Brillen als Wahlkampfgeschenk

Die Lage der Gesundheit im brasilianischen Bundesstaat Para. Ein medico-Interview mit Dr. Nathan Kamlioth

Nathan Kamlioth arbeitet seit vielen Jahren in verschiedenen Projekten zur Gesundheitsförderung von medico international, insbesondere in Mittelamerika. Nun war er für medico über einen Monat in Para, einem der ärmsten Bundesstaaten Brasiliens. Nur der Staat im Staat, die Bergwerksgesellschaft »Vale do Rio Doce«, verfügt über alle Annehmlichkeiten des modernen Lebens. Doch hierzu haben die Bewohner, die Dr. Kamlioth traf, keinen Zugang.

Frage: Du hast in mehreren Gemeinden des MST (Bewegung der Landlosen) Fortbildungen zur Gesundheitsförderung durchgeführt. Wie sieht die Gesundheitssituation in Para aus?

Dr. Nathan Kamlioth: Die Situation ist sehr schwierig, denn die meisten Menschen sind auf die Dienste des Nationalen Gesundheitssystems (SUS) angewiesen. Dieses staatliche Gesundheitswesen, das auf dem Papier jedem Zugang zur Gesundheitsversorgung zugesteht, hat schon im reicheren Süden Brasiliens seine Defizite, aber in den Armutszonen des Nordens lässt sich kaum beschreiben, wie es den Menschen damit ergeht. Es fehlt einfach an allem. Als ich dort war, fanden gerade Kommunalwahlen statt. Die Parteien gingen auf Stimmenfang, indem sie jedem Wähler für dessen Stimme eine Gratissprechstunde schenkten. Gibst du mir deine Stimme, gebe ich dir eine Brille. So ungefähr fand dort der Wahlkampf statt. Nach den Wahlen treffen in den staatlichen Gesundheitsposten der Region nur noch einmal im Monat Medikamente ein. Die sind in zwei Tagen aufgebraucht. Die Leute wissen bereits, dass es nicht genug gibt, also horten sie die Arznei bei sich zu Hause und betreiben Selbstmedikation, was meist zur falschen Anwendung führt. Zudem gibt es kaum Ärzte in Para. Selbst wenn man ihnen die höchsten Gehälter zahlen würde - aufgrund der Armut und Gewalt will niemand in diese Region. Belem als nächste Großstadt mit Krankenhäusern auf einem hohen Niveau ist 500 Kilometer entfernt. Für die Armen ist das eine unbezahlbare Entfernung.

Was heißt das konkret?

Einmal ging ich mit einem Mädchen aus einem MST-Campamento, das seit 14 Tagen heftige Kopfschmerzen hatte, nach Eldorado de Carajas. Dort gibt es einen jungen Arzt, der seit wenigen Wochen dort arbeitet. Er saß vor dem Krankenhaus, die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen in völliger Verzweiflung. Er erzählte, dass er gerade ein Kind versorgen musste, das von einem Lastwagen überfahren worden war. Es gab keinen Anästhesisten. Der Arzt erzählte mir, dass er am Wochenende so viele schwere Stich- und Schussverletzungen hätte behandeln müssen, dass er nur noch eins wolle – verschwinden. Die Gewalt in der Region ist so extrem, dass sogar das Tragen von Motorradhelmen verboten ist, weil sie so häufig bei Diebstählen zur Tarnung verwendet werden. Der Arzt konnte dem kranken Mädchen nicht weiterhelfen, weil keine hochwertigen Diagnosegeräte vorhanden waren. Er gab ihr eine Überweisung in ein anderes Krankenhaus. Wir verbrachten Stunden damit, einen Transport für sie zu organisieren. Und auch das gelang uns nur, weil gerade die Wahlen anstanden und der Präfekt uns einen Benzingutschein für den Krankenwagen ausstellte, den der Tankstellenbesitzer nur deshalb einlöste, weil er für die Wahlen kandidierte. Ohne Wahlkampf wäre sie nie so weit gekommen.

Wie sieht die Gesundheitssituation in den MST-Ansiedlungen aus?

Es fehlen die grundlegenden Dinge. Das Wasser ist oft verschmutzt, der Müll wird nicht gut entsorgt, die hygienischen Bedingungen sind schlecht. Überall wird Brandrodung betrieben, was zu gefährlichen Atemwegserkrankungen führt. Trotzdem geht es den Menschen in den MST-Siedlungen viel besser als in den Dörfern der Region. Hier gibt es zumindest ein Minimum an sozialer Infrastruktur. Das MST ist in der Lage, politischen Druck auszuüben und die Interessensvertretung wahrzunehmen. In den MST-Campamentos gibt es engagierte Lehrer, mit denen ich Fortbildungen zur Gesundheitsförderung durchgeführt habe.

Woher kommen die Menschen, die in Para in den MST-Camps leben?

Zum größten Teil sind es ehemalige Garimpeiros, Goldschürfer und ihre Familien, die nach dem vor 20 Jahren erfolgten Schürfverbot sich nun eine neue Lebensgrundlage schaffen müssen. So wurden sie zu Landbesetzern. Die Goldgräbermentalität prägt die Menschen sehr stark. Sie sind sehr individualistisch und bereit, sich mit Gewalt zu verteidigen. Viele Menschen in der Region träumen nach wie vor davon, dass sie wieder die Erlaubnis bekommen, nach Gold zu suchen. Andere wollen von der Landwirtschaft leben. Aber sie müssen erst einmal lernen, Bauern zu werden.

Welche Gesundheitsprogramme könnten hilfreich sein?

Das MST ist eine sehr starke soziale Kraft und verfügt etwa im Bildungsbereich über Konzepte, in denen auch die Gesundheitsförderung integriert ist. Es gibt aber viel schöne Theorie, und wenig Didaktik, die die alltägliche Realität der Menschen berücksichtigt. Hier könnte man mit einfachsten Mitteln etwas erreichen. Außerdem brauchen die Menschen unbedingt Unterstützung, wenn sie auf das offizielle Gesundheitssystem angewiesen sind, sonst werden sie nicht imstande sein, ihre Rechte auch in Anspruch zu nehmen. Dies könnte über sogenannte »casas de apoio« erfolgen, in denen die Patienten kostenlos übernachten können. Die könnten auch Vertrauensleute zur Verfügung stellen, die die Menschen in die Krankenhäuser begleiten, um sicherzustellen, dass sie fair und korrekt behandelt werden. Die konkreten Erfahrungen und Informationen, die dabei gesammelt werden, könnten darüber hinaus vom MST genutzt werden, um in den kommunalen Gesundheitsräten Druck auszuüben. Das SUS muss in die Pflicht genommen werden, um seine Angebote zu verbessern.

Projektstichwort:

medico unterstützt in Brasilien verschiedene gesundheitsfördernde Maßnahmen, unter anderem die Ausbildung von indigenen Hebammen im Bundesstaat Acre. Die Unterstützung von Projekten, die sich für das Recht auf Gesundheit einsetzen, soll fortgesetzt und ausgebaut werden, insbesondere in Kooperation mit dem MST. Spenden Sie unter dem Stichwort »Brasilien«.

Veröffentlicht am 01. Dezember 2004

Jetzt spenden!