Dokumentation

Die Schlange und der Geist

70 Jahre WHO, 40 Jahre Deklaration von Alma Ata: Die medico-Debatte auf dem Kongress „Armut & Gesundheit“ zeichnete die Aushöhlung der multilateralen Gesundheitspolitik nach und suchte Auswege aus der Krise.

Schon der Ankündigungsflyer war alarmierend. In einer Verfremdung des Logos der Weltgesundheitsorganisation WHO – die um den Äskulapstab gewundene Schlange im Vordergrund, eine Weltkarte dahinter – war das symbolisch doch Heilung versprechende Tiere so um den Stab geschlungen, als müsse sie ersticken. Der Titel lautete: „Im Würgegriff. Die WHO am Scheideweg“. So lud medico international zu seinem Tagesprogramm auf dem Kongress Armut & Gesundheit Ende März in Berlin ein. Zur Debatte stand die Rolle, Verfassung und Entwicklung der als multilateralen Organisation, die vor genau 70 Jahren mit dem Auftrag gegründet worden war, die führende und koordinierende Instanz für globale Gesundheitsrechte und -politiken zu sein. Diese Ambition wurde 30 Jahre später noch einmal erneuert und durch eine weitreichende Strategie untermauert: Auf der Konferenz in Alma-Ata verabschiedeten die WHO-Mitgliedsstaaten Leitlinien zur Erreichung eines Höchstmaßes individuell und kollektiv erreichbarer Gesundheit für alle Menschen. Und heute, 70 bzw. 40 Jahre später, soll die Schlange tot und der Geist von Alma Ata ausgetrieben sein? In welche Schräglage die globale Gesundheitspolitik geraten ist, wurde in dem vollbesetzten Hörsaal an der Technischen Universität von Stunde zu Stunde deutlicher.

Politisch ausgehöhlt, finanziell abhängig

Einblicke in das Innenleben der WHO sollte der erste Redner Dr. Daniel Lopez-Acuña geben. Heute Professor an der Andalusian School of Public Health in Granada, war er fast 30 Jahre in leitenden Positionen für die WHO tätig. Tatsächlich bestätigte er all das, wofür die WHO immer vernehmlicher in der Kritik steht: dass die Fülle von Interessen, die sich in ihr tummeln, zu einer Zersplitterung geführt hat; dass der technische Arm, der sich um die effiziente Umsetzung von Programmen und Projekten kümmert, stärker sei als der politische und es der WHO an einer starken Programmatik mangelt; dass der 2013 angestoßene interne Reformprozess an entscheidenden Stellen versandet ist; vor allem aber, dass die Organisation unterfinanziert und auf eklatante Weise auf freiwillige Zuwendungen von Staaten und privaten Gebern angewiesen ist. Die damit einhergehende Abhängigkeit formulierte Lopez-Acuña so: „Am Ende des Tages bestimmt das Geld die Richtung.”

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„McDonalds finanziert ein Kindererziehungsprogramm der UNESCO, Chevron gibt Geld für UN-Entwicklungsprogramme.“

Wie kommt es zu dieser Schieflage: Haben allein Missmanagement und interne Schwächen die WHO in Bedrängnis gebracht? Dass die Probleme grundsätzlicher sind und auch strukturelle Ursachen haben, machte Andreas Zumach klar, seit vielen Jahren Korrespondent bei den Vereinten Nationen in Genf. Er ordnete die (Fehl-)Entwicklungen der UN-Tochter WHO in die Krise gesamten Multilateralismus-Projektes Vereinte Nationen ein. So erinnerte er daran, dass weder die UN als Ganze noch die WHO jemals über den nationalen Interessen stehende Institution gewesen sind, sondern immer schon komplexe Netzwerke von Mitgliedsstaaten mit unterschiedlichem Gewicht und Interesse: formal demokratisch, gleichwohl vermachtet, immerhin aber öffentliche Arenen, aus denen heraus – siehe Alma Ata – bei entsprechenden Koalitionen auch Emanzipatorisches auf den Weg gebracht werden kann. Einen herben Schlag, so Zumach, hat der Multilateralismus Anfang der 1980er-Jahren erhalten: Die Wende zur neoliberalen Politik erfasste auch die internationalen Systeme. „Damals begann die Phase der finanziellen Erpressung.“ Mächtige Mitgliedstaaten hielten Beitragszahlungen zurück und machten die UN wie ihre Organisationen zu Bittstellern. Diese Entwicklung hat sich bis heute fortgesetzt. So stammt nur noch ein Fünftel des Gesamtbudgets der WHO von den Pflichtbeiträgen der Mitgliedsstaaten. Der Rest sind freiwillige Beiträge und Zuschüsse, die dann gezahlt werden, wenn die Programme im Interesse der Geber umgesetzt werden.

Einen weiteren Einschnitt datierte Zumach auf das Jahr 1997: Da die Mitgliedsstaaten die UN finanziell ausbluten ließen, öffnete diese sich unter Generalsekretär Kofi Anan in ihrer Not anderen Quellen. Damit war der Damm gebrochen. Große Mäzene betraten die Bühne. Vor allem aber mussten privatwirtschaftliche Akteure ihre Interessen nun nicht mehr vermittelt über nationale Regierungen geltend machen. Vielmehr konnten sie mittels zweckgebundener Spenden selbst und unmittelbar Einfluss auf Ausrichtungen und Programme von UN-Politiken nehmen. Zumach illustriert die Situation so: „McDonalds finanziert ein Kindererziehungsprogramm der UNESCO, Chevron gibt Geld für UN-Entwicklungsprogramme.“ Und die Weltgesundheitsorganisation wurde abhängig von der medizintechnischen Industrie, multinationalen Pharmakonzernen und Philantrokapitalisten. Ungeheuerlich, aber wahr: Die Bill&Melinda-Gates-Stiftung finanziert längst 40 Prozent des WHO-Budgets und bestimmt damit maßgeblich den Kurs. Statt von der Mehrheit der Mitgliedsländer getragen und kontrolliert zu werden, hat sich die WHO zu einer „donor-driven organisation” gewandelt. Ist aus dem, was einmal ein übergeordneter Anwalt globaler Gesundheit sein sollte, ein strukturell abhängiger Dienstleister geworden?

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Der Geist von Alma Ata

In jedem Fall sind die Autorität und Legitimität der WHO massiv beschädigt. Diesen Befund teilte Dr. Andreas Wulf, seit 1998Projektkoordinator für Globale Gesundheit bei medico international. Und doch machte er innerhalb der großen Geschichte auf eine andere Geschichte aufmerksam, indem er dem Geist von Alma Ata nachspürte. Aus heutiger Sicht ist kaum vorstellbar, was damals geschah: „Gesundheit für Alle“ war die Deklaration überschrieben, die die Mitgliedsstaaten 1978 verabschiedeten. Der Weg dorthin sollte über die Primary Health Care (Basisgesundheitspflege) erreicht werden. Der PHC-Strategie setzte auf weitreichende gesellschaftliche Veränderungen. So sollten Verbesserungen der grundlegenden Lebens-, Ernährungs-, und Wohnbedingungen unablässig Teil einer bereichsübergreifenden Gesundheitsarbeit sein. Es war die radikalste Stunde der WHO – der jedoch schon bald die neoliberale Wende folgte, wodurch auch die Orientierung an der Primary Health Care mehr und mehr ins politische Abseits gedrängt wurde. Doch anhand einer Reihe von Beispielen zeigte Wulf, dass der Geist nie ganz ausgetrieben worden ist. In lokalen Projekten, in nationalen Gesundheitspolitiken wie in Nicaragua und selbst auf der Ebene der WHO wurde und wird das Konzept immer wieder aufgegriffen, verteidigt, mit Leben gefüllt und weitergedacht. Noch 2008 veröffentlichte zum Beispiel die WHO den Weltgesundheitsbericht unter dem Titel „Primary Health Care – Now more than ever” und legte sie ein Grundsatzpapier zu sozialen Determinanten von Gesundheit vor, in dem sie in aller Klarheit feststellte: „Soziale Ungleichheit tötet in großem Maßstab.“

Der Geist von Alma Ata spukt also weiter durch die Debatte um globale Gesundheit. Wie er auch Basisgesundheitsbewegungen inspiriert hat, veranschaulichte Dr. Anuj Kapilashrami, stellvertretende Direktorin der Global Development Academy der University of Edinburgh und Gesundheitsaktivistin. So stellte sie das Ende 2000, auch unter Mitwirkung von medico international gegründete People’s Health Movement (PHM) und dessen Gesundheitskämpfe in Indien vorstellte. Das internationale Netzwerk setzt sich mit einer Kombination aus politischem Protest, Aufklärungsarbeit und einem gelebten Basisgesundheitsansatz für das Recht auf bestmögliche Gesundheit ein – lokal wie global. So beobachtet, kommentiert und kritisiert die PHM-Delegation „WHO Watch“ vor Ort in Genf die Politik der Weltgesundheitsorganisation. Kapilashrami zufolge sind diese Formen des Aufbegehrens zwar durch Alma Ata beflügelt. Sie müssten aber auch als Gegenreaktionen und Verteidigungskämpfe gegen die Neoliberalisierung der Gesundheitspolitik und die Vertreibung des Geistes von Alma Ata gedeutet werden. Dabei wurde deutlich, dass sich die gleichen Entwicklungen, die die WHO verändert haben, auch in nationalen Gesundheitspolitiken niederschlagen. Das zeigte Kapilashrami am Beispiel des indischen Gesundheitssystems: Auch hier hat die Privatisierung der öffentlichen Gesundheitsversorgung Industrien und Konzernen Tür und Tor geöffnet, auch hier sind Private-Public-Partnerships zum dominierenden Modell geworden. Kapilashrami machte auf ein weiteres Problem aufmerksam: Auch NGOs und zivilgesellschaftliche Initiativen würden immer stärker in solche Programme mit fragwürdigen Partnerschaften getrieben – oder bereitwillig mitmachen, weil nur noch so an die nötige Finanzierung zu kommen ist. Ob NGO in Indien oder WHO in der Schweiz – hier wie da herrschen Abhängigkeiten.

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Verteidigen und kritisieren

Der Ankündigungsflyer hatte nicht getrogen: Die gesamte Debatte auf dem Kongress erhellte, wie massiv Autorität, Eigenständigkeit und Legitimität der WHO bedroht sind. Aufgeben aber wollte sie niemand – zumal problematische Akteure wie die Weltbank oder Großkonferenzen wie der „World Health Summit“ ihr ohnehin den Rang als erste Adresse für globale Gesundheitsfragen abspenstig zu machen drohen. Insofern war man sich einig: Die WHO muss zugleich kritisiert und verteidigt werden. Andrea Zumach schlug die Einführung einer verpflichtenden UN-Steuer vor. Würde jeder Mitgliedstaat nur 0,001 Prozent seines Bruttosozialproduktes an die Vereinten Nationen abführen müssen, stünde auch die WHO anders da. Der Druck zu Veränderungen, auch darin stimmte man überein, muss von unten kommen, von gut vernetzten und beharrlichen zivilgesellschaftlichen Kräften – in Rückbesinnung auf den Anspruch, gesunde Lebensbedingungen für alle zu schaffen, und in der Weiterentwicklung entsprechender Strategien. Nur so kann der Geist von Alma Ata wiederbelebt und die Schlange der WHO aus dem Würgegriff befreit werden.

Christian Sälzer

Veröffentlicht am 14. Mai 2018

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