Israel/Palästina

Zuspitzung im Westjordanland

Die Gewaltspirale aus Besatzung und Widerstand führt zum Aufkommen neuer militanter Gruppen.

Von Chris Whitman

Schon 2022 war für Palästinenser:innen im Westjordanland das tödlichste Jahr, seit die Vereinten Nationen 2005 mit der systematischen Zählung palästinensischer Todesopfer begonnen haben. Insgesamt wurden dort im vergangenen Jahr 154 Palästinenser:innen getötet, davon 146 von bewaffneten israelischen Kräften und fünf durch israelische Zivilisten, das heißt in der Regel durch Siedler. In drei Fällen ist unklar, ob Siedler oder Besatzungsstreitkräfte für die Tötungen verantwortlich waren, weil sie gemeinsam auftraten.

Kontinuum der Gewalt

Unter dem Namen „Operation Wellenbrecher“ haben israelische Militäraktionen ebenso wie Verhaftungen und nächtliche Razzien auf der besetzten West Bank dramatisch zugenommen. Das fand wohlgemerkt schon unter der Ägide der Bennett-Lapid-Regierung mit Benny Gantz als Verteidigungsminister statt, die Benjamin Netanjahu als langjährigen Premierminister abgelöst hatte und die als breit aufgestellte Anti-Netanjahu-Koalition von vielen im westlichen Ausland als gemäßigt wahrgenommen und begrüßt worden war, obwohl sie in ihrer Besatzungs- und Siedlungspolitik nichts anderes tat als die früheren, offener rechtsgerichteten Koalitionen.

Der Großteil des Anstiegs jener Gewalt im letzten Jahr war in der nördlichen West Bank zu verzeichnen. Mehr als ein Drittel der Tötungen ereigneten sich 2022 allein in der Region Dschenin, dicht gefolgt von Nablus. Schon vor Monaten war es in der Stadt zu Verhaftungen und Gewalt gekommen, wie sie die Stadt seit über einem Jahrzehnt nicht mehr gesehen hatte, darunter nächtliche Razzien und Attentate am helllichten Tag.

Die Eskalation der Gewalt, wie sie sich mit dem Einrücken der israelischen Armee in Nablus am 22. Februar völlig vorsehbar vollzog, war also kein Novum unter der neuen, rechtsextremen israelischen Regierung, sondern eine Fortschreibung der kontinuierlichen Gewaltausübung unter radikalisierten Vorzeichen. Das Ergebnis des Einsatzes einer hochgerüsteten Militärmacht in gepanzerten Fahrzeugen im geschäftigen und dicht bevölkerten kommerziellen Zentrum einer der größten palästinensischen Städte – und dies am hellichten Tag – war abzusehen: Die Besatzungsmacht erschoss in Nablus elf Palästinenser und verletzte über 100 Personen.

Wild West Bank: Straflosigkeit mit System

In derselben Region, etwas südlich der Stadt, führt medico seit Jahren mit einer lokalen Partnerorganisation ein Projekt zur Unterstützung palästinensischer Bauern- und Hirtenfamilien durch. Die illegalen israelischen Siedlungen und Außenposten in dieser Gegend haben zurecht den Ruf, von besonders gewaltbereiten jüdischen Nationalist:innen geprägt zu sein. Auch dort ist die palästinensische Bevölkerung schutzlos der Gewalt durch Siedler und die israelische Armee ausgeliefert.

Die palästinensische Polizei unterhält in den vollständig von Israel kontrollierten C-Gebieten des Westjordanlandes gemäß den anscheinend auf Dauer gestellten Osloer Interimsabkommen keinerlei Präsenz. Sie hat gemäß den Vereinbarungen dort auch keine Zuständigkeit. Die israelische Armee, die zwar präsent ist, soll und darf gegen Siedler:innen nichts unternehmen, sondern dient ausschließlich deren „Schutz“, vor allen Dingen aber der militärischen Absicherung der Landnahme durch sie und der Einschüchterung, dem Schikanieren und der Kontrolle der palästinensischen Bevölkerung.

Die israelische Polizei wiederum, die dem Treiben der Siedler eigentlich Einhalt gebieten müsste, wenn es um Straftaten gegen Palästinenser:innen geht, tut nichts. Sie ist nicht einmal präsent oder direkt ansprechbar. Natürlich können Palästinenser:innen sie anrufen. Es empfiehlt sich dann aber Hebräisch zu sprechen und sich auf sehr lange Wartezeiten bis zum Eintreffen einer Streife einzustellen. Nichts für den Notfall, wenn man im Angesicht  von militanten jüdischen Nationalisten aus dem benachbarten, auch nach israelischem Recht illegalen Außenposten akut schutzbedürftig ist. Anzeigen gegen Straftäter verlaufen in aller Regel folgenlos im Sand. Die Hürde für Anzeigen wird für Palästinenser:innen zudem dadurch erhöht, dass israelische Polizeistationen sich in der Regel selbst in den völkerrechtswidrigen Siedlungen befinden.

„Löwen“ fallen nicht vom Himmel

Diese Realitäten sind allen Palästinenser:innen bewusst, egal ob sie auf dem Land leben oder in Städten wie Hebron, Jerusalem, Ramallah oder Nablus. Die palästinensische Gesellschaft, auch die heutige semi-urbane, ist aus einem stark in der Landwirtschaft verwurzelten Gemeinwesen hervorgegangen. Fast jede und jeder hat also auch heute noch biographische Bezüge „zum Dorf“, zum Beispiel Verwandte. Die Probleme, die Diskriminierung, die Gewalt und nicht zuletzt der Landraub sind deshalb als brennende Themen intergenerational im Bewusstsein der Mehrheit der Menschen vor Ort präsent.

Gleichzeitig haben die meisten Jugendlichen von heute keine Erinnerung an die erste oder zweite Intifada und sind mit der Mauer, den Checkpoints und der zunehmenden Spaltung und Apathie in ihrer eigenen Gesellschaft aufgewachsen. Die palästinensische Wahrnehmung der militanten Gruppe „Höhle der Löwen“ ist, dass sie das von ihnen wahrgenommene Kernproblem adressiert, das viele als israelischen „Siedlerkolonialismus“ benennen. Anders als etablierte Kräfte wie Hamas oder Fatah zwingt die „Höhle der Löwen“ die Menschen dabei aber nicht in einen religiösen oder politischen Rahmen.

Militante Gruppen auf lokaler Ebene, die sich in ihrer Ausrichtung vorsichtig zwischen säkular und religiös orientierten Palästinenser:innen positionieren, versuchen eine Art „Blockfreiheit“ zu etablieren und innerpalästinensische Grabenkämpfe zu umgehen. Insbesondere bei der jüngeren Generation dürfte dies ein wesentlicher Faktor für die wahrnehmbare Zustimmung zu der Gruppe darstellen. Diese Generation sieht keine andere Möglichkeit, als Widerstand zu leisten, fühlt aber weder den Zwang noch den Wunsch, sich einer etablierten Bewegung anzuschließen, die sie für restriktiv oder zu identitätsbasiert hält.

Die „Höhle der Löwen“ hat bei jüngeren Palästinenser:innen außerdem gepunktet, indem sie die Konfrontation mit der Autonomiebehörde suchte, die sogar aktiv Palästinenser:innen im Auftrag Israels verhaftet hat. Die Bedeutung dieser Tatsache für die Mobilisierung der Unterstützung durch die Straße zeigte sich, als im Sommer 2022 palästinensische Sicherheitskräfte auf Geheiß der Israelis zwei prominente militante Palästinenser, Musab Shtayyeh und Ameed Tbaileh, festnahmen. Mitglieder der „Höhle der Löwen“ konfrontierten die palästinensischen Sicherheitskräfte und es kam zu größeren Straßenprotesten. Die Gruppe initiierte einen zweitägigen Streik in Nablus und Umgebung. Palästinenser:innen im gesamten Westjordanland und in Ostjerusalem folgten dem ebenso zahlreich wie bei sonstigen Streikaufrufen der Fatah oder Hamas. Selbst in Ramallah, der wichtigsten Hochburg der Palästinensischen Autonomiebehörde, stand ein Großteil der Stadt still.

Der Aufruf zum Streik resultierte auch in Protestaktionen in Teilen Jerusalems und des Westjordanlandes, die Ziel israelischer Razzien, Tötungen und Massenverhaftungen waren, wie Kufr Aqab, Beit Furik, Kfar Qaddoum, Al-Bireh und andere. Gleichzeitig vermied es die Gruppe, Ladenbesitzer verbal anzugreifen, die oft zu den Ersten gehören, die sich nicht an Streiks halten. Sie hat sich auch nicht gegen palästinensische Arbeiter:innen mit israelischen Genehmigungen gestellt und versucht, diese zu beschämen.

Unter diesen Bedingungen werden Gruppen wie die „Löwen“ mit großer Wahrscheinlichkeit stark und stärker werden, vor allem wenn sie sich fast ausschließlich aus Personen unter 30 Jahren zusammensetzen. Ein Anzeichen dafür ist die Reaktion auf einen Aufruf zum Protest gegen die israelische Militäroperation in Nablus: Die Gruppe hatte ihn auf Mitternacht, einen Tag nach den Ereignissen in der Stadt angesetzt. Das Ziel war anscheinend, keine Konfrontation zwischen der israelischen Armee und den Protestierenden herbeizuführen, sondern zu zeigen, wie viel Unterstützung sie hat. In Dutzenden von Dörfern und Städten sollen Tausende Menschen an den Protesten teilgenommen haben – trotz der nicht eben üblichen Uhrzeit. Die Mehrheit der Teilnehmenden war jung, was nicht eben überrascht, denn die palästinensische Gesellschaft ist die zweitjüngste der Welt, mit über 50 Prozent unter 19 Jahren, während in Ländern wie Deutschland oder den Vereinigten Staaten das Durchschnittsalter bei Mitte 40 liegt. So könnten Gruppen wie die „Höhle der Löwen“ in den kommenden Jahren zu einem relevanten politischen Akteur werden.

Große Erwartungen

Diese Gefahr scheint auch der israelische Sicherheitsapparat in ihrer möglichen Tragweite erfasst zu haben und reagiert, wie es für repressive Strukturen auf der ganzen Welt typisch ist: mit noch mehr Repression. Unterdessen haben viele Palästinenser:innen vor Ort keineswegs die israelischen Razzien 2022 vergessen, die in den letzten Monaten zu Tausenden von Verhaftungen und weit über 100 getöteten Palästinenser:innen im Westjordanland geführt haben. Dies ist der Hintergrund, vor dem sich das jüngste militärische Vorgehen der israelischen Armee in Nablus mit einer völlig unverhältnismäßigen Zahl ziviler Opfer vollzog.

Mit der Konzentration der israelischen Polizeigewalt beim Minister für öffentliche Sicherheit und der Übergabe der Verantwortung ziviler Angelegenheiten in den besetzten Gebieten an den israelischen Finanzminister steht zu befürchten, dass die jüngste, schockierende Episode in Nablus erst der Anfang war. Der eine ist wegen Rechtsterrorismus verurteilt worden, der andere bezeichnet sich selbst öffentlich als Faschist. Beide sind überzeugte Kahanisten und treten für einen arabischen Bevölkerungstransfer ein. Das ist der harmloser klingende Begriff für ethnische Säuberung und Zwangsausbürgerung. Letzteres wurde als Möglichkeit bei terroristischen Straftaten soeben in israelisches Recht gegossen – allerdings nur, wenn es sich nicht um jüdischen Terror handelt. Sie haben offenbar große Erwartungen daran, was ihre Machtbeteiligung zur Erreichung ihres politischen Fernziels eines rein jüdischen Staates auf dem gesamten Territorium angeht.

Was tun?

Jetzt, da sich die sogenannte Ziviladministration für Judäa und Samaria nicht mehr in den Händen der Armee, sondern in den Händen eines radikalen Siedlers und Kahanisten befindet, wird der Druck auch auf die Familien in den Hügeln südlich von Nablus wachsen. Die palästinensischen Dörfer und Weiler sollen mittelfristig israelischen Siedlungen und Außenposten weichen, die das gesamte Land vom Jordan bis zum Mittelmeer ausschließlich für jüdische Besiedlung beanspruchen.

In dieser Situation unterstützt medico die dort ansässigen Familien außer mit Saatgut und Setzlingen auch dabei, sich über verschiedene Dörfer hinweg zu organisieren, damit sie sich im Ernstfall zumindest gegenseitig beistehen können. Hier kommt es häufig zu Übergriffen und Angriffen, zu Diebstählen palästinensischer Ernten durch israelische Siedler, auch zu Brandstiftung, die sich oft gegen Felder, Oliven-, Obst- und Mandelbäume der palästinensischen Bauernfamilien richtet. Neben der Arbeit, ein funktionierendes Netzwerk zwischen den Dörfern und innerhalb der Dörfer zu etablieren, wurden Bauernkomitees in den Dörfern auch mit einfachen Löschmitteln ausgestattet, um Brände in ihren Olivenhainen und auf ihren Feldern einzudämmen.

Angesichts der seit Langem gegebenen Übermacht und ihrer zunehmenden Radikalität wird dies als Beistand jedoch kaum ausreichen. Es mangelt weiterhin am notwendigen politischen Druck aus dem Ausland, um Menschenrechtsverletzungen und die systematischen Völkerrechtsbrüche aufzuhalten. Wenn sich das nicht ändert, steht zu befürchten, dass 2023 für Palästinenser:innen ein noch tödlicheres Jahr werden wird als 2022. Seit Jahresbeginn haben israelische Streitkräfte und Siedler bereits 65 Menschen getötet.

Veröffentlicht am 24. Februar 2023

Chris Whitman

Chris Whitman ist medico-Büroleiter Israel und Palästina.


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