennen die Gesetze.

Und wie kann ihnen die Regierung entgegenkommen?

Es geht nicht nur um ein kriminelles Phänomen, sondern um dessen soziale und wirtschaftliche Ursachen. Es geht um Ausgeschlossene, die keine Arbeit finden. Wenn sie Jobangebote hätten, würden sie diese annehmen. Eine Politik der harten Hand löst nur mehr Gewalt aus. Präsident Mauricio Funes will daher die Gesellschaft aufrufen, den Prozess zu unterstützen. Ich denke da an Programme, wie sie nach dem bewaffneten Konflikt den ehemaligen Guerilleros und Soldaten angeboten wurden. Wir brauchen Stipendien und Kleinunternehmen. Die Gefängnisse müssen in Produktionszonen umgewandelt werden, wo die Häftlinge Geld verdienen können und nicht ihren Familien auf der Tasche liegen.

Jugendliche, die nichts gelernt haben, gewinnen mit einer Waffe Prestige. Welches Interesse können die haben, jetzt Bäcker oder Kellner zu werden?

Aus einem guten Grund haben sie Interesse: Erstens ist ihre Lebenserwartung in der Bande fast null. Dann stimmt es auch nicht, dass sie mit illegalen Aktivitäten viel Geld verdienen. Das meiste müssen sie für Anwälte ausgeben oder für die Bestechung von Richtern. Im Grunde bleiben sie arm. Ich habe ein Konzept vorgeschlagen, das sich kommunitäre Sicherheit nennt. Die Jugendlichen sollen in den eigenen Bezirken für die Sicherheit sorgen: für Geld. Heute sorgen sie für Unsicherheit.

Spielt auch die Polizei mit und nimmt nicht mehr routinemäßig alle jungen Männer mit Tätowierung fest?

Das ist ein Problem. Die Polizei und vor allem einige ihrer Kommandanten nutzen die Situation und veranstalten große Razzien. Das schadet uns, weil die Geste guten Willens mit Repression beantwortet wird.

Die Zivilgesellschaft ist teils sehr skeptisch.

Das stimmt. Es gibt immer wieder Sabotageversuche: vor zehn Tagen hatte ich ein großes Problem mit dem Transportgewerbe, weil ein Journalist mir in den Mund legte, ich hätte den Antrag der Banden befürwortet, dass die Subvention für den öffentlichen Verkehr für sie umgewidmet werden soll. Das ist natürlich frei erfunden. Aber die Transportunternehmer sind über uns hergefallen. Dann wurde wieder behauptet, dass ich Drogen in die Gefängnisse einschleuse.

In den Nachbarländern, die mit ähnlichen Problemen kämpfen, ist man auf euren Prozeß aufmerksam geworden?

Ja. Was mich noch mehr freut, ist die Unterstützung in den USA unter der salvadorianischen Gemeinde. Der Vizebürgermeister von Los Angeles, wo ja die Jugendbanden ihren Ausgang genommen haben, will etwas für uns tun. Auch aus Kanada sind ermutigende Signale gekommen. Gestern habe ich den Botschafter der EU getroffen, heute esse ich mit dem US-Botschafter. Alle sind sehr interessiert.

Text und Interview: Ralf Leonhard

Projektstichwort

Die Prothesen-Werkstatt von PODES in El Salvador gehört zu den Inseln der Vernunft, auf denen es gelungen ist, genossenschaftliche Produktion, Arbeitsplätze und Qualifizierungsmöglichkeiten für schwer kriegsbeschädigte Veteranen und Gesundheitszugang für die Ausgeschlossenen miteinander zu verbinden. Mit medico-Spenden wird der Sozialfonds finanziert, der anfangs den Kriegsveteranen zur Verfügung stand, nun von Migrantinnen und Migranten genutzt wird, die auf ihrer gefährlichen Reise in den Norden verletzt wurden. Und jetzt werden auch Mitglieder der Jugendbanden im Gefängnis den Sozialfonds nutzen, um Prothesen zu erhalten. Das Spendenstichwort dafür lautet: El Salvador.

Veröffentlicht am 05. Juli 2012

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