Haiti

Das bloße Leben kämpft

In der vierten Woche des Protests wenden sich die Menschen gegen die internationalen Stützen der Regierung. Von Katja Maurer

Montag, 7. Oktober 2019, Frankfurt

Die Ereignisse in Haiti überschlagen sich, aber in Deutschland gibt es kaum Berichte. Und wenn, dann wird auf einen drohenden Bürgerkrieg und die Plünderungen verwiesen, also ein Bild voller Klischees gezeichnet, das unwillkürlich an eine xenophobe Angst appelliert. Ich werde also meinen Blog von hier aus fortsetzen, weil ich Zugänge habe, über die Journalist_innen zurzeit offenkundig nicht verfügen. (Das mag auch damit zu tun haben, dass es kaum noch Korrespondent_innen in Lateinamerika gibt.)

Bilanz der Repression

Vor mir liegt der aktuelle Bericht des haitianischen Netzwerkes zur Verteidigung der Menschenrechte (RNDDH), über das ich schon mehrfach berichtet habe. Seit dem  16. September, schreibt die Organisation, befinde sich Haiti in einer Situation des Aufstands. Die sozioökomische Situation sei „total paralysiert“, die staatlichen Institutionen befänden sich in einem „Zustand der Lethargie“ und die anhaltenden landesweiten Proteste gegen die Regierung seien Ergebnis der aktuellen Regierungspolitik, weil diese die seit Juli 2018 sich entwickelnden unterschiedlichen Protestbewegungen und ihre Forderungen nach der Verwirklichung ihrer politischen und sozialen Menschenrechte niemals ernst genommen habe.

Im Gegenteil seien Schüsse auf Menschen erfolgt und durch die Polizeikräfte  übermäßig Tränengas eingesetzt worden. Nach Untersuchungen von RNDDH, die mehrfach überprüft und abgesichert werden, sind zwischen dem 16. und 30. September 17 Personen ums Leben gekommen, 15 davon durch Schüsse. 189 sind verwundet worden, 117 ebenfalls durch Schüsse. Auch sechs Journalist_innen seien attackiert worden. Zudem seien 6 Polizeistationen von Demonstrant_innen angegriffen und zum Teil angezündet worden. Solche Angriffe haben aber häufig eine Vorgeschichte, die die Menschenrechtsorganisation, wo es möglich ist, auch nachweist. So wurde das Kommissariat in Marigot, an der Südküste Haitis, von Demonstrant_innen angezündet, nachdem die Polizei einen protestierenden Barrikadenbauer erschossen hatte. Wichtig an dem Bericht.

Besonders beunruhigt ist die Organisation darüber, dass bewaffnete Zivilisten an der Seite der Polizei im Einsatz sind und schießen. RNDDH veröffentlicht in dem Bericht das Foto eines vom Präsidenten ernannten Offiziellen für das Département Nord. Der ließ sich am 30. September mit einem bewaffneten Trupp Paramilitärs ablichten – eine eindeutige Botschaft an die Protestierenden. Die Menschenrechtsorganisation fordert deshalb auch eine Untersuchungskommission über das Polizeiverhalten während der Proteste.

Menetekel, Rätsel, Hoffnung

Pierre Esperance, der Direktor, und die Programmverantwortliche von RNDDH, Rosy Auguste, haben uns in den Tagen in Haiti unterstützt und begleitet, was angesichts der zugespitzten Situation äußerst hilfreich war. Das nimmt einen in die Pflicht, die Situation in Haiti nicht aus den Augen zu verlieren. Angesichts der vielen Krisen weltweit und dem geringen Medieninteresse an Haiti wäre das durchaus möglich. Aber weil Haiti ein Menetekel, ein Rätsel und Hoffnung zugleich ist, muss man die Lage ohnehin weiter verfolgen.

Mit dem Menschenrechtsnetzwerk arbeitet medico seit 2010 zusammen. Wir haben Höhen und Tiefen miteinander durchlebt und durchlitten. Das bleibt in der Fatalität der haitianischen Situation und dem chronischen Geldmangel, der nur in den ersten Jahren nach dem Erbeben etwas gelindert wurde, nicht aus. Selbst in diesen Tagen des Aufstands berichtete uns Pierre Esperance bei einem Treffen im RNDDH-Büro von den internen organisatorischen Schwierigkeiten (das vermaledeite Abrechnungswesen), und dem jahrelangen Prozess, den es brauchte, sie halbwegs zu bewältigen.
 

In diesem Gespräch hätte er sehr gut auf die dramatischen äußeren Faktoren verweisen können, um die internen Schwierigkeiten zu erklären. Er selbst war davon betroffen. In den vergangenen Jahren gab es mehrere ernst zu nehmende Morddrohungen gegen ihn und zwei Versuche, seine jüngste Tochter zu entführen, weshalb sie nun in den USA lebt. Diesen Erklärungs-Ausweg wählte Pierre aber nicht, auch wenn es wirklich naheliegend ist. Denn die Arbeit der Organisation und ihrer Mitarbeiter_innen ist auf so radikale Weise den Menschenrechten, und zwar allen, verpflichtet, dass es einen beeindruckt. Das zeigt sich in jeder Erklärung, die zurzeit fast täglich geschrieben werden, und immer wieder das Recht der Protestierenden betonen, weil deren soziale und politische Menschenrechte so klar verletzt werden. Ihr Netzwerk reicht in die Elendsviertel der Hauptstadt, genauso wie in die abgelegenen Provinzen genauso wie in die Politik, Wissenschaft und Kultur. Von letzterem profitierten wir, als die Blockaden aufgehoben waren.

Deutsche in der Core Group

Die Proteste gehen weiter, denn nach fast einer Woche Abwesenheit ist Präsident Jovenel Mse wieder in der Öffentlichkeit gesehen worden. Die Hoffnung, dass er mit einem schnellen Rücktritt den Weg für eine politische Lösung frei macht, war vergebens. Das dürfte auch mit den Aktivitäten der Core Group zu tun haben, die sich mehrmals geheim mit Regierungsvertretern und anderen getroffen hat.

Die 2004 entstandene Core Group, der die UNO, die UN-Militärmission und einflussreiche westliche Mächte wie u.a. die USA, Frankreich und auch Deutschland angehören, ist der eigentliche Entscheidungsträger in Haiti, allerdings ohne gewähltes Mandat. Ihre Aufgabe seit 15 Jahren ist es, eine Containment-Politik zu betreiben, die den „Interessen der Elite und der transnationalen Wirtschaft dient, und den politischen und ökonomischen Status Quo sichern soll“, so der US-amerikanische Publizist Jake Johnston. Genauso verhält sie sich gerade.

Der Schriftsteller Antoine Lyonel Trouillot, einer der bekanntesten haitianischen Schriftsteller, vielfach ins Deutsche übersetzt, schrieb letzte Woche einen Artikel im Schweizer Le Nouvelliste mit der Frage „Will die Core Group ein Blutbad?“. Am nächsten Tag wandten sich alle haitianischen Schriftsteller_innen mit Rang und Namen an die Core Group mit dem Appell, sich aus den haitianischen Angelegenheiten herauszuhalten. Der vieltausendfache Protestzug am vergangenen Freitag, den 3. Oktober, richtete sich gegen die UNO-Vertretung in Tabarre. Am Freitag zuvor ging es in Richtung Präsidentensitz, dieses Mal also die UNO. Die Protestierenden wissen sehr genau, an wen sie sich wenden müssen.

Es gibt derzeit fast nichts Beunruhigenderes als den Stillstand. Das trifft auch auf Haiti zu. Die, die nur noch das bloße Leben hätten, „kämpfen, kämpfen, kämpfen“; sagte mir der Schriftsteller Gary Victor einen Tag vor unserer Abreise mit bebender Stimme. Sein „lutte, lutte, lutte“ klingt in meinen Ohren wie eine Aufforderung, sich nicht von der Verführung der „Normalität“ kaufen zu lassen.

Die weiteren aktuellen Haiti-Blogs von Katja Maurer:

1. Die haitianische Regierungskrise
2. Menschenrechtsarbeit im Parastaat
3. Vor dem Generalstreik

4. Zwangsläufiger Aufstand

Veröffentlicht am 08. Oktober 2019
Katja Maurer

Katja Maurer

Katja Maurer leitete 18 Jahre lang die Öffentlichkeitsarbeit von medico international und die Rundschreiben-Redaktion. Heute bloggt sie regelmäßig auf der medico-Website.


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