Am 11. September 2013 jährte sich zum vierzigsten Mal der Militärputsch in Chile. Unter Führung von General Pinochet wurde die Regierung unter Salvador Allende gestürzt. Damit wurde ein politisches Experiment gewaltsam beendet, das die Verwirklichung der politischen und sozialen Rechte aller Bürgerinnen und Bürger in den Mittelpunkt seines Handelns gestellt hatte. Dabei verfolgte die Diktatur nicht nur die politischen Feinde auf brutale Weise, sondern installierte ein neoliberales Gegenmodell. Die Diktatur Pinochets gibt es nicht mehr. Das Diktat des neoliberalen Modells aber hat nach wie vor Verfassungsrang. Die Privatisierung der einst öffentlichen Daseinsvorsorge u.a. im Bildungs- und Gesundheitssektor spaltet die Gesellschaft und ist Gegenstand von heftigen Auseinandersetzungen.
Nach Jahren des politischen Stillstands haben sich neue soziale Bewegungen entwickelt. Mit erstaunlicher Beharrlichkeit demonstrieren SchülerInnen und StudentInnen für das Recht auf Bildung, kämpfen Stadtbevölkerungen gegen die weitere Privatisierung von öffentlicher Infrastruktur wie Wasser und Gas, will die Mapuche-Bevölkerung ihre verbrieften Rechte gegen das Primat der „Wirtschaftsinteressen“ durchsetzen. Gibt es eine gemeinsame Basis für diese neuen demokratischen und sozialen Bewegungen und wie nachhaltig sind sie? Welche Spuren haben die schweren Menschenrechtsverletzungen der Diktatur bis heute in Politik, Gesellschaft und Individuen hinterlassen? Welche allgemeinen Lehren lassen sich aus den Erfahrungen der letzten Jahrzehnte im Modelland des Neoliberalismus ziehen?
Lehren aus 40 Jahren Neoliberalismus
Der Thementag wurde vorbereitet von Barbara Schindler-Bäcker, Katholische Akademie Rabanus Maurus und Katja Maurer, medico international, die die Gäste willkommen hieß und in ihrer Einführung einging auf die persönliche und politische Bedeutung der chilenischen Geschichte und Gegenwart für die anwesenden Gäste und auch für medico international als politische Hilfsorganisation.
- Katja Maurer: Begrüßung (PDF, 3 Seiten).
In seiner Eröffnungsrede legte der chilenische Intelektuelle Carlos Pérez Soto die katastrophalen Folgen der neoliberalen Reformen u.a. für Chiles Gesundheits- und Bildungssystem dar. Er machte außerdem darauf aufmerksam, dass Abbau und Ausverkauf des Sozialstaats nicht unbedingt der diktatorischen Durchsetzung gebrauchen, sondern vielmehr in Chile (und auch in Europa!) unter parlamentarisch-demokratischen Regierungen schleichend, aber umso effektiver durchgesetzt werden.
- Carlos Pérez Soto: "40 Jahre Neoliberalismus in Chile", die ausführliche Abhandlung und schriftliche Grundlage der Eröffnungsrede auf Deutsch (PDF, 28 Seiten). "40 años del modelo neoliberal en Chile" auch als Video in spanischer Sprache auf Youtube.
Ausgehend vom neoliberalen Paradigma, den Wettbewerb in allen Politik- aber auch Lebensbereichen als zentrales Prinzip zu etablieren, legte der chilenische Psychologe Miguel Castello in seinem Kurzvortrag dar, wie die Medien den Wettbewerb in den Köpfen verankern und zur Stabilisierung der neoliberalen Politik in Chile beitragen.
- Miguel Castello: "La alegría (neoliberal) ya viene" auf Spanisch (PDF, 9 Seiten).
Mit den Menschenrechtsverletzungen der Pinochet Diktatur und ihrer juristischen Aufarbeitung beschäftigte sich Marcelo Henriquez Kries, der selbst lange Zeit um die Strafverfolgung der Mörder seines Vaters gekämpft hat.
- Marcelo Henriquez Kries: "Die juristische Aufarbeitung der Menschenrechtsverbrechen" auf Deutsch (PDF, 8 Seiten).
Michael Ramminger rundete den Vormittag mit seiner bitteren Rückschau auf die Geschichte der Kirche in Chile seit 1973 ab. Nach der Zerschlagung der volkskirchlichen Bewegung sieht er wenig Chancen, dass die Kirche in Chile wieder ein Ort des sozialen Wandels werden kann.
- Michael Ramminger: Kirche als Akteur des sozialen Wandels in Chile (Video, 9min).
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Raum für Diskussion
Am Nachmittag diskutierten Referenten und Teilnehmende die eingangs aufgeworfenen Thesen in den Arbeitsgruppen. Neben Carlos Pérez Soto, Miguel Castello und Michael Ramminger leitete der Frankfurter Chilene Pavel Eichin eine Arbeitsgruppe, in der sich Teilnehmende und Referent gemeinsam anhand von Gedichten und Liedern der Exilerfahrung annäherten (Ausarbeitung des Workshops).
Blick nach vorne
Nach langem politischen Stillstand füllen sich heute nicht nur in Chile, sondern ganz aktuell im Sommer 2013 auch in Brasilien die Straßen mit Studierenden, SchülerInnen, GesundheitsarbeiterInnen und empörten BürgerInnen aller Couleur. Können wir von einer Generation ohne Angst sprechen? Im Abschlusspanel diskutierten Christian Russau (Brasilienexperte des FDCL Berlin), Carlos Pérez und Pavel Eichin über die sozialen Bewegungen in Chile und Brasilien im Kampf um öffentliches Gut und neue Formen der Demokratie.
- Podiumsdiskussion: Generation ohne Angst? Die aktuellen sozialen Bewegungen in Chile und Brasilien (Video, 1h 16min, deutsch und spanisch).
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Die ReferentInnen:
Carlos Pérez Soto ist einer der bekanntest linken Theoretiker in Chile. Ursprünglich ausgebildet als Physiker unterrichtet er an verschiedenen Universitäten in Chile u.a. marxistische Theorie, Grundlagen der Psychologie, der Antipsychiatrie und die Geschichte des Tanzes. Er steht im intensiven Austausch mit den sozialen Bewegungen, darunter auch den chilenischen und Studenten und Schülern. Als ehemaliges Mitglied der chilenischen kommunistischen Partei hat er sich intensiv mit verschiedenen Formen des autoritären Marxismus auseinandergesetzt. Zur Zeit beteiligt er sich an den Diskussionen über die Perspektiven einer neuen Linken in Chile und entwickelt Vorschläge gegen die Kommerzialisierung von Bildung und Gesundheitsdiensten sowie für die Demokratisierung des Wissens.
Christian Russau ist freier Mitarbeiter des FDCL - Forschungs- und Dokumentationszentrum Chile-Lateinamerika und Redakteur der Lateinamerika Nachrichten, Berlin. Er arbeitet als Journalist, Autor und Übersetzer. Schwerpunkte seiner Arbeit sind u.a. soziale Bewegungen in Brasilien, die sich gegen Großprojekte zur Wehr setzen. 2012 erhielt er den Henry-Mathews-Preis des Dachverbands der kritischen Aktionärinnen und Aktionäre für sein Engagement für die Fischer der Bucht von Sepetiba und der Anwohner des Stadtteils Santa Cruz, Rio de Janeiro, die sich gegen das ThyssenKrupp-Stahlwerk in Rio zur Wehr setzen. Zudem ist er im Netzwerk der Brasilien-Solidaritätsgruppen KoBra aktiv.
Marcelo Henríquez Kries war mit seiner Mutter Ruth Kries und seinen drei älteren Geschwistern Teil des ersten Flüchtlingskontingents aus Chile, das Ende Dezember 1973 in Frankfurt am Main landete. Die Familie war geflohen, nachdem der Vater Hernán Henríquez Aravena Ende September 1973 von Militärs entführt und ermordet worden war. Nach fast vier Jahrzehnten der Straflosigkeit gab es erst im Mai 2013 erste Festnahmen im Zuge der Ermittlungen zur Ermordung seines Vaters. Marcelo Henríquez Kries hat in Chile Journalismus studiert und ist freier Journalist mit langjährigen Einsätzen als freier Mitarbeiter des Hessischen Rundfunks und als Entwicklungshelfer in Bolivien.
Miguel Castello ist Diplompsychologe und studierte an der Universidad de Chile. In Paris promovierte er als Doktor der Politikwissenschaften mit dem Schwerpunkt politischer Philosophie. In Chile und nun Paris unterrichtet er an der Universität Paris 7 Denis-Diderot Kommunikationspsychologie. Er ist nach dem Putsch geboren und war in der Studentenbewegung aktiv. Auf dem Seminar wird er sich insbesondere mit der No-Kampagne und deren Slogan „La alegría ya viene“ (Bald kommt die Freude) und ihre Folgen für die chilenische Gesellschaft nach der Diktatur auseinandersetzen. Der Spielfilm „No“, der 2012 in Deutschland in die Kinos kam, hat das ebenfalls thematisiert.
Michael Ramminger ist katholischer Theologe und Mitbegründer des Instituts für Theologie und Politik in Münster. Derzeit wirkt er bei dem internationalen Forschungsprojekt „Globalisierung, Religion und Kapitalismus“ der katholischen Universität Goiania/Brasilien mit. Er ist langjähriger Mitarbeiter der Zeitschrift „Solidaridad - Berichte und Analysen aus Chile“ sowie Herausgeber des Buches „Evangelium, Kultur und Identität“ mit Texten des chilenischen Befreiungstheologen und Soziologen Fernando Castillo.
Pavel Eichin ist als Sohn einer chilenischen Exilfamilie in Frankfurt am Main geboren. Er lebte von 1991 bis 2005 in Santiago de Chile, wo er als Toningenieur und Musikproduzent arbeitete. Seit 2005 wieder in Frankfurt studierte er hier Soziologie. In der letzten Phase des Studiums beginnt er mit Liedanalysen zu experimentieren. Zur Zeit ist er in Chile und Deutschland im Bereich der Kulturanalyse tätig.
Katja Maurer leitet die Abteilung Öffentlichkeitsarbeit bei medico international. Die ausgebildete Dolmetscherin und Übersetzerin für Russisch arbeitet seit 1983 zunächst als Journalistin und dann als Öffentlichkeitsarbeiterin. In ihrer publizistischen Tätigkeit hat sie sich immer wieder mit den Debatten um die Aufarbeitung der NS-Verbrechen in Deutschland sowie den Debatten um den juristischen wie psychosozialen Umgang mit Verbrechen gegen die Menschheit in den lateinamerikanischen Diktaturen auseinander gesetzt.