Türkei/Kurdistan

Die einzige Chance, die wir haben.

Nach dem Verbot – die Arbeit geht weiter! Ein Interview mit dem kurdischen medico-Partner, dem Rojava Hilfs- und Solidaritätsverein.

Der politische, wirtschaftliche und militärische Druck Ankaras auf die Kurdinnen und Kurden in der Türkei lässt nicht nach, im Gegenteil. Nur zur Erinnerung: Bei den großflächigen Bombardements auf Städte wie Diyarbakir, Yüksekova und Sirnak haben 300.000 Menschen ihre Wohnung verloren. Noch heute sind viele von ihnen alltäglich auf Hilfe angewiesen. Sämtliche demokratisch gewählten Bürgermeisterinnen und Bürgermeister wurden abgesetzt und durch Gouverneure Ankaras ersetzt. TV-Stationen, Rundfunksender und Zeitungen wurden verboten.

Im bislang letzten Zug greift die Erdogan-Regierung jetzt auch die kurdische Zivilgesellschaft an und löst Bildungs-, Gesundheits- und Sozialverbände zwangsweise auf. Verboten wurde auch der örtliche medico-Partner, der Rojava Hilfs- und Solidaritätsverein (Rojava Yardımlaşma ve Dayanışma Derneği), alle Büros und Lagerräume geschlossen. Dabei hat der Verein schon vorher nicht frei arbeiten können: Von Anfang an wurden Konten willkürlich gesperrt, Büros bei Razzien verwüstet, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter bedroht und festgenommen, Hilfsgüter beschlagnahmt, bisweilen einfach vom LKW abgeräumt. Bis heute aber konnte die gegenseitige Hilfe trotz gewaltsamer Repression und materieller Not nicht unterbunden werden: selbst der Bau neuer Häuser für die Ausgebombten geht weiter! Während die türkische Luftwaffe die Kurdinnen und Kurden im syrischen Rojava bombardiert und dabei auch auf den Widerstand der Amerikaner stößt, haben wir mit unseren Kollegen dieses Interview zur Geschichte ihres Vereins – und zur Fortdauer einer Hilfe geführt, die überlebensnotwendig geworden ist.

medico: Ihr habt Euch ursprünglich als Verein gegründet, der aus den kurdischen Gebieten der Türkei Hilfe für Rojava organisiert, also für die Kurdinnen und Kurden in Syrien. Vor einigen Tagen hat die türkische Armee Rojava angegriffen, weitere Angriffe drohen – könnt ihr noch irgendetwas tun, um die Menschen in Rojava zu unterstützen?

Rojava-Verein: Anfangs waren wir die wichtigsten Unterstützer des Gesellschaftsexperiments von Rojava und stellten die meisten Hilfsgüter und -leistungen bereit. Wir haben eine Spendenkampagne initiiert, an der sich Menschen aus der ganzen Türkei beteiligten, nicht nur aus den kurdischen Gebieten. So konnten wir den Wiederaufbau der kriegszerstörten Dörfer und Städte begleiten, dringend benötigte Lebensmittel liefern und schließlich die Einrichtung eines öffentlichen Gesundheitsdienstes stärken. Mit der Hilfe medicos haben wir ein Labor mit einer Blutbank und eine Geburtshilfestation in einem Mutter-Kind-Gesundheitszentrum eröffnen und unterhalten können. Im Dezember 2015 hat die Türkei die Grenze zu Rojava geschlossen, allen Hilfsorganisationen den Grenzübertritt verweigert und damit auch uns die Fortsetzung unserer Arbeit unmöglich gemacht. Jetzt beginnt die Türkei mit militärischen Angriffen auf Rojava.  Wir fürchten, dass die Bombardements der vorletzten Woche nicht die letzten gewesen sein und auch die Yeziden treffen werden!

Mit der Schließung der Grenze zu Rojava war Eure Arbeit aber nicht zu Ende, im Gegenteil: Ihr musstet bald den vielen Tausenden helfen, die kurz zuvor noch den Menschen in Rojava geholfen haben…

2015 verhängte die türkische Regierung eine Ausgangssperre über alle kurdischen Städte und Dörfer. Als die Menschen sich wehrten, sind sie am Boden und aus der Luft bekämpft worden – die türkische Luftwaffe hat ganze Stadtteile niedergebombt und ihre Bewohnerinnen und Bewohner vertrieben. Wieder wurden wir zur wichtigsten Hilfsstruktur, stellten auch hier erst einmal Lebensmittel bereit. Bald darauf haben wir Vertriebene bei ihren Versuchen unterstützt, ihre zerstörten Häuser wieder aufzubauen.  Wir haben auch Yezidinnen und Yeziden geholfen, die vor dem Terror des IS aus Syrien geflüchtet waren. Regierung, Verwaltung und Sicherheitskräfte haben uns von Anfang an, wo es nur ging, behindert: Sie holten uns die Hilfsgüter vom LKW, dann wurde der LKW beschlagnahmt und schließlich der Autoverleiher, der uns Mietwagen überließ, massiv unter Druck gesetzt. Trotzdem haben wir auch diesmal nicht nur in den kurdischen Gebieten, sondern in der ganzen Türkei und schließlich europaweit um Spenden geworben. Zugleich organisierten wir die Kampagne der „Geschwisterfamilien“, in der sich Familien aus der Diaspora um Familien in den ausgebombten Gebieten kümmerten. Medico hat uns sowohl bei der Lebensmittel- als auch in der Wiederaufbauhilfe unterstützt.

Nach den Bombardements kurdischer Städte und Dörfer hat die Regierung in Ankara den Ausnahmezustand benutzt, um den Menschen im Südosten jede Eigenständigkeit zu nehmen: Alle frei gewählten Bürgermeister wurden entlassen, viele von ihnen verhaftet und durch Gouverneure Ankaras ersetzt, schließlich die Organisationen der Zivilgesellschaft verboten – auch Euer Verein.

Zeitgleich mit der Absetzung der Bürgermeister waren die Zeitungen und die Radio- und TV-Sender an der Reihe: eine freie Öffentlichkeit gibt es heute nur noch im Internet, in den sozialen Netzwerken und natürlich im privaten Gespräch, in den Familien, den Nachbarschaften, im Café – überall dort, wo Menschen sich gegenseitig beistehen. Im November 2016 hat es dann uns erwischt: der Rojava Hilfs- und Solidaritätsverein wurde offiziell verboten, unsere Büros geschlossen. Jetzt kam uns zugute, dass wir immer schon auf ehrenamtliche Hilfe und auch auf die selbsttätige Mitarbeit der Bedürftigen gesetzt haben: der Verein existiert nicht mehr, seine Strukturen sind aufgelöst, doch die Arbeit geht irgendwie weiter, von Mund zu Mund, von Hand zu Hand. Was für uns gilt, stimmt so auch für andere zivilgesellschaftliche Vereinigungen: überall versucht irgendwer, die Arbeit fortzusetzen. Natürlich ist das alles sehr viel schwerer geworden, ohne feste Zuständigkeiten, ohne offene Räume der Beratschlagung und Koordination – auch ohne finanzielle Unterstützung. Und: Alle, die jetzt von Nachbar zu Nachbar aktiv werden, müssen täglich mit ihrer Festnahme und Verhaftung rechnen, auch mit der blanken Gewalt. Das Recht ist vollständig außer Kraft gesetzt.

Währenddessen hat die Regierung ihr Referendum gewonnen – Erdogan verfügt jetzt über fast unumschränkte Amtsgewalt. Was bedeutet das für Euch selbst – und überhaupt für den demokratischen Widerstand in der Türkei?

Das Erste, was man hier sagen muss, ist, dass mittlerweile ganz verschiedene Hinweise für umfangreiche Fälschungen vorliegen und Erdogan das Referendum trotz massiver Einschränkung jeder Opposition in Wahrheit eben nicht gewonnen hat. Er hat die Macht, aber seiner Macht fehlt die Zustimmung. Das verleiht seinem Handeln auch den Charakter einer Flucht nach vorn. Die Oppositionsparteien CHP und HDP haben das Referendum angefochten – das zuständige Gericht hat ihre Beschwerden einfach zurückgewiesen, mit einer Begründung, die wortwörtlich den Erklärungen Erdogans folgt! Das zwingt jetzt alle, die sich nicht unterwerfen wollen, zur Zusammenarbeit: für sich allein hat niemand eine Chance. Soll der Lauf der Dinge umgekehrt werden, braucht es einen gemeinsamen Widerstand aller demokratischen Kräfte, über alte Spaltungen hinweg. Darin liegt auch eine Chance – die einzige, die wir haben.

Trotz allem lassen die europäischen Regierungen Erdogan freie Hand. Die Gespräche zum Beitritt zur EU sind zwar auf Eis gelegt, man mahnt pflichtschuldig „europäische Werte“ und Meinungsfreiheit an, geflüchteten türkischen Intellektuellen, Journalisten, auch Soldaten wird in beschränktem Maß Asyl gewehrt. Der Betrug beim Referendum und der allgemeine Zustand der Rechtlosigkeit aber wird hingenommen, besonders dort, wo sich das gegen Kurdinnen und Kurden – und gegen Geflüchtete aus Syrien und dem Irak richtet: die soll Erdogan vom Übertritt nach Europa abhalten. Was wisst ihr von der Lage der Geflüchteten in der Türkei?

Wir können Euch keine Zahlen nennen, weil entsprechende Erhebungen gar nicht möglich sind. Doch wir wissen aus eigener Anschauung, wie katastrophal die Lage der Menschen ist. So hat man die yezidischen Geflüchteten, die zuerst in der Nähe von Diyarbakir untergebracht waren und von uns unterstützt wurden, gezielt in Lager bei Mardin-Midyat verbracht, in denen hauptsächlich Geflüchtete arabisch-sunnitischer Herkunft leben. Damit wird die Traumatisierung absichtsvoll fortgesetzt und neue Gewalt provoziert. Das alles ist menschenunwürdig, es ist ein Menschenrechtsverbrechen, und die EU macht sich mitschuldig. Und es ist fatal: Die Menschen werden sich nicht aufhalten lassen: wer überleben, wer sich retten will, wird nach Wegen suchen, dieser Lage zu entkommen.
 

Die Arbeit geht weiter - trotz aller Verbote. medico wird die gegenseitige Hilfe der Ausgebombten, Vertriebenen und Geflüchteten in der Türkei auch weiterhin unterstützen. Helfen Sie mit:

Spendenstichwort: Kurdistan

Veröffentlicht am 15. Mai 2017

Jetzt spenden!