Porträt

Die Hoffnung stirbt zuletzt

Ein Gespräch mit dem syrischen Aktivisten und medico-Partner Abdulsattar Sharaf über seinen Werdegang zum Revolutionär.

medico: Abdulsattar, erzähl doch bitte Deinen Werdegang.

Abdulsattar Sharaf: Ich bin 1984 in Erbin, der zweitgrößten Stadt von Ost-Ghouta geboren. Vor der syrischen Revolution lebten dort 100.000 Menschen. Jetzt sind es noch etwa 50.000. (Das Gespräch wurde am 1. März 2018 geführt, zwei Wochen später ist die Stadt aufgrund der pausenlosen Bombardierung des ganzen Gebietes wieder auf 100.000 angewachsen, d. Red.). Nach meinem Schulabschluss mit der 12. Klasse habe ich bis 2007 an der Universität in Damaskus Pharmazie studiert. Erbin war in meiner Kindheit eine beschauliche Mittelschichtsstadt. Es gab viele kleine und mittlere Handwerksbetriebe, in denen Möbel produziert wurden. Außerdem gab es verarbeitende Industrie zur Herstellung von Konserven. Das hat sich alles mit der Marktöffnung radikal verändert. Es begann 1993, als private Investitionen zugelassen wurden, und führte unter Beratung durch die Weltbank 1997 zur sekundenschnellen Zerschlagung der Staatsmonopole. Die kleine und mittlere Industrie brach zusammen. Plötzlich hatten die Reichen sehr viel mehr Geld. Sie kauften in Erbin ganze Häuser als Kapitalanlage und verdrängten die ärmeren Schichten aus der Stadt. Mit der Liberalisierung wuchs die Kluft zwischen Arm und Reich in einem nie gekannten Ausmaß. Es war eine Hochzeit aus Geld, Politik und Neoliberalismus.

Du warst auch in der Armee?

Ich wurde 2008 für anderthalb Jahre eingezogen. Ich leistete Militärdienst in Deir ez-Zor. Dort habe ich viel über die Schattenseiten Syriens kennengelernt. Das Trinkwasser in Deir ez-Zor war ungenießbar und gefährlich. Das ist in ganz Syrien ein Problem, weil es fast keine Kläranlagen gibt. In meiner Heimatstadt Erbin ist das ganze Grundwasser beispielsweise von den Abwässern Damaskus` verseucht, die seit Jahrzehnten ungefiltert in die Flüsse fließen. Während meines Militärdienstes in Deir ez-Zor war nicht nur das Trinkwasser, sondern auch der Euphrat verschmutzt. Das waren vor allen Dingen Industrieabwässer. Die Bauern konnten in dieser Wüstengegend das Wasser des Flusses nicht benutzen, um ihre Felder damit zu bewässern. Ich war dort der einzige mit medizinischem Wissen und musste viele Kranke mit Hepatitis A oder B und Leishmaniose behandeln. Sie waren Folge dieser Verschmutzungen. Doch niemand kümmerte sich um diese schweren Erkrankungen. Mich empörte diese Gleichgültigkeit der staatlichen Institutionen.

Und nach der Armee?

Bin ich nach Erbin zurückgekehrt und habe 2010 meine Apotheke eröffnet. Die lief sehr gut. Aber auch hier kam ich mit der Armut in Berührung. Meine Apotheke lag in der Nähe von Sawwa, einem Vorort von Erbin. Sawwa ist eigentlich ein Slum, in dem Tausende Menschen leben, die aus Erbin verdrängt worden waren. In Sawwa gab es keinerlei öffentliche Infrastruktur, auch keinen Zugang zu Gesundheitsdiensten. Sie kamen zu mir in die Apotheke und baten mich um Unterstützung. Mit ein paar befreundeten Ärzten versuchte ich medizinische Hilfe zu leisten.

Wie hast Du Dich an der syrischen Revolution beteiligt?

Über meinen Bruder in Deutschland erfuhr ich von den Ereignissen in Ägypten. Das Geschehen am Tahrir-Platz hat mich und meine Freunde sehr inspiriert. Und so kam es zu ersten Demonstrations-Aufrufen gegen das Assad-Regime im Internet unter dem Titel „Syrische Wut“. Die ersten in meiner Region, die protestierten, waren übrigens die Menschen aus Sawwa. Ich hoffte auf demokratische Veränderungen. Und mir hat der Klientelismus in Syrien auch das Weiterstudieren unmöglich gemacht. Ich hätte gerne den Master in Pharmazie gemacht. Dazu braucht man aber verwandtschaftliche oder politische Beziehungen zur Regierungspartei. Ich nahm bereits an der zweiten Demonstration der syrischen Revolution in Damaskus teil. Damals schlossen sich sogar Polizisten an. Zur selben Zeit aber wurde Dara´a, der Ausgangsort der syrischen Revolution, schon von Regierungstruppen belagert. (Ende Februar 2011 wurden Schulkinder festgenommen, die Anti-Assad-Graffiti gesprüht haben sollen. In der Kleinstadt an der libanesischen Grenze, die eigentlich eine Assad-Hochburg war, führte das zu großen Demonstrationen, d. Red.). Wenige Tage später gab es die ersten Demonstrationen in Douma. Douma ist mit damals 700.000 Einwohnern die größte Stadt Ost-Ghoutas, nicht weit entfernt von Erbin.

Wie verhielt sich das Regime in Douma?

Schon zu diesem Zeitpunkt war die Eskalation zu spüren. Zwei meiner Freunde wurden für mehrere Tage festgenommen und schwer gefoltert. Es gab Tote bei den Demonstrationen. Ihre Beerdigungen wurden wieder zu Demonstrationen. Und es gab erneut Tote. Auch in Erbin. So war es zwischen März und April 2011 im ganzen Land. Nach diesen Ereignissen gründeten wir das Basiskomitee. Das war zuerst eine Internetplattform, über die wir anonym Aktionen organisierten und Informationen zirkulierten. Zeitweise bestand das Basiskomitee aus 90 Leuten mit ähnlichen Ansichten. Die Militarisierung des Aufstandes war nicht unsere Sache, aber wir hatten dem nichts entgegenzusetzen. Der Aufstand kam von den jungen Leuten, die wie ich, in den 1980er Jahren geboren wurden. Die Generation der 1990er Jahre hingegen sind bewaffnete Kämpfer. Meine Generation ist tot oder im Exil.

Eine Frage, die sich fast erübrigt: Hattest Du Angst um Dein Leben?

Natürlich. Denn im August 2011 besetzten 1.000 Soldaten die Stadt und töteten fünf Bewohner. Bis Januar 2012 hatten wir dann schon 100 Tote zu beklagen. Im September 2011 wurde einer meiner Freunde auf einer Demonstration erschossen. Und ein Mitglied unseres Basiskomitees wurde durch Messerstiche nachts getötet. In dieser Zeit wurde ich von maskierten Männern entführt und gefoltert. Sie wollten mich zwingen, für den Geheimdienst zu arbeiten.

Trotzdem hast Du weitergemacht?

Im Auftrag des Revolutionsrats, der sich auch in Erbin gebildet hatte, um die Stadtverwaltung zu übernehmen, habe ich mich mit anderen medizinisch ausgebildeten Leuten darum gekümmert, das Ersatz-Krankenhaus für Erbin aufzubauen. Das alte Krankenhaus lag direkt neben der Autobahn und der Station der Geheimpolizei. Im August 2012 besetzte die Freie Syrische Armee das Stadtzentrum von Erbin. Die Stadt wurde vom Revolutionsrat, der sich auf Bitten der Schattenregierung in der Türkei in Lokaler Rat umbenannt hatte, kontrolliert.

Ein Jahr lang galt Erbin als „befreit“. Was bedeutet Dir das?

Erbin war nie ohne Krieg, es gab täglich Raketenangriffe. Bis August 2013 glaubten wir wirklich, wir hätten eine Chance, Assad loszuwerden. Dann kam der Giftgasangriff des syrischen Militärs auf einen Nachbarort von Erbin. 1.500 Menschen kamen ums Leben. Ich selbst habe Opfer im Krankenhaus gesehen. Dieser Angriff war ein Wendepunkt, vor allem, als klar wurde, dass er keine Reaktion der Weltgemeinschaft zur Folge haben würde. Verändert hat sich die Situation aber auch, weil die bewaffneten Milizen immer islamistischer wurden.

Wann hast du angefangen, Dich um die Schulen zu kümmern?

Als Mitglied des Basiskomitees war ich auch Mitglied im Lokalen Rat. Dort war ich zuerst zuständig für die medizinische Versorgung und die Medikamentenherstellung, denn wir bekamen vom größten syrischen Händler nur noch Rohstoffe. Danach übernahm ich die Verantwortung für die Neugründung der Schulen. Unsere Kinder hatten seit einem Jahr keinen Unterricht mehr, weil die Schulen oft als Referenz für Angriffsziele dienten und deshalb auch immer wieder Raketenangriffen ausgesetzt waren. Wir haben den Schulbetrieb deshalb unterirdisch in Kellern organisiert.

Es hört sich an, als hättest Du Tag und Nacht gearbeitet. Privatleben gab es nicht, oder?

Das haben viele so gemacht, nicht nur ich. Wir träumen von einem anderen Land.

Aber in all den Jahren ist dieser Traum nicht näher gerückt, sondern in die Ferne. Woher rührte Deine Hoffnung?

Es war meine freie Entscheidung, diesen Weg zu gehen. Niemand hat mich dazu gezwungen. Aber ich hatte auch Hoffnung, weil uns Dinge gelangen. Wir haben 70 Brunnen in Erbin reaktiviert, wir haben die Schulen in den Kellern etabliert, wir haben das Grundbuch wieder eingeführt, wir haben für alternative Energiequellen gesorgt, einen Kindergarten für 400 Kinder von Verhafteten oder Getöteten errichtet. Als Russland Ende 2016 intervenierte und die Auseinandersetzungen zwischen den verschiedenen militärischen Gruppen in Erbin heftiger wurden, habe ich angefangen, im Internet Deutsch zu lernen.

Es gab Todesdrohungen und tatsächlich auch einen Angriff von militärischen Gruppen in Erbin gegen Dich. Wie kam es dazu?

Warum es letztlich zum Anschlag gegen mich kam, ist unklar. Er fand genau vor einem Jahr statt. Sie kamen nachts in mein Haus und schossen mir in die Brust. Ich habe überlebt, weil ich mich wehren konnte. Jetzt bin ich in Deutschland. Aber für mich ist es sehr schwer, hier zu sein und zusehen zu müssen, was in Erbin gerade geschieht.


Das Interview führte Katja Maurer. Es erschien zuerst im medico-Rundschreiben 1/2018. Das Rundschreiben schicken wir Ihnen gerne kostenlos zu. <link verbinden abonnieren>Jetzt abonnieren!

Veröffentlicht am 26. April 2018

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