Analyse

Brasilien nach dem Putsch

Über die Hintergründe des Putsches in Brasilien. Welchen Anteil hat die Linke? Was sind mögliche Perspektiven?

1. Das Ende der Neuen Republik kann der Neuanfang der großen Debatten sein

Antonio Martins ist Gründer und Redakteur des Debattenportals und medico-Partners Outras Palavras (Andere Worte).

Jede große Niederlage sorgt für Bestürzung. Aber bestimmte Aspekte haben in den langen Monaten, die sich der Putsch in Brasilien hingezogen hat, das Gefühl der Ohnmacht verstärkt. Wie konnten ein degradiertes Parlament, rückständige Medien und dekadente Unternehmen siegen? Wohin ist das lange Bemühen des Mahnens und wohin ist das Bewusstsein von den Miseren der Diktatur nach 1964 verschwunden? Warum hat eine Gesellschaft, die sich in so vielen Prozessen der Selbstveränderung befindet, vor Abgeordneten und Senatoren kapituliert, deren moralische und intellektuelle Schwäche wiederholt deutlich wurde?

Und was kommt jetzt? Eine dunkle Phase des Rückschritts und des Terrors, wie die, die 1964 einsetzte? Die sofortige Zerstörung der Errungenschaften, die seit der Verfassung von 1988 mühsam erreicht wurden? Die Verhaftung von Lula? Die Aussetzung der Wahlen 2018 und die Konsolidierung des Putschs? Der radikale Zerfall der Träume, die 2013 von vielen geschmiedet wurden – und das frühzeitige Aus der Pläne für eine auf die Gemeinschaft ausgerichtete Gesellschaft?

Die folgenden Annahmen sind zugegebenermaßen heikel: Sie wurden im Tumult und der Erschütterung der letzten Tage aufgestellt, als sich das anbahnte, was einige nicht zu Unrecht als die letzten Atemzüge der Neuen Republik betrachten. Unsere Annahmen möchten den Putsch jedoch von einer seiner größten Stärken entzaubern, nämlich der Aura einer mysteriösen Macht, die dank der Unsicherheit in unseren öffentlichen Debatten errichtet wurde – sowohl in den alten Medien sowie bei jenen, die sich weigern, die Grenzen und Widersprüche der heute gewaltsam niedergeschlagenen Pläne von Lula zu sehen.

Der Putsch war nicht nur ein Komplott hinter den Kulissen. Ein besonderes Aufeinandertreffen von Faktoren hat ermöglicht, dass die Gesellschaft in ihrem Henker Hoffnung sah. Die Regierung Temer wird sich immer mehr abwirtschaften, aber es wird nicht möglich sein, ihn mit „Raus"-Rufen niederzuschlagen! Die Unterdrücker und die Mitläufer moralisch zu beschuldigen, mag für den Einzelnen mobilisierend sein, ist aber vergeblich. Die Demontage des Putschs und darüber hinaus die Neuformulierung der Pläne für soziale Kritik und soziale Veränderung werden eine große Anstrengung erfordern, um die Schwächen, die zur Niederlage geführt haben, zu verstehen und Wege zu finden, sie umzukehren. Hoffentlich leisten folgende Annahmen einen Beitrag dazu.

Vielleicht ist es zu früh zu behaupten, wie es als Vorreiter die Politikwissenschaftler Leonardo Avritzer und Marcos Nobre getan haben, dass die Amtsenthebung von Dilma Rousseff das „Ende der Neuen Republik” markiert. Turbulente Zeiten sind durch Umbrüche gekennzeichnet; die brasilianische Konjunktur wird in den nächsten Jahren eine Tendenz zu großer Instabilität haben; und ein vorheriger Versuch, den Pakt, der durch den ausgehandelten Fall der Diktatur unterzeichnet wurde, zu brechen (mit Collor de Mello[1]), wurde gleich zu Beginn aufgehoben. Dennoch entspricht die Definition von Avritzer Nobre präzise der Bewegung, die zum Putsch geführt hat.

Die konservativen Klassen haben die durch die Wahl von Tancredo-Sarney[2] eingefädelte Versöhnung gebrochen. Sie hatten den Weg für zivilisatorische Fortschritte und die Anerkennung sozialer Rechte eröffnet, wie sie in den Kämpfen gegen die Pläne der Militärs gefordert wurden und dann in der verfassungsgebenden Versammlung von 1988 verankert wurden. Gleichzeitig behielt sie im Wesentlichen die Privilegien, die Ungleichheit und die strukturelle Rückständigkeit Brasiliens bei: die koloniale Konzentration von Vermögen, Land und Einkommen; die Segregation in den Städten, die in der Peripherie zu führt; die exportorientierte Ausrichtung, verstärkt durch die Ausbeutung der Natur; die politische Macht, die die direkten Wahlen nur formell anerkennt, zumal eine ständig von den Eliten kontrollierte Legislative als große Privilegienhüterin agiert.

Die konservativen Klassen haben den Pakt vor allem aus zwei Gründen gebrochen. Ihre steinzeitlichen Vorurteile erlauben ihnen nicht zu verstehen, dass das von der Politik Lulas vorgeschlagene Abkommen eine seltene Möglichkeit bot, langfristig einen status quo aufrecht zu erhalten, der für sie äußerst günstig ist. Darin erwiesen sie sich als weitaus rückständiger nicht nur als die europäische Sozialdemokratie nach dem Zweiten Weltkrieg, sondern auch als die südafrikanischen Weißen in der Zeit nach Mandela.

Aber die Analyse der Gründe, die zum Putsch geführt haben, wäre falsch, wenn sie nicht auch das widrige internationale Szenarium einbeziehen würde. Seit 2008 findet auf politischer und geopolitischer Ebene der Versuch einer konservativen Erneuerung statt. Es gibt Bestrebungen, neoliberale Gedanken durchzusetzen (die noch im ersten Jahrzehnt bekämpft wurden) und die Hegemonie der Vereinigten Staaten und der Europäischen Union wiederherzustellen (die durch den Aufstieg Chinas, die Neupositionierung Russlands und, bis vor kurzem, durch das teilweise Aufbegehren Südamerikas zerfressen wurde).

Dieser äußerst aggressive Versuch einer Erneuerung erkennt die früher durch die Demokratie, durch die Menschenrechte und selbst die durch die humanitären Werte gesetzten Grenzen nicht an. Sie hatte in Südamerika die hinreichend belegte nordamerikanische Unterstützung der Staatsstreiche in Honduras und Paraguay zur Folge. Sie schließt eine allgemeine Überwachung über das Internet, Aufhebung seines Widerstandspotenzials, unerbittliche Verfolgung derer, die dieses Potenzial vermehren wollten (wie Julian Assange, Aron Schwarz, Edward Snowden oder Chelsea Manning), ein. Sie beinhaltet die Unterstützung Washingtons von Regierungen mit einer aktiven Präsenz von offen nationalsozialistischen Parteien (wie in der Ukraine), sofern sie bereit sind, vermeintlichen „Feinden“ wie Russland entgegenzutreten. Sie umfasst die Zerstörung von Nationalstaaten und die Schaffung von chaotischen Szenarien in Ländern wie dem Irak, Pakistan, Libyen, dem Jemen und Syrien.

Jeder Versuch, den brasilianischen Putsch zu verstehen, ohne diesen externen Faktor zu berücksichtigen, wäre vergeblich und kontraproduktiv. Ohne diesen ist es auch nicht möglich nachzuvollziehen, dass die New York Times und Le Monde rhetorisch die Absetzung Dilmas verurteilen, aber die Finanzmärkte, die „internationalen Investoren“ und die Agenturen für Risikobewertung sie feiern.

Noch wichtiger ist: Es würde uns eine riesengroße Chance entgehen, wenn wir die internationalen Ursachen, die den Putsch vorangetrieben haben, nicht sehen würden. Die globale konservative Offensive ist extrem verletzlich. Sie hat die alten demokratischen Institutionen zu einer Marionette gemacht. Sie hat in der ganzen Welt den Wunsch geweckt, das Konzept der Repräsentanz graduell zu überwinden und die Demokratie neu zu erfinden. Also bedeutet den Putsch zu überwinden nicht, Dilma wieder einzusetzen, sondern mit dem Finger auf den Kongress zu zeigen und für einen umfassenden Plan politischer Reformen zu kämpfen. Sind wir dazu bereit?

[1] José Sarney trat 1985 das Präsidentenamt an, in das der verstorbene Tancredo Neves gewählt worden war.

[2] Erster demokratisch gewählter Präsident Brasiliens nach 29 Jahren Diktatur, Amtszeit von 1990-1992.
 

2. Ungeachtet seiner historischen Bedeutung scheint sich das System Lula überlebt zu haben.

Auf den ersten Blick mag es unangebracht, wenn nicht gar grausam wirken, sich mit den Schwächen des Systems Lula, des sogenannten Lulismus zu befassen, noch während dieser von einer elitären Verschwörerbande aus der Regierung vertrieben wird und Luiz Inácio Lula da Silva mit juristischen Winkelzügen ins Gefängnis gebracht werden soll. Der Eindruck trügt. Zum einen ist Kritik die höchste Form der Anerkennung, die man einem Transformationsprozess zollen kann, dem man intellektuell oder emotional verbunden ist. Wer Fehler aufzeigt und zu überwinden sucht trägt dazu bei, dass Prozesse sich nicht einfach verlaufen und verloren gehen. Der Staffelstab wird weitergegeben; im notwendigen Neufang, der einst selbst Gegenstand der Kritik werden wird, entsteht der Prozess von Neuem. Zum anderen muss eine dialektische Betrachtung des Putsches über eine bloße Elitenschelte hinausgehen. Schließlich versuchen Eliten immer wieder, Regierungen zu stürzen, die ihre Vorherrschaft bedrohen. Es gilt demnach zu erkunden, warum ihnen das im konkreten Fall gelungen ist, welche Schwächen sie dabei ausgenutzt haben, was zu tun ist, um so etwas in Zukunft zu verhindern.

Da eine Bilanz des Lulismus den Rahmen dieses Artikels sprengen würde, sollen hier nur zwei seiner Wesenszüge aufgezeigt werden. Zum einen hat der Lulismus sich strukturellen Reformen verweigert und sich bemüht, die unteren Einkommensschichten in die bestehenden Verhältnisse zu integrieren, um auch sie vom Status Quo profitieren zu lassen. Zum anderen hat das System Lula – ungeachtet neuer und effizienter Formen der Mobilisierung an der Basis – auf politische Absprachen gesetzt und das politische Geschäft nach alter Manier von oben herab betrieben.

Beide Themen wurden mit Bedacht ausgewählt: Eine kritische Auseinandersetzung mit ihnen erlaubt direkte Rückschlüsse auf die Verletzlichkeit unseres Landes und zeigt auf, wie man den mit dem Putsch einhergehenden Bedrohungen widerstehen kann. Auf mittlere und lange Sicht zeichnet sich in dieser Kritik ab, wie ein neues Projekt zur Überwindung des Kapitalismus aussehen könnte.

Das Ausbleiben struktureller Reformen ist nicht auf den Lulismus beschränkt. Vielmehr handelt es sich um einen Wesenszug der neoliberalen Ordnung: Regierungen haben sich ihrem Programm bedingungslos zu unterwerfen. Bemäntelt wird dieser totalitäre Zug mit dem scheinbaren Wechsel von Regierungen. Der Abbau sozialer Rechte wurde in Ländern wie Frankreich, Italien, Spanien und Portugal von „sozialistischen“ Parteien vollzogen. Anderenorts oblag es Konservativen wie Ronald Reagan und Margaret Thatcher, die Reformen einzuleiten, die dann von scheinbar linken Regierungen unter Bill Clinton und Tony Blair unbekümmert fortgeführt wurden. Auf geopolitischer Ebene ist die Verwischung der Gegensätze noch beeindruckender: Um die Jahrtausendwende war Blair der engste Verbündete von Georg W. Bush bei dem Versuch, eine imperiale Weltordnung zu errichten, die selbst die Vereinten Nationen missachtete. Mit seinen Plänen, ganze Nationalstaaten im Namen des Kriegs gegen den Terror zu zerstören, übertrifft François Hollande, der „sozialistische“ Staatspräsident Frankreich, heute nicht selten Barack Obama.

Angesichts dieses Verwüstungsszenarios, das in Brasilien nur selten bewusst zur Kenntnis genommen wird, kommt man nicht umhin, dem Lulismus eine gewisse Kühnheit zu bescheinigen: Die zugegebenermaßen zaghafte Umverteilung von Einkommen durch das Familiengeld, die Ausweitung der Altersvorsorge und den realen Anstieg des Mindestlohns setzte ein Zeichen gegen die weltweit zunehmende soziale Spaltung. In der Außenpolitik wandte sich Brasilien Südamerika und den Schwellenländern zu, brach mit der reflexhaften Unterwürfigkeit gegenüber den Vereinigten Staaten und förderte die Einheit der Gruppe der BRICS-Staaten, der wahrscheinlich bedeutendsten geopolitischen Neuentwicklung der letzten Jahrzehnte.

Bei aller Entschlossenheit, die der Unrast und Schaffenskraft der Person Lulas entspricht, blieben die Reformen aus, die unerlässlich sind, wenn Veränderungen von Dauer sein sollen. Die Macht der Eliten blieb unangetastet: die Kontrolle der Banken über die öffentlichen Gelder, das strukturell korrupte und völlig überholte politische System, die Herrschaft einer archaischen Oligarchie über die Massenmedien, die Haushalte von Bund, Bundesstaaten und Kommunen als Selbstbedienungsläden der Bauwirtschaft, die Bequemlichkeit und Trägheit einer dekadenten Unternehmerschaft, das Ausbleiben einer zielgerichteten Reindustrialisierung, das industrielle Landwirtschaftsmodell mit seinen verheerenden Folgen für Gesellschaft und Umwelt – die Untätigkeit in all diesen Bereichen brachte den Lulismus in Bedrängnis und verurteilte ihn zum Scheitern.

Im Jahr 2013, als der alte Konsens aufgekündigt wurde, ein Teil der Öffentlichkeit aufbegehrte und eine Verbesserung der öffentlichen Dienstleistungen forderte, war der Lulismus weder fähig noch willens, in die soziale und urbane Infrastruktur zu investieren. Als sich die internationale Krise 2014 verschärfte, war der Lulismus längst zur Geisel einer Wirtschaftselite geworden, die ohne jede Gegenleistung Steuerbefreiungen einstrich. Als die Lage 2015 immer aussichtsloser wurde und das Amtsenthebungsverfahren vom Zaun gebrochen wurde, war der Lulismus zur Tatenlosigkeit verdammt: auf der einen Seite die Medien, die alles daran setzten, ihn zur Strecke zu bringen, auf der anderen die traditionelle Anhängerschaft, die sich wegen der Sparmaßnahmen von der Regierung Rousseff verraten und verkauft fühlte

Diese Schwäche, dieses Versagen gilt es zu verstehen. Damit sollte man nicht warten, bis sich die Kraft der Putschisten erschöpft hat und die Linke wieder an die Regierung kommt. Ab sofort gilt es zu tun, was in Vergessenheit geraten ist: Wir müssen wieder nachdenken über die Strukturen unseres Landes und darüber, wie wir sie verändern können. Eine neue Kultur der Linken muss sich erneut der aufregenden Aufgabe stellen, eine gemeinsame Zukunft zu entwerfen. Denn das ist während der vergangenen 13 Jahre – bei all dem Pragmatismus, den Rechenexempeln in Wahlkampfzeiten und den Absprachen hinter verschlossenen Türen – eindeutig zu kurz gekommen.

Es ist an der Zeit, wieder ungewöhnliche Fragen zu stellen. Wie schafft man ein hochwertiges, postindustrielles Bildungssystem, mit dem die brasilianische Bevölkerung auf die Produktion immaterieller Güter vorbereitet wird? Wie kann man die soziale Spaltung in den Städten überwinden und sicherstellen, dass auch Wohngebiete am Stadtrand erschlossen, an die Kanalisation und das Verkehrsnetz angebunden werden? Wie können wir das öffentliche Gesundheitssystem reformieren, dabei die flächendeckende Gesundheitsversorgung und die großen Fortschritte im Bereich Prävention beibehalten und die Versorgung in Krankenhäusern verbessern statt weiterhin private Zusatzversicherungen zu subventionieren? Wie schaffen wir es, unsere Energiewirtschaft umzubauen, den enormen Rückstand bei den sauberen Energieträgern aufzuholen und die dezentrale Erzeugung zu fördern? Wie schützen wir das Amazonasgebiet und seine 30 Mio. Einwohner, die dort im Einklang mit der Natur leben? Wie kann unser Steuersystem zur Umverteilung von Einkommen beitragen, Privilegien abbauen und ein Land für Alle erschaffen?

Fragen über Fragen, unbequem und faszinierend zugleich. Der Verlust der Fähigkeit, solche Fragen zu stellen, ist ein tragischer Rückschritt, der mit der Institutionalisierung der Linken einhergeht. In den 25 Jahren zwischen 1977, als die Demonstrationen gegen die Diktatur wieder aufgenommen wurden, und 2002, als Lula zum ersten Mal zum Präsidenten gewählt wurde, war das noch anders. Die eingehende Analyse des Projekts des Militärs, der sich die alternative Presse, manche Wissenschaftler und Institute selbst in den finstersten Jahren der Repression gewidmet hatten, nutzten soziale Bewegungen als Nährboden zur Entwicklung ihrer alternativen Modelle.

Paradigmatisch ist das international bekannte öffentliche Gesundheitssystem SUS. Seine Ursprünge liegen in der Zeit des Militärregimes. Doch schon auf dem ersten Seminar zur nationalen Gesundheit, das 1979 von der Regierung unter General Figueiredo einberufen wurde, setzte sich die Reformposition der Bewegung für öffentliche Gesundheit durch. Die Prinzipien des SUS wurden auf der 8. Nationalen Gesundheitskonferenz definiert, die 1986 unter der Regierung Sarney stattfand. Auf massiven Druck der sozialen Bewegungen regelte die Verfassung von 1988 die Bereitstellung der erforderlichen Mittel. Und ausgerechnet unter Staatspräsident Collor de Mello wurde 1990 das ausführende Bundesgesetz verabschiedet. Das Beispiel zeigt, dass soziale Errungenschaften nicht notwendigerweise eine linke Regierung voraussetzen. Das Bewusstsein und die Mobilisierung der Bevölkerung vorausgesetzt sind sie auch unter konservativen Regierungen möglich.

1989 gab die Kandidatur Lulas für das Staatspräsidentenamt der Entwicklung eines neuen Projekts für Brasilien einen neuen Impuls. Der Kandidat und die sozialen Bewegungen gingen eine Symbiose ein. Lula fand uneingeschränkte Unterstützung und stellte im Gegenzug sein 13-Punkte-Programm vor, das sich wie eine Sammlung der alternativen Modelle der sozialen Bewegungen liest. Damals, zu Beginn des Neoliberalismus, der nach der Wahl Collor de Mellos Einzug hielt, hätte das 13-Punkte-Programm Brasilien zu einer echten Alternative werden lassen können. Und über Jahre galt das Programm als wegweisend für ein alternatives Projekt.

Ein Jahrzehnt später, mitten in der neoliberalen Periode, beginnt wenngleich weniger öffentlichkeitswirksam erneut die Suche nach einem linken Weg: 1997 trafen sich etwa 300 Vertreter sozialer Bewegungen zu einer „Beratung des Volkes“, um über das Handeln der Regierungen Collor, Franco und Cardoso und ein alternatives Projekt für Brasilien zu beratschlagen. 1998 flossen die Ergebnisse in den Sammelband „Die brasilianische Option“ ein, der in Teilen bis heute aktuell ist.

Als Lula im Jahr 2002 an die Macht kam, hätte diese programmatische Arbeit verstärkt werden müssen. Paradoxerweise kam sie zum Erliegen. Die erste Schwäche – der mangelnde Einsatz für strukturellen Reformen – wird durch eine zweite noch verstärkt: Die Arbeiterpartei PT und der Lulismus machten es sich im Staatsapparat bequem und wurden von diesem verschlungen. Schnell waren sie vergessen: die eigene rebellische Herkunft und die enge Anbindung an die sozialen Bewegungen, die originellen und einzigartigen Modelle, die in den Jahren zuvor unter linken Regierungen in Kommunen und Bundesstaaten entstanden waren. Selbst der sogenannte „Bürgerhaushalt“ wurde ab 2003 zu Grabe getragen.

Beide Schwächen verstärkten sich gegenseitig: Warum sollte man Strukturen reformieren, wenn dazu die Struktur der Macht, die man endlich errungen hatte, zerstört werden müsste? Wie soll man die Hürden eines ultrakonservativen politischen Systems überwinden, wenn man darauf verzichtet, die archaischen Grundfeste eines Landes zu erschüttern, denen Parlament und Gerichte verpflichtet sind?

Auf die zweite Schwäche wird im folgenden Teil näher eingegangen. Festzuhalten bleibt vorerst der quälende Widerspruch: Je pragmatischer sich der Lulismus in Brasilien gebärdete, umso weniger kam er als Alternative in Frage. Fast scheint es, als habe die Elite dem Lulismus vorgetäuscht, ihn anzunehmen, ihm dann die Krallen gezogen, nur um ihn dann wehr- und schutzlos zur Schlachtbank zu tragen. In manchen Ländern der Welt, denken wir nur an die Vereinigten Staaten und Großbritannien, sind traditionelle Mitte-Links-Parteien von Politikern wie Bernie Sanders und Jeremy Corbyn mit dem Aufruf, entschlossen gegen soziales Unrecht vorzugehen, zu neuem Leben erweckt worden.

Wurde die althergebrachte Logik der Mäßigung und der Angleichung politischen Handelns dadurch verändert? Und was könnte eine solche Veränderung in Brasilien auslösen?
 

3. Die Lage schlägt um. Demonstrationen gegen den Putsch und für den Abtritt von Michel Temer in ganz Brasilien.

Die aktuellen Ereignisse wirken geradezu surreal. Doch wenn die alte Politik in der Krise versinkt, wird bis dato Unvorstellbares nicht selten real – nicht zuletzt in einem Land wie Brasilien. Nur eine Woche nach dem Staatsstreich hat sich die Lage in São Paulo gedreht. Nur wenige Häuserblocks von der Stelle entfernt, an der sich im März der Hass der Massen auf die Demokratie entladen hatte, kamen am 4. September ganz andere Stimmen zu Gehör. Ein einfacher Post in den sozialen Medien reichte aus, 20.000 Menschen auf dem Platz vor der Kathedrale zu versammeln. Der Demonstrationszug macht Halt vor dem Büro der Bundesregierung.

Seit jenem Sonntag, dem 04. September, braut sich ein Sturm zusammen: Mehr als 100.000 Menschen missachteten das Demonstrationsverbot der Polizei und und gingen gegen die Putschisten auf die Straße. Am 7. September, dem brasilianischen Unabhängigkeitstag, erreichte der Protest alle 26 Bundesstaaten und die Hauptstadt Brasília. Auch bei seinen rein repräsentativen Auftritten beim Unabhängigkeitsumzug in Brasília und der Eröffnung der Paralympischen Spiele  im Maracanã-Stadion wurde der unrechtmäßige Staatspräsident am 7. September ausgepfiffen. Damit ist eine Richtung vorgegeben: In den kommenden Tagen und Wochen kann die Regierung durch neue Demonstrationen weiter unter Druck geraten.

Die Demonstrationen gegen den unbeliebten Präsidenten beginnen, das Lager seiner Unterstützer zu spalten und erschweren die Umsetzung der angekündigten Gegenreformen. Die angekündigte „Rentenreform“ wackelt bereits: Hunderte von Abgeordneten auf Bundesebene, die bei den anstehenden Kommunalwahlen antreten wollen, drängen die Regierung, das Gesetz zur Erhöhung des Renteneintrittsalters erst nach den Wahlen einzubringen. Anderenfalls fürchten sie, vom Wahlvolk abgestraft zu werden.

Der mangelnde Rückhalt der Regierung – bis vor kurzem noch reine Spekulation – wird zu einer realen Bedrohung. Selbst Expräsident Cardoso, eine Art Vordenker des konservativen Lagers, wurde aufgeboten, um einen Warnschuss abzugeben. In einem Interview äußerte er sich äußerst abschätzig über die schwache Regierung Temer. Eine Brückenregierung für den Übergang sei das nicht. Eher ein morscher Steg. Dennoch rief Cardoso die Eliten dazu auf, die Regierung zu stützen, schließlich wolle man ja nicht ins Wasser fallen. Der Steg sei nun mal die einzige Möglichkeit, ans andere Ufer zu gelangen.

Auf einmal ist alles wieder offen. Werden die bürgerlichen Freiheiten faschistoiden Angriffen ausgesetzt? Wird Temer zurücktreten müssen? Werden Neuwahlen ausgerufen? Diese und viele andere Entwicklungen sind heute wieder denkbar. Die unmittelbare Zukunft ist wieder offen: Was man tut und wie man handelt ist nicht mehr egal. In solchen Momenten sind unbequeme Thesen wichtiger denn je. Zur entscheidenden Frage der Demokratie seien folgende Behauptungen erlaubt:

1. Als die institutionelle Linke in Brasilien die Regierung übernahm, arrangierte sie sich mit der Macht und erblindete schlagartig. Zu einer Zeit, in der die repräsentative Demokratie weltweit in die Krise geraten war, in der Versuche unternommen wurden, die Demokratie neu zu erfinden, ließ sich die institutionelle Linke in Brasilien in das immer enger werdende Korsett des brasilianischen Parlamentarismus zwängen.

2. Der Sturz des Lulismus ist auchFolge dieses Verfalls. Die Eliten hatten nichts unversucht gelassen, sich des Lulismus zu entledigen. Den Garaus machten sie ihm aber erst, als sich Präsidentin Rousseff in ihrer zweiten Amtszeit dem dreisten System unterwarf und die über dreißig Jahrzehnte gewachsene Unterstützung durch breite Bevölkerungsschichten über Bord warf.

3. Nach dem Putsch ist die Lage undurchschaubar und voller Gefahren. Zugleich birgt sie eine seltene Chance: Ob es gelingen kann, den Lulismus zu überwinden und zu übertreffen, sein Vermächtnis und seine Errungenschaften zu achten, mit ihm im Gespräch zu bleiben und doch eine neue postkapitalistische Linke zu schaffen?

Die ersten beiden Thesen genauer auszuführen mangelt es an Zeit. Zur ersten These nur so viel: Um die Jahrtausendwende erfuhr die Arbeiterpartei PT international Beachtung, weil sie als Regierungspartei in Kommunen und Bundesstaaten innovative, gegen die institutionelle Verkrustung gerichtete Modelle anwendete. Der Bürgerhaushalt, die Beteiligung der Bürger an der Erstellung der öffentlichen Haushalte, war wenngleich nicht das einzige so doch das bemerkenswerteste Modell dieser Art.  Es spricht Bände, dass der Bürgerhaushalt auf Bundesebene keine Beachtung fand. Noch schwerer wiegt, dass er in den Bundesstaaten und Kommunen, allen voran in seinem Ursprungsort Porto Alegre, zu Grabe getragen wurde.

Die zweite These führt uns zu den Demonstrationen des Jahres 2013. Trotz der weitgehenden Zugeständnisse an das herrschende System und des Verzichts auf strukturelle Reformen wäre es 2013 noch möglich gewesen, das Ruder herumzureißen. Angesichts der Massen, die für bessere öffentliche Dienstleistungen demonstrierten und das Ausbluten der Demokratie beklagten, hätte sich der Lulismus weiterentwickeln können, wenn er nur bereit gewesen wäre, seine Beziehung zur Macht zu hinterfragen. Dieser Chance war sich die Regierung durchaus bewusst. Das zeigen die Stellungnahmen Dilma Rousseffs und ihr Vorschlag, eine Volksabstimmung über das politische System abzuhalten und eine verfassunggebende Versammlung einzuberufen. Kaum hatte das konservative Lager mit der ihm eigenen Überheblichkeit abgewunken, gab auch die Regierung klein bei. Noch schien sie zu hoffen, das zerrüttete Verhältnis zur Bevölkerung ließe sich kitten. Als ab 2015 die Forderung nach einem Amtsenthebungsverfahren aufkam, begriff die Regierung, gerade noch dem Druck der Straße entronnen, dass die Rechte die Menschen auf die Straße bringen würde, um endgültig mit dem Lulismus abzurechnen.

Besonders spannend ist die dritte These: Da die Ereignisse nicht abgeschlossen sind, kann man ihren Lauf ändern. Besonders auffallend bei den Demonstrationen der letzten Tage und Wochen ist, dass sie zahlreicher und stärker werden, obwohl die institutionelle Linke nicht dabei ist. Parteien und Gewerkschaftsverbände sind so gut wie gar nicht zu sehen. Zehntausende rufen sich selbst zu Demonstrationen auf. Welche Folgen kann ein solcher Prozess auf lange Sicht haben, wenn man an eine Erneuerung der Linken denkt?

In den kommenden Tagen gilt es, die Demonstrationen zu stärken. Das Ziel ist der Sturz der illegitimen Regierung. Damit wäre ein politischer Sturm entfesselt, der die Kraft besitzt, das Alte von der Landkarte zu fegen. Ganz gleich wie die Geschichte ausgeht, die Lage bleibt verzwickt: Wie schaffen wir politische Strukturen, die über das repräsentative Modell hinausgehen und die Demokratie neu erfinden. Und wie treiben wir zugleich den Kampf für strukturelle Reformen voran?

Die Frage stellt sich überall auf der Welt. Eine Patentlösung gibt es nicht. In Ländern wie Griechenland oder Spanien setzt man vorläufig auf Parteien mit Bewegungscharakter wie Syriza und Podemos. In Großbritannien und den Vereinigten Staaten entwickeln die traditionellen Linksparteien neue Bindekraft, wobei sich ihre Forderungen radikalisieren, die Führungsebene an Glaubwürdigkeit verliert und Außenseiter wie Jeremy Corbin und, weniger bedeutend, Bernie Sanders die Bühne betreten.

Welche Wege werden sich in Brasilien auftun? Wie wäre es, wenn wir nach den „Temer Raus!“-Rufen in ganz Brasilien Aktionsgruppen gegen den Putsch gründeten? Könnten solche Gruppen in der Zeit zwischen den Demonstrationen dafür sorgen, dass der Kampf für die Rechte, dafür, dass ein anderes Land möglich wird, nicht zum Erliegen kommt? Wie wäre es, wenn wir uns in solchen Gruppen mit der Krise Brasiliens befassten und Alternativen entwickelten? Und wie wäre es, wenn die Gruppen Wurzeln schlügen und mit den neuen Spielarten der Politik in Kontakt kämen, die überall wie Pilze aus dem Boden schießen und uns oft so wenig „rational“ erscheinen? Was würde geschehen, wenn die Ränder der Gesellschaft, die sich in der aktuellen Krise noch zurückhalten, mitmachen?

Mit Dank an Graziela Marcheti für den Gedankenaustausch.
 

4. Das Ergebnis der Kommunalwahlen in Brasilien - eine andere Analyse.

Vor wenigen Montagen haben politische Kräfte in Brasilien eine illegitime Regierung an die Macht geputscht. Bei den Kommunalwahlen haben sie am 2. Oktober einen flächendeckenden Sieg eingefahren. Die Analyse der Wahlergebnisse lässt unterschiedliche Schlüsse zu.

In Zukunft stellen die Parteien PMDB und PSDB, die den Putsch wesentlich betrieben haben, in 1.028 bzw. 793 der 5.570 brasilianischen Kommunen das Stadtoberhaupt. Die Zahl der Bürgermeister der Arbeiterpartei PT, die schon 2012 Verluste erlitten hatte, fiel um mehr als die Hälfte auf nur noch 256.

Besonders schwer wiegt, dass die PT in den Hauptstädten der Bundesstaaten und Städten mit mehr als 200.000 Stimmberechtigten weiter abgestürzt ist. In diesen 93 Städten, in denen 40% der brasilianischen Wahlberechtigten leben, liegt nun die PSDB vorn.

Verloren hat die PT auch in ihren traditionelle Hochburgen, in denen sie über Jahrzehnte den Rückhalt der Gesellschaft genoss: In der Industrieregion ABC und im Großraum São Paulo erreichten die Kandidaten der PT nur in Santo André und Mauá die Stichwahl. In São Paulo schnitt die PT so schlecht ab wie seit 20 Jahren nicht mehr. Im Nordosten, der Hochburg der PT seit Lulas Amtsantritt im Jahr 2002, wird die Partei nur in Recife zum zweiten Wahlgang antreten.

Währenddessen darf sich Geraldo Alckmin, Gouverneur des Bundesstaats São Paulo und konservativer Politiker der alten Garde, als Wahlsieger fühlen. In der Stadt São Paulo gelang es ihm bereits im ersten Wahlgang, einen nahezu unbekannten Millionär namens João Dória, der sich als Außenseiter und Kämpfer gegen die „alte Politik“ gebärdete, ins Rathaus einziehen zu lassen.

Seit 2013 waren manche Experten davon ausgegangen, dass linke Kräfte von den Verlusten der PT profitieren könnten. Das Gegenteil ist der Fall: Die verfassten Parteien wie PSOL und PCdoB gewannen nicht entscheidend hinzu; neue Gruppierungen nach Art der spanischen „Podemos“ konnten keinen nennenswerten Zulauf verzeichnen.

Nach den vernichtenden Wahlergebnissen für die Linke verkünden Experten wie Gaudêncio Torquato, einer der engsten Berater des Interimspräsidenten Michel Temer, bereits den „Tod“ der PT, dieser „radikalen, polarisierenden, auf Konflikt setzenden Partei“. Torquato räumt ein, die Linke könne überleben, wenn sie endlich normal wird. Wenn sie endlich aufhört, sich gegen die Ungleichheit und die Verdrängungsmechanismen der brasilianischen Gesellschaft aufzulehnen und sich mit dem für die kommenden Monate angekündigten, rückwärtsgewandten "Reformpaket“ abfindet.

In den kommenden Tagen werden wir überall zu hören bekommen, das Wahlergebnis beweise ein für alle Mal, dass es gar keinen Putsch gegeben habe. Schließlich habe die Bevölkerung diejenigen gewählt, die fälschlicherweise als Putschisten beschimpft würden. Der Volkswille habe all jene Lügen gestraft, die sich als Opfer eines Putsches fühlen und mehr Demokratie fordern. Diejenigen, die Dilma Rousseff gestürzt haben, seien nun legitimiert, „vernünftige und unverzichtbare“ Maßnahmen zu ergreifen. Oder zweifelt hier noch jemand ernsthaft daran, dass öffentliche Investitionen zurückzufahren, Rentenansprüche abzubauen und Arbeitnehmerrechte zu beseitigen sind?

Dieses Gedankenkonstrukt wird auf eine widrige Wirklichkeit treffen. Denn seit Jahren erlebt Brasilien eine Abfolge von sozialen Bewegungen und Verschiebungen, die sich diametral gegen die Programme wenden, die scheinbar siegreich aus Wahlen hervorgegangen sind. Die Ausdrucksformen sind unendlich vielfältig: Kulturprojekte am Stadtrand, Slutwalks gegen die Verharmlosung sexueller Gewalt, kostenlose Kurse zur Vorbereitung auf die Zulassungsprüfungen der Universitäten, die Bewegung für die Freigabe von Cannabis, Flash Mobs gegen die soziale Apartheid in Einkaufszentren, der so genannte Frauenfrühling und der neue Feminismus der Afrobrasilianerinnen, die Forderung einer grundlegenden Reform der Sekundarschulen. Der Erfindungsreichtum und die Kreativität sind schier grenzenlos. Dabei ist der gemeinsame Nenner, die Richtung klar: Es geht um mehr Rechte und weniger Kontrolle in einer Gesellschaft, die sich nicht mehr der Logik reicher weißer Männer unterwerfen will. Wer behauptet, der Urnengang vom 2. Oktober legitimierte die Verhältnisse, wird von der Straße widerlegt werden.

Wie lässt sich dieser Widerspruch erklären? Versuchen wir es mit fünf Argumenten jenseits der üblichen Deutungsmuster:

  • Der Niedergang der klassischen Linken ist nicht etwa dem sinnlosen Widerstand gegen das sinnhafte neoliberale Denken geschuldet. Vielmehr ist die Linke in Brasilien eine historische Falle getappt: Ihre Erfolge haben das soziale Gefüge Brasiliens verändert. Dabei hat sie sich Fesseln anlegen lassen, mit denen wir uns in einem früheren Beitrag befasst haben: Strukturelle Reformen wurden unterlassen; zugleich ließ man sich vom Staatsapparat einfangen, demobilisierte die Bevölkerung und verzichtete auf den Druck, den diese auf die staatlichen Institutionen ausüben kann.
  • In der Bundesregierung in Brasília war die Linke so lange geduldet, wie sie die Pfründe der Finanzoligarchie und Großunternehmen und die Macht der traditionellen Parteien unangetastet ließ. In der Mitte der ersten Amtszeit Dilma Rousseffs geriet dieser Konsens ins Wanken: Die Eliten, mit denen die Regierung bis dato verbunden gewesen war, wandten sich gegen sie: Sie wehrten sich gegen die Senkung der Zinssätze, verweigerten Investitionen, brachten die Rousseff unterstützenden Parteien gegen die Präsidentin auf und sprengten den Staatshaushalt durch teure Gesetzesvorhaben. Schnell wurde deutlich, dass die Regierung leichte Beute sein würde. Sie war schwach und anfällig, gab Erpressungsversuchen nach und machte immer weitergehende Zugeständnisse. Strukturen, wie das Medienoligopol, die die Regierung nun zu erdrücken begannen, hatte man unangetastet gelassen. Gegendruck von außen konnte die Regierung nicht mehr aufbauen. Von dieser offensichtlichen Schwäche zum Putsch war der Weg nicht weit.
  • Die institutionelle Linke hatte sich in der Vergangenheit auf die Unterstützung breiter Bevölkerungskreise verlassen können. Da sie es versäumte, dieser Gegenmacht Struktur zu verleihen, blieb dieser Rückhalt jedoch formlos und schwach und den Manipulationen der Medien ausgeliefert. So konnte die Linke der selektiven Verfolgung, die die PT im Zuge des Schmiergeldskandals um den Erdölkonzern Petrobras ausgesetzt war, nichts entgegensetzen. Politisch bedeutende Programme, wie die Quotenregelung an den Universitäten, von der zehntausende Afrobrasilianer profitierten, wurden mit der Zeit nicht mehr als soziale Errungenschaft sondern als persönlicher Verdienst Einzelner verstanden. Indem sich die Arbeiterpartei von ihrer Basis entfernte, sie politisch nicht mehr mobilisieren konnte, verlor sie auch ihre Wählerschaft. Das zeigen nicht zuletzt die herben Stimmenverluste im Industriegürtel von São Paulo und in den Großstädten Nordostbrasiliens.
  • Es kommt noch schlimmer, und daher sprechen wir von einer historischen Falle:Da die Linke bis kurz vor den Kommunalwahlen an der Macht gewesen war, sich dem Druck und den Erpressungen feige gebeugt hatte, ihr zur eigenen Verteidigung nicht mehr eingefallen war, als immer unkritischer traditionelle Politik zu betreiben, konnte sie sich nicht an die Spitze des Protests gegen die herrschenden Verhältnisse stellen.Darin bricht sich ein bislang weitgehend unerforschtes Phänomen Bahn. Ursächlich sind zwei entgegengesetzte Phänomene: Auf der einen Seite die „Indignados“ in Spanien und die Gründung von „Podemos“, die Bewegung „Occupy Wallstreet“ und Kandidaturen wie die von Bernie Sanders oder Jeremy Corbin. Auf der anderen der Brexit, Marine Le Pen in Frankreich, die Ablehnung des Friedensabkommens zwischen dem kolumbianischen Staat und den FARC.
  • In früheren Zeiten war die Arbeiterpartei rebellisch. Man rühmte sich damit „ganz anders zu sein, als all die Anderen“. Heute gilt die Partei vielen als Teil des politischen Establishments, manchen gar als ihr schlimmster Auswuchs.Bei den Kommunalwahlen am 2. Oktober haben in Brasilien so viele Menschen gegen das Establishment gestimmt wie nie zuvor. Eine eingehende Analyse des Wahlverhaltens würde den Rahmen dieses Artikels sprengen. Einige Thesen seien jedoch erlaubt: Noch nie haben so viele Menschen - trotz Wahlpflicht - niemanden gewählt: In den Hauptstädten zehn brasilianischer Bundesstaaten übertrifft die die Summe der Enthaltungen, der leer und ungültig abgegebenen Stimmzettel die Stimmenzahl des erstplatzierten Kandidaten.

Viele Menschen gaben ihre Stimme Kandidaten wie João Dória, dem neuen Bürgermeister von São Paulo. Dieser Kandidatentyp scheint das Ergebnis eines ausgeklügelten Plans zu sein: Noch nie war Dória bei Wahlen angetreten. Anfangs lag er in den Umfragen bei nur 5 % und entging so der Auseinandersetzung mit den politischen Gegnern. Er stellte sich nicht als Politiker sondern als Manager und erfolgreicher Selfmademan dar. Auch wenn auf der Hand liegt, dass er ein Blender, ja ein falscher Fuffziger ist, beeindruckte er die Wählerschaft in einem kurzen, langweiligen und faden Wahlkampf.

„Wer seiner Tragödie ins Auge sieht, hat sie schon halb überwunden“, schreib der Dramaturg Oduvaldo Vianna Filho kurz nach dem Militärputsch 1964. Das Ergebnis der Kommunalwahlen vom 2. Oktober, ein echtes 1:7, bedeutet nicht das Ende des Widerstands gegen den Putsch und ist auch nicht das Ende der Opposition gegen seine politischen Schandtaten. Der Kampf gegen das brasilianische System von „Herrenhaus und Sklavenhütte“, für die Überwindung der Ungleichheit ist aktueller denn je. Auf der anderen Seite geht mit Niederlage der Linken ein Projekt unter, dem wir alle - auf die ein oder anderer Art und Weise - verbunden waren.

Sind wir kühn genug, dieses Projekt zu überwinden, darüber hinauszugehen? Und warum nur scheint uns das in Brasilien so schwer zu sein?
 

Übersetzung Teil 1: Ione Maria Schneider
Übersetzung Teile 2-4: Marten Henschel

Veröffentlicht am 10. Oktober 2016

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