Brasilianischer Frühling im Herbst?

Stimmen unserer brasilianischen Partner

Obwohl es scheint, als würden die großen Demonstrationen in Brasilien langsam abklingen, ist bereits jetzt nichts mehr wie es war. Die Rahmenbedingungen, unter denen politische Diskussion stattfindet, haben sich völlig verändert. Unter den Initiativen, die mit den starken sozialen Bewegungen verknüpft sind, ist eine rege Debatte um die Proteste ausgebrochen. Wir stellen drei Debattenbeiträge mit drei unterschiedlichen Schwerpunkten vor.

Joao Pedro Stedile (MST): Die Proteste sind Ausdruck einer urbanen Krise

Die Bewegung der landlosen Arbeiter (MST), mit der medico seit vielen Jahren kooperiert, ist eine der größten sozialen Bewegungen Lateinamerikas. Dennoch haben die Regierungen unter den linken brasilianischen Präsidenten Lula da Silva und jetzt Dilma Roussef im Bereich der Landreform keine Forderungen des MST realisiert. Im Gegenteil: die neu eingeführten Sozialprogramme werden wesentlich aus den Überschüssen der enormen Gewinne im Bereich des Agrobusiness finanziert. Und der Verstädterungsprozess wurde unter diesen beiden Präsidenten fast abgeschlossen. In vier Jahrzehnten wurde aus einem wesentlich durch die Landbevölkerung geprägten Brasilien ein Land der Megacities. Heute leben 80 Prozent der Brasilianerinnen und Brasilianer in den Städten. Der nationale Koordinator des MST, Joao Pedro Stedile, sieht deshalb auch die Hauptursache für die Proteste in einer „urbanen Krise“.

Stedile: „Die Menschen in den großen Städten leben in der Hölle. Sie verlieren drei bis vier Stunden im Straßenverkehr. Zeit, die sie eigentlich mit ihrer Familie oder für kulturelle Aktivitäten bräuchten. Hinzu kommt eine enorme Immobilienspekulation. Die Mieten haben sich in den letzten drei Jahren verdreifacht. Außerdem haben viele Programme der Regierung den Urbanisierungsprozess beschleunigt, wie das Programm „Mein Haus – Mein Leben“. Der Verkauf von importierten Autos ist stark angestiegen, doch in die Infrastruktur wurde nicht investiert. Das hat den Stadtverkehr in ein Chaos verwandelt.

Hinzu kommt die sehr schlechte Qualität der öffentlichen Dienste, besonders im Bereich Gesundheit und Bildung. Die meisten Schüler verlassen die Schule, ohne dass sie auch nur einen Aufsatz schreiben können. Die höhere Bildung hat sich in ein Geschäft verwandelt, dass gegen Kredit Diplome verkauft. Für die Jugend gibt es keine Möglichkeit der politischen Teilhabe, denn dafür muss man bezahlen. Ein Abgeordneter kostet eine Million Reais. Die Kapitalisten bezahlen und die Politiker gehorchen. Von dieser bürgerlichen, kommerziellen Form des Politikmachens hat die Jugend die Nase voll. Das schlimme ist, dass die institutionalisierten linken Parteien, die an der Macht sind, in diesem System alt und bürokratisch geworden sind. Was jetzt kommt wissen wir nicht. Doch wir müssen uns unbedingt an der Bewegung beteiligen und mitdiskutieren. Wer da nicht mitmacht, verpasst eine historische Chance.“

Ana Garcia (PACS): Auf den Straßen herrscht Ausnahmezustand

Die KollegInnen von PACS (Institut für Alternativen in Südamerika), mit denen wir im Zusammenhang mit den Umwelt- und Gesundheitsschäden des Stahlwerks TKSCA, das zum Großteil Thyssen-Krupp gehört, zusammenarbeiten, beteiligen sich aktiv an den Protesten. Ihre ausführliche Beschreibung der Ereignisse in Rio wurden auf der Website des Portals Amerika 21 veröffentlicht. Hier Auszüge aus einem Artikel, in dem Ana Garcia die Zusammensetzung der Proteste analysiert und ihrem eigenen Wunsch nach mehr Demokratie Ausdruck verleiht.

Ana Garcia: „Auf den Straßen ist eine Mischung von allem: Provokateure, die mit der Polizei verbunden sind, reiche Mädchen und Typen in Anzügen, und eine große Menge von jungen Menschen, die niemals zuvor an einer politischen Aktivität teilgenommen haben. Zum Beispiel meine Studenten, die etwa zwanzig Jahre alt sind und in der Amtszeit von Lula politisch geprägt wurden, demonstrieren und diskutieren Politik zum ersten Mal. Ich denke, dies ist sehr positiv. Gleichzeitig wächst eine merkwürdige Sache: eine "antipolitische Partei", eine reaktionäre und faschistische Stimmung. Eine Stimmung, die bereits begonnen hat, sich in faschistischen Gruppen zu konzentrieren, verbunden mit der Polizei, die Aktivisten auf den Straßen attackieren.

Ein Ausnahmezustand übernimmt die Straßen und es wächst die Angst vor einem Putsch. Meiner Meinung nach ist ein Putsch unwahrscheinlich. Die rechten Parteien haben keine starke Führungsfigur, um Dilma zu ersetzen. Aber die Linke ist nicht stark genug, um die Proteste, so wie sie sich derzeit entwickelt haben, anzuführen und den erforderlichen Druck aufzubauen, um die Dilma-Regierung in Richtung einer radikalen Demokratisierung zu bewegen. Wir brauchen eine radikaldemokratische Agenda gegen monopolkapitalistische Strukturen des Staates und der Wirtschaft Brasiliens, gegen große nationale und transnationale Konzerne, die den öffentlichen Transport und die öffentliche Dienstleistungen kontrollieren und die dabei große Summen öffentlicher Gelder unter dem Mantel der Fußballweltmeisterschaft 2014 einstecken und korrupte Politiker kaufen.“

Lenauro Lobato (Gesundheitsaktivist): Die Forderung nach sozialen Rechten ist klar, der Weg dorthin nicht

Die Proteste haben auch im Bereich der Gesundheitsbewegung große Debatten ausgelöst. Die Gesundheitsbewegung ist in Brasilien nach wie vor sehr gut organisiert, weil es ihr beim Sturz der Militärdiktatur gelang das Recht auf Gesundheit in den Verfassungsrang zu heben. So entstand 1988 das öffentliche kostenlose Gesundheitssystem SUS (Sistema Unica de Saude – wörtlich etwa: einheitliches Gesundheitswesen) mit starken partizipativen Elementen. Nach dem Vorbild des NHS in Großbritannien sollte es kostenlose Gesundheitsversorgung für alle sicher stellen. Tatsächlich ist es in Brasilien nie zu einem einheitlichen Gesundheitswesen für alle gekommen. Die demonstrierende Mittelschicht ist zum großen Teil privat versichert. Die privaten Gesundheitsdienste sind teuer und das kostenlose SUS häufig sehr schlecht. Die Frustration darüber spiegelt sich in den Debatten unter den Gesundheitsaktivisten wider, zum Beispiel in der Analyse von Lenauro Lobato, Gesundheitsaktivist und Professor an der Landesuniversität von Rio de Janeiro.

Lenaura Lobato: „Zu den wichtigsten Errungenschaften der Demokratie in Brasilien gehören die sozialen Rechte. Heute erkennt die Gesellschaft an, dass Gesundheit, Bildung, Transport etc. Bürgerrechte sind. Die Bewegung auf der Straße fordert die Verwirklichung dieser Rechte. Die Forderung ist klar, der Weg zu ihrer Verwirklichung nicht. Gesundheit ist in politischer und institutioneller Hinsicht sehr komplex. Die Dienstleistungen in den Polikliniken und Krankenhäusern sind nur ein Teil eines Systems, in dem die unterschiedlichsten Interessen aufeinandertreffen. Die Bevölkerung hat davon keine Ahnung und wird nicht darüber informiert. Niemand spricht beispielsweise von der Rolle der Dienstleistungsindustrie. Und erst Recht nicht von den großen Unternehmen, auch den Banken, die im Gesundheitswesen neue Geschäftsmöglichkeiten sehen.

Die Bevölkerung versteht, dass man sich auf private und betriebliche Versicherungen nicht verlassen kann, aber sie hat auch kein Vertrauen darauf, dass ein öffentliches Gesundheitssystem machbar wäre. Wir haben die Privatisierung der öffentlichen Dienste skandalisiert. Aber es ist uns nicht gelungen der Bevölkerung zu vermitteln, dass eine öffentliche und kostenlose Gesundheitsversorgung wirksamer ist, dass sie eine humane und gute Behandlung garantieren kann.“

Veröffentlicht am 01. Juli 2013

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