Türkei

Neue Eskalation

Angriff im Nordirak, hunderte Festnahmen in der Türkei und die Bundesregierung schweigt.

Von Anita Starosta

Es ist der Höhepunkt der seit langem anhaltenden Repressionswelle gegen prokurdische Politiker:innen und Aktivist:innen: Am gestrigen Tag wurden in der Türkei über 700 Aktivist:innen und Politiker:innen der HDP (Linkspartei und drittgrößte Oppositionspartei im türkischen Parlament) wegen des Verdachts auf „Terrorunterstützung“ festgenommen. Als Anlass für die Verhaftungsorgie dienten Präsident Erdogan unter anderem unliebsame Äußerungen zum Tod von dreizehn Kriegsgefangenen der kurdischen Arbeiterpartei PKK im nordirakischen Gare-Gebirge.

Vergangene Woche hatte die Türkei mit der Operation „Adlerkralle 2“ eine großangelegte Militäroffensive gegen PKK- Stellungen in den Bergen Kurdistan-Iraks gestartet. Dabei wurden am Sonntag dreizehn gefangene Soldaten und Polizisten getötet. Ob sie infolge der türkischen Luftangriffe starben oder von der Guerilla getötet wurden, ist unklar. Eine unabhängige Untersuchungskommission könnte die Verantwortung klären. Alle internationalen Akteure, denen es an Frieden und Gerechtigkeit für die Region gelegen ist, sollten sich jetzt für eine unmittelbare Untersuchung einsetzen. Klar ist die Sache für Erdogan: Er nutzt die Ereignisse als Freibrief für massive antikurdische Repressionsmaßnahmen. Das Vorgehen der türkischen Regierung ist ein weiterer Rechtsbruch im Umgang mit der mehrheitlich von Kurd:innen gewählten HDP und Institutionen der kurdischen Zivilgesellschaft.

Einige deutsche Medien haben über die Festnahmewelle in der Türkei berichtet indem sie die Rhetorik der türkischen Regierung ohne kritische Einordnung übernahmen. Demnach wurden gestern „mehr als 700 mutmaßliche PKK-Aktivisten festgenommen“ (tagesschau.de). Dabei gab es in den vergangenen Monaten unter dem Vorwurf der „Unterstützung einer terroristischen Vereinigung“ immer wieder Verhaftungen von Anwält:innen, Journalist:innen oder Politiker:innen. Betroffen sind auch Partner:innen von medico international in der kurdischen Region der Südosttürkei. Die Lage in der Türkei ist instabil. Um von innenpolitischen Friktionen, der Wirtschaftskrise und Kritik am Management der Corona-Pandemie abzulenken, nutzte Erdogan schon in der Vergangenheit immer wieder militärische und polizeiliche Maßnahmen gegen Kurd:innen und Linke. Ein klassisches Konzept: Wenn es schlecht läuft für die Regierung, können ein Krieg und das Schüren des Konfliktes mit den Kurd:innen dazu verhelfen, die nationale Einheit hinter der AKP-Regierung zu stärken.

Die Militäroperation in Kurdistan-Irak und die gestrigen Verhaftungen stellen einen neuerlichen traurigen Höhepunkt in der Eskalation des Konfliktes mit der kurdischen Bevölkerung und der linken HDP dar. Ebenfalls gestern wurde zudem die Menschrechtsaktivistin Eren Keskin zu sechs Jahren Haft verurteilt. Als Begründung diente auch hier der Standardvorwurf „Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung“. Als Anwältin setzt sich Keskin besonders für Minderheiten und politische Verfolgte ein. Sie ist Gründungsmitglied und Co-Vorsitzende des Menschenrechtsvereins der Türkei (IHD), mit dem medico eine lange Geschichte verbindet. Ihre Verurteilung – noch ist das Urteil nicht rechtskräftig – ist ein weiterer herber Schlag gegen unabhängige Menschenrechtsarbeit in der Türkei.

Verbot der HDP?

Schon seit einiger Zeit fordert die rechtsradikale Partei MHP, die gemeinsam mit der AKP regiert, ein Verbot der HDP. Der Parlamentsabgeordnete und Co-Vorsitzende der HDP, Mithat Sancar, warnt vor einem möglichen Verbot der Partei. So laufen Anträge zur Aufhebung der Immunität gegen sämtliche HDP-Abgeordnete im Parlament und seit den letzten Kommunalwahlen im Jahr 2019 wurden mehr als 50 von insgesamt 65 HDP-Bürgermeister:innen abgesetzt und durch Zwangsverwalter ersetzt, einige sind in Haft.

Von der gestrigen Verhaftungswelle sind zahlreiche Provinz- und Bezirksvorstände der HDP betroffen. Sollte die türkische Regierung die aktuelle Eskalation nutzen, um ein Verbot umzusetzen, ist der Einsatz aller internationalen Akteure gefordert, die Einfluss auf die türkische Regierung haben. Besonders die deutsche Bundesregierung und die Europäische Union müssen sich endlich für eine demokratische Lösung einsetzen, die nicht auf Kosten derjenigen geht, die sich für eine friedliche, gerechte und demokratische Perspektive in der Türkei und angrenzenden Regionen einsetzen.

Bedrohtes Rojava

Schon immer haben die Politik und das militärische Vorgehen der türkischen Regierung auch direkte Auswirkung auf Nordostsyrien und die dortige Selbstverwaltung (Rojava). Mit Sorge beobachten wir seit Monaten die Entwicklungen an der nordsyrisch-türkischen Grenze und in Kurdistan-Irak. Die medico-Partner:innen in Rojava antworten inzwischen schon routiniert auf unsere regelmäßigen besorgten Nachfragen. Ob die vermehrten Raketenangriffe aus den von türkischen Söldnertruppen besetzten Gebieten auf die Stadt Ain Issa oder Tel Tamer, Drohungen des türkischen Außenministers, den Osten Rojavas um die Stadt Derik einzunehmen oder veränderte politische Allianzen im Nordirak, die sich negativ auf die Region auswirken werden – seit Monaten antworten die medico-Partner:innen vom Kurdischen Roten Halbmond uns in einer traurigen Gelassenheit, dass sie für den Ernstfall vorbereitet sind. Mit mobilen Kliniken und Krankenwägen können sie ins Kriegsgebiet fahren, um die Menschen vor Bombardierungen zu retten oder binnen kurzer Zeit neue Flüchtlingslager aufbauen. Zuletzt durchlebten die Helfer:innen im Oktober 2019 einen solchen Einsatz, als kurzzeitig 300.000 Menschen aus der Grenzregion Rojavas vor den Angriffen der Türkei flohen. Neben der Pandemiebekämpfung ist die ständige Bereitschaft für einen neuerlichen Kriseneinsatz die bittere Realität in der Region.

Der Krieg gegen Rojava hat nie aufgehört – ob durch Angriffe niederer Intensität, wie die regelmäßige Kappung der Wasserzufuhr für die Region Hassakeh im Sommer, oder die militärischen Attacke auf Ain Issa, um die wichtige Straße M4 einzunehmen. Mit den aktuellen politischen und militärischen Entwicklungen in Kurdistan-Irak und dem neuerlichen Repressionsschlag gegen die HDP und Aktivist:innen in der Türkei ist auch das fragile Rojava gefährdet.

In die deutschen Schlagzeilen schafft es diese besorgniserregende Entwicklung nur noch selten und die Bundesregierung scheint weiterhin bemüht, ihre Rolle in der Region möglichst klein zu halten, um „den türkischen Partner“ nicht zu verärgern. Dabei ist erst kürzlich durch eine Anfrage der Bundestagsabgeordneten Helin Evrin-Sommer deutlich geworden, dass die Bundesregierung 14 Mio. Euro für internationale NGOS – wohlgemerkt nicht für die lokalen Hilfsorganisationen – in Nordostsyrien bereitgestellt hat, um unter anderem Gesundheitsprojekte umzusetzen. Zu dieser Unterstützung sollte die Bundesregierung auch öffentlich stehen und sich offensiv für Frieden, Gerechtigkeit und Demokratie in der Region einsetzen, anstatt der Erdogan-Regierung durch ihr anhaltendes Schweigen zu den Menschenrechtsverletzungen in der Türkei und den Völkerrechtsbrüchen in Syrien den Rücken zu stärken.

Veröffentlicht am 16. Februar 2021

Anita Starosta

Anita Starosta leitet die Öffentlichkeitsarbeit von medico international. Außerdem ist die Historikerin für die Türkei, Nordsyrien und den Irak zuständig.

Twitter: @StarostaAnita


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