Nervöses Warten

Vor dem Generalstreik in Haiti

Wenn der Präsident nicht zurücktritt, könnten bürgerkriegsähnliche Auseinandersetzungen folgen. Selbst eine US-Intervention ist nicht ausgeschlossen. Von Katja Maurer, Port-au-Prince

Haitis Hauptstadt bewegt sich heute in einer gespannten Erwartung. Alle haben am Vormittag eingekauft und sind am Nachmittag zu Hause geblieben. Es gab nur wenige Barrikaden. Als müsste man für den morgigen landesweiten Generalstreik die Kräfte sammeln.

Nachdem der Präsident Jovenel Moïse vorgestern Nacht um halb Zwei eine Rede gehalten hat, die die Kolleg*innen der Migrationsplattform für Repatriierte und Geflüchtete als „eine Kriegserklärung gegen uns“ interpretierten, kamen heute vorsichtige Zeichen der Deeskalation. Zwei Regierungsvertreter, die als Mitorganisatoren des Massakers im Elendsviertel von La Saline im November letzten Jahres gelten, sind zurückgetreten. Wie es heißt aus „persönlichen Gründen“. In der Sache des schießwütigen Senators, dessen Bild um die Welt ging, erklären juristische Kreise in Haiti gar: Wenn jemand eine so offenkundige Gesetzesverletzung begangen habe, könne ihn laut haitianischem Gesetz jeder festsetzen.

Tatsächlich wäre die Aufhebung der Immunität des Senators und die juristische Aufarbeitung der Ereignisse in La Saline ein erster Schritt wider die Straflosigkeit, die hier vor allen Dingen für die Privilegierten gilt, während die Armen oft jahrelang ohne Urteil im Gefängnis sitzen und auf einen Gerichtsprozess warten.

Aber das alles, so die Historikerin Suzy Castor, sei längst nicht mehr genug. Es müsse einen politischen Ausweg aus der totalen Blockade geben, die nicht mehr zu ertragen sei. Sie wertet es als positives Zeichen, dass dies immer mehr Kreise in Haiti verstehen. Die Schließung der Banken seit Dienstag, meint Castor, sei ein Zeichen der Ablehnung des Präsidenten. Auch der wichtigste Unternehmerverband stellte sich mehrheitlich gegen Moïse. Sein Präsident trat aus Protest vom Amt zurück, weil nur noch drei Mitglieder für den Präsidenten eintraten.

Suzy Castor, die mittlerweile die 80 überschritten hat und zu den angesehensten Intellektuellen des Landes gehört, sieht nicht nur aufgrund ihres Alters die Sache in langen Zeiträumen. Ihr historisches Ordnungsprinzip verortet die letzten hundert Jahre in drei Etappen: Die US-amerikanische Intervention 1915, die bis 1934 dauerte und eine kapitalistische Modernisierung des Landes und die Rückkehr der Plantagenwirtschaft bringen wollte, aber letztlich am Widerstand der Bevölkerung scheiterte; die Duvalier-Diktatur, die 1986 endete, und die Übergangszeit, in der man sich immer noch befinde.

Die Historikerin lacht ihr lautes Lachen. Selbstverständlich könne man 33 Jahre nicht als Übergangszeit zählen. Aber die damals formulierten Ziele, wie man sich ein anderes Haiti vorstellt, seien noch immer noch nicht erreicht. In diesen wirren Zeiten ist man ihr für ihre Fähigkeit in Perioden und Jahreszahlen zu denken, ebenso dankbar, wie für ihre präzisen Formulierungen: „Seit 1986 bis heute suchen wir den Weg, diese Ziele zu erreichen. Nämlich ein Land zu sein, dessen Institutionen gut funktionieren, in dem jede Frau und jeder Mann ein*e Bürger*in ist, mit allen Rechten und Pflichten, die damit verbunden sind. Und ein souveränes Land zu sein.“  

Heute befände sich Haiti am Tiefpunkt einer Vielzahl ungelöster Krisen, sagt sie. Wenn der Präsident nicht zurücktrete und den Weg für eine politische Lösung frei mache, könnten bürgerkriegsähnliche Auseinandersetzungen folgen. Selbst eine US-amerikanische Intervention hält sie nicht für ausgeschlossen.

Die weiteren aktuellen Haiti-Blogs von Katja Maurer:

1. Die haitianische Regierungskrise
2. Menschenrechtsarbeit im Parastaat
4. Zwangsläufiger Aufstand

5. Das bloße Leben kämpft

Veröffentlicht am 27. September 2019
Katja Maurer

Katja Maurer

Katja Maurer leitete 18 Jahre lang die Öffentlichkeitsarbeit von medico international und die Rundschreiben-Redaktion. Heute bloggt sie regelmäßig auf der medico-Website.


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