Türkei

Belohnter Demokratieabbau

HDP-Verbot, Austritt aus der Istanbul-Konvention: Während die türkische Demokratie im freien Fall ist, bestimmt die Migrationsabwehr weiterhin den Türkei-Kurs der EU.

Von Anita Starosta

Fast zeitgleich mit dem fünften Jahrestag des EU-Türkei-Deals leitet der Generalbundesanwaltschaft ein Verbotsverfahren gegen die zweitgrößte Oppositionspartei im türkischen Parlament ein. Der Schritt gegen die HDP kommt nicht überraschend: Seit Wochen fordert die rechtsextreme MHP, Koalitionspartnerin von Erdoğans AKP, das Verbot der Linkspartei und bereits im Februar waren kurzzeitig knapp 700 HDP-Politiker:innen verhaftet worden. Das Verbot setzt eine seit Jahren anhaltende nationalistische und autokratische Entwicklung in der Türkei fort, die geprägt ist von Menschenrechtsverletzungen, Demokratieabbau und völkerrechtswidrigen Kriegen. EU-Politiker:innen kritisieren den neuesten Einschnitt zwar, die Kooperation zur Migrationsabwehr soll jedoch weiter ausgebaut werden.

Das Linksbündnis HDP (Halkların Demokratik Partisi – dt. Partei der Völker) steht für eine feministische, antirassistische und soziale Politik und ist ein Sammelbecken für verschiedene linke Strömungen in der Türkei. Ihr Einsatz für Menschenrechte und besonders für die kurdische Bevölkerung im Land wird von der AKP-geführten Regierung von Beginn an massiv bekämpft. Nun scheint es so, dass sich Erdoğan mit Blick auf die kommenden Parlamentswahlen 2023 der unliebsamen Partei entledigen will. Der Antrag beinhaltet auch ein Betätigungsverbot für 687 HDP-Politiker:innen, unter ihnen fast alle Spitzenpolitiker:innen der Partei. So soll die Neugründung einer Partei oder eine erneute Kandidatur verhindert werden.

Eine echte Opposition

Mit ihrem Einzug ins türkische Parlament 2015 konnte die HDP der AKP die Regierungsmehrheit streitig machen, bei den letzten Kommunalwahlen stellte sich die HDP in den Metropolen an die Seite der anderen Oppositionsparteien und verhinderte so AKP-Bürgermeister. Trotz der staatlichen Hetzkampagne gelingt es der HDP weiter, den politischen Kurs im Land mitzubestimmen, die repressive Regierungspolitik führt nicht zu einem Stimmenverlust. Deshalb setzt die Erdoğan-Regierung auf immer härtere Repressalien: Unter dem Vorwurf „Unterstützung einer terroristischen Organisation“ wurde bereits zahlreichen Mitgliedern der Partei ihr Mandat entzogen. Fast 4000 HDP-Politiker:innen sitzen in Haft, seit den letzten Kommunalwahlen 2019 wurden 67 HDP-Bürgermeister:innen abgesetzt. Das Verbotsverfahren ist nun der letzte Schritt, um die Arbeit der Partei zu unterbinden.

Am 31. März entscheidet sich, ob der Verbotsantrag gegen die linke HDP Bestand hat. Ein Blick in die Geschichte zeigt jedoch, dass es insbesondere kurdischen Parteien immer wieder gelungen ist, sich nach Parteiverboten neu zu organisieren. Bei den Feiern zum kurdischen Neujahrsfest am 21. März sind hunderttausende Menschen auf die Straße gegangen – und haben damit auch gegen das drohende Parteiverbot protestiert, ein inoffizielles Referendum für Demokratie und Menschenrechte in der Türkei.

Fast parallel zur Auseinandersetzung um das HDP-Verbot erregte der Entzug des Abgeordneten-Mandats von HDP-Politiker Ömer Faruk Gergerlioğlu weitere Aufmerksamkeit. Gergerlioğlu ist bekannt für seinen langjährigen Einsatz für Menschenrechte, unter anderem durch Prozessbeobachtungen. Nachdem ihm sein Mandat entzogen wurde, verließ er das Parlamentsgebäude nicht, sondern wurde dort Tage später von der Polizei verhaftet. Inzwischen ist er wieder frei und hat eine Klage gegen den Entzug seines Mandats eingereicht. Gegen zwanzig weitere HDP-Politiker:innen laufen ähnliche Verfahren.

Und dann verkündete Erdoğan noch über ein juristisch fragwürdiges Dekret den Austritt aus der Istanbul-Konvention, ein verbindliches Abkommen des Europarates zum Schutz von Frauen vor Gewalt. Das Abkommen befördere die „Normalisierung von Homosexualität“; Religion, Ehre und Anstand seien gefährdet, heißt es. Allein im vergangenen Jahr wurden in der Türkei 300 Frauen von Männern ermordet, erklärten Frauenrechtsorganisationen, die gegen den Austritt mobilisierten. Zahlreiche Frauen- und LGBTI-Organisationen demonstrierten gegen die Aufkündigung des Abkommens.

EU-Gipfel: Weiter konstruktive Zusammenarbeit

Die Verletzung von Menschrechten und der Abbau von Demokratie sind keine neue Entwicklung in der Türkei, sie finden seit Jahren statt. Ob es die Inhaftierung tausender Journalist:innen ist, die Missachtung der Urteile des Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (beispielsweise im Fall der Inhaftierung des ehemaligen HDP-Vorsitzenden Selahattin Demirtaş) oder klar völkerrechtswidrige Kriegshandlungen in Nordsyrien, auch unter dem Einsatz deutscher Waffen. Gründe gäbe es genug, die Beziehungen Deutschlands und der EU anders denn als Partnerschaft zu buchstabieren.

Im Vorfeld des EU-Gipfels in der vergangenen Woche wurden angesichts der jüngsten Entwicklungen zwar von verschiedenen Seiten Bedenken geäußert, das Signal in der Abschlusserklärung des Gipfels war dann aber ein anderes: Es wurde eine Vertiefung der Zusammenarbeit in Aussicht gestellt, konkret zum Beispiel die Modernisierung der Zollunion, die lange in Aussicht gestellte Visafreiheit und weitere Flüchtlingshilfen – de facto eine Verlängerung des EU-Türkei-Deals. Bis diese Punkte im Juni ausgearbeitet werden, solle sich die Türkei „konstruktiv“ verhalten, heißt es.

Besonders betont wurde die Zusammenarbeit und Stärkung der Türkei beim „Migrationsmanagement“. Einig ist man sich über die weitere Unterstützung der 3,5 Millionen syrischen Flüchtlinge in der Türkei, um zu verhindern dass diese sich in Richtung Europa bewegen. Stattdessen sollen die Hilfen augenscheinlich auch eine mögliche Rückführung nach Nordsyrien umfassen. Das ist nur möglich in Gebiete, die bis heute völkerrechtswidrig von der Türkei und islamistischen Söldnertruppen besetzt werden. Das stellte selbst das Europäische Parlament in einer Resolution zuletzt fest und forderte den Rückzug der Türkei aus diesen Gebieten.

Die Unterstützung soll auch den Libanon und Jordanien umfassen, wo ebenfalls hunderttausende syrische Flüchtlinge unter mehr als prekären Bedingungen leben. Aus humanitärer Perspektive ist hier Hilfe bitter nötig, denn die Bedingungen, unter denen die Geflüchteten im Libanon leben, sind katastrophal. Es fehlt jedoch vor allem an einer politischen Lösung für die Region. Und so tut die EU einfach nur weiterhin alles, um zu verhindern dass Migration Richtung Europa stattfindet.

Der EU-Türkei-Deal ist Teil einer europäischen Politik der Auslagerung von Migrationskontrolle und -abwehr, wie Maximilian Pichl in seiner kürzlich erschienen Studie „Der Moria-Komplex“ feststellt. Solange dies für die EU oberste Priorität hat, wird auch der Demokratieverfall in der Türkei ohne größere Konsequenzen weiter voranschreiten können. Der EU-Türkei-Deal ist nicht nur gescheitert, wenn wir auf die Hot-Spots der griechischen Inseln schauen, sondern auch auf das Nichthandeln im Falle der Missachtungen von Völkerrecht, Menschenrechten und Demokratie in der Türkei. Folgerichtig braucht es die Auflösung des Deals und eine europäische Lösung der Migration, in der Würde und Menschenrechte gewahrt werden. Das würde die EU aus der selbstgeschaffenen Abhängigkeit von Erdoğan lösen und neue Handlungsoptionen eröffnen, um die Einhaltung von Demokratie und Menschenrechten ernsthaft einfordern zu können.

Veröffentlicht am 31. März 2021

Anita Starosta

Anita Starosta leitet die Öffentlichkeitsarbeit von medico international. Außerdem ist die Historikerin für die Türkei, Nordsyrien und den Irak zuständig.

Twitter: @StarostaAnita


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