Kommentar

Rückfall in den Nationalismus?

Wer jetzt in nationalen Interessen denkt, stärkt einen autoritärer werdenden Staat und eine Politik, die keine Schneisen in die Zukunft schlägt.

Von Katja Maurer

Mütter, Schwangere, Kinder irrten durch den Wald. Sie seien fast unsichtbar, schalteten bewusst ihre Taschenlampen aus. Die Menschen hätten Angst vor dem Militär, polnisches oder belarussisches. Es mache Jagd auf sie, schlage auf sie ein. Zur Grenze hin oder weg von der Grenze. Unvorstellbare Szenen würden sich dort abspielen, die größte Krise seit 1989. Das sagt Hana Machinska, die polnische Vizekommissarin für Menschenrechte. Sie ist eine der wenigen unabhängigen Personen, die noch in das polnisch-belarussische Grenzgebiet gelassen werden. Journalist:innen und Hilfsorganisationen wird zwischenzeitlich der Zugang versperrt. Zeug:innen eines völkerrechtswidrigen und menschenverachtenden Vorgehens gegen Geflüchtete sind unerwünscht. Gerade erfror ein einjähriges Kind. Ohne Worte.

In der Dramatik der Situation scheint ein kleines Licht auf. Man ist sich der Unterstützung durch die Öffentlichkeit für diese Fluchtabwehrpolitik nicht sicher. Bilder von Menschen, die mit ihren Familien auf der Suche nach einem würdigen Leben sind, eignen sich nicht als Beweis für die angebliche hybride Kriegsführung. Da hilft der Obrigkeit nur, das Zeugnis zu verweigern. In diesen Tagen entscheidet sich an der Einrichtung eines Korridors für die Menschen an der Grenze, ob Deutschland wenigstens noch in Spuren für die europäischen Werte steht, die es so gern reklamiert.

Autoritäre und polizeiliche Ordnung

Eben diese Werte wurden schon in Afghanistan preisgegeben. Der Rückzug des Westens ist nicht nur wegen der Erbärmlichkeit, mit der gerade Deutschland all die zurückgelassen hat, in deren Namen der Feldzug angeblich geführt wurde, eine Zäsur. Es gibt nun, wie es der Politikwissenschaftler Herfried Münkler schreibt, auch keinen Hüter der bis dato liberalen/neoliberalen Weltordnung mehr, der die Universalität der Menschenrechte zumindest per Deklaration in den eigenen Interventionismus einpreist. Mag das immer schon vergeblich, naiv oder heuchlerisch gewesen sein – es gab eine rhetorische Instanz, auf die man sich auch in der Kritik berufen konnte. Stattdessen erleben wir in rasender Geschwindigkeit einen Rückfall in nationalstaatliches Denken und Ordnungspraktiken, die in ihrem Glutkern autoritär und polizeilich gedacht sind. Die Bewältigung der Covid-Pandemie und die Fluchtabwehr gehen hier Hand in Hand. Ganz offensichtlich ist das an der US-amerikanisch-mexikanischen Grenze. Dort begründet die US-Regierung ihre allgemeine Abwehr der Geflüchteten ohne Anhörung ihrer Fluchtgrün[1]de mit der Pandemie-Bekämpfung und entsprechenden Sondergesetzen. Damit ist die Spaltung, die die individualisierte Covid-Bewältigungsstrategie ohnehin schon hervorgerufen hat, in andere Politikfelder hinübergewandert. Die europäische Fluchtabwehr hingegen setzt zunehmend auf ein System von zweierlei Recht. Neben den Geflüchteten kann nun auch alles, was in den Ruch der Fluchthilfe gerät, und sei es die naheliegendste samaritische Mitmenschlichkeit, juristisch verfolgt werden und wird es auch.

Die Außenverlagerung der Grenzen, die Imagination, dass es den privilegierten Ländern gelingen könnte, die Ankunft von Flüchtenden vollkommen zu unterbinden, das Schaffen von rechtsfreien Räumen, an denen sich das Recht durch maßlose Urteile beteiligt – all das sind keine neuen Entwicklungen. Das Maß aber, in dem sich die Idee von einer multipolaren Welt, die auch gemeinsame Verantwortungsstrukturen braucht, verflüchtigt und in einen Interessennationalismus auflöst, droht sich in einem Unmaß weiter zu verfestigen. Es lässt sich an den Koalitionsverhandlungen in Deutschland ablesen, in denen Außenpolitik nicht mal mehr einen Nebenschauplatz darstellt. Dass eine globale Verantwortung Deutschlands ein Um[1]denken in der Entwicklungspolitik erfordert, blenden die Koalitionäre so weit aus, dass sie sogar über deren Abschaffung nachdenken. Globale Verantwortung reicht offenbar bis in das linksliberale Milieu hinein nicht weiter als bis zum nächsten Öko-Siegel. Doch in dem Maße, wie die Erde an vielen Orten unbewohnbarer wird, ist die Behaglichkeit, mit der rot-grün-gelbe Wähler:innen den Neonationalismus als pragmatische Lösung auszuhalten drohen, eine Form gefährlicher Ignoranz.

Das Universelle in der Flucht

Die Suche um Aufnahme der Abertausenden an den Grenzen der reichen Länder erinnert an die Irrfahrt von 973 deutschen Juden und Jüdinnen auf der St. Louis, die 1939 die Küstenstädte Amerikas abfuhren und vergeblich um Aufnahme baten. Fast niemand der Fliehenden über[1]lebte damals. Die St. Louis ist zum Sinnbild für die Katastrophe von Flucht und ihre Abweisung geworden. Hannah Arendt verstand schon damals, dass das, was Jüdinnen und Juden erlebten, allen, die sich zu Flucht veranlasst sehen, widerfahren kann. Sie sah schon das Universelle in der Flucht und wandte sich gegen einen Nationalismus, der auf einem Staatsvolk basiere und dessen Grenzen der Staat verteidigen müsse. Die alten Nationalstaaten taugten nicht länger, so Arendt, als Lösungsmodell für die Flüchtlingsfrage. Jede Politik steht also vor der Aufgabe, jede Form der Fluchtabwehr, die die demokratische Verfasstheit der Länder und das ethische Selbstverständnis fundamental untergräbt, aufzugeben. Wie die polnische Ombudsfrau für Menschenrechte Hana Machinska dies klar und unmissverständlich ausdrückt: „Mauern sind keine Lösung. Deine Lösung sind ordentliche Verfahren.“ Alles andere als die bedingungslose Aufnahme der Menschen an der polnisch-belarussischen Grenze wäre ein Versagen der Menschlichkeit.

Flucht und Covid – Parallelwelten

Was für die Flucht gilt, gilt – wie alle wissen – für die Klimakatastrophe und die globale Gesundheitskrise gleichermaßen. Nationales Denken bietet hier keinerlei Zukunftsentwurf. Gerade in der Covid-Krise lassen sich einige Phänomene ausmachen, die Parallelen mit der Fluchtfrage aufweisen. So wie der Staat sich nationaler denkt, so denkt er sich offenbar auch autoritärer.

An dieser Stelle wurde schon einmal bemängelt, wie wenig demokratische Ideen in der Covid-Bewältigung vorliegen, die sonst doch das A und O einer nicht kontrollierend gedachten Präventionsstrategie darstellen. Die offizielle Covid-Strategie ist hingegen zugleich autoritär und neoliberal, überlässt alles dem und der Einzelnen und lässt sie so im Stich. Statt Räume der Vernetzung und des Austausches zu schaffen, in denen von unten gemeinsam über Strategien nachgedacht wird, wie Gesundheitsschutz und öffentliches wie kulturelles Leben stattfinden kann, setzt man auf ökonomischen Druck. Dass es keine demokratische, auf vielfältige Formen setzende Strategie des Gesundheitsschutzes möglichst für alle gibt, sondern nur eine biomedizinische Variante, an der ungeheuer viel Geld verdient wird, schürt das Misstrauen verständlicherweise. Das aber ist keine gute Voraussetzung für eine erfolgreiche Einschränkung der Pandemie. Dass die deutsche Politik die Interessen der Pharmaindustrie weltweit vor den Gesundheitsschutz der Menschen setzt, erhöht dieses Misstrauen noch. Ob eine neue deutsche Regierung aus diesem fundamentalen Scheitern lernen wird? Zweifel sind mehr als angebracht. Stattdessen legen sich die Pandemie, ihre Debatten und Spaltungen auf alle Räume des Politischen wie Mehltau.

Mit dem Torpedokäfer wider den Status quo

Hoffen lässt sich also nur auf die, die sich wie Franz Jungs Torpedokäfer mit der unerträglichen Wirklichkeit der Spaltung zwischen Rechte Besitzenden und Rechtlosen nicht abfinden wollen und immer wieder gegen die Mauer des Status quo anrennen. Dazu gehören die Bewohnerinnen und Bewohner im polnisch-belarussischen Grenzgebiet, viele von ihnen Wähler:innen der rechten PiS, die Laternen in ihre Fenster stellen, um zu signalisieren: Hier kannst du Brot und Obdach finden. Der Ethos der Kohabitation, den die Soziologin Sabine Hark als einen sich immer neu entwerfenden beschreibt, zeigt sich überraschend in einer revoltierenden polnischen Zivilgesellschaft, die sich so vorher noch nicht kannte.

Dazu gehört aber auch jemand wie der Gouverneur von Massachusetts, Charlie Baker. Er schrieb einen offenen Brief an Präsident Biden, in dem er einen rechtlichen Status für die haitianischen Geflüchteten forderte, die es trotz der Massenabschiebungen in die Vereinigten Staaten und das schöne Massachusetts geschafft haben. Unterwegs kamen vielen die Dokumente abhanden, ohne die sie nun keine Hilfen bekommen können. Baker schrieb gegen alle verleumdenden und rassistischen Zuschreibungen über Geflüchtete Folgendes: „Massachusetts ist stolz darauf, Einzelpersonen und Familien, die Asyl und Zuflucht bei uns suchen, zu empfangen. Ich werde alles dafür tun, diesen Familien ein Leben in Würde zu ermöglichen.“ Wer die Unordnung dieser Welt begreifen und darin handeln will, kann das nur ausgehend von solchen gegen den unheimlichen Konsens des Machbaren gerichteten Taten und Sätzen tun. Von jetzt an, heißt es in einer aktuellen Flugschrift, zählt nur noch das Unmögliche.

Dieser Beitrag erschien zuerst im medico-Rundschreiben 4/2021. Das Rundschreiben schicken wir Ihnen gerne kostenlos zu. Jetzt abonnieren!

Veröffentlicht am 02. Dezember 2021
Katja Maurer

Katja Maurer

Katja Maurer leitete 18 Jahre lang die Öffentlichkeitsarbeit von medico international und die Rundschreiben-Redaktion. Heute bloggt sie regelmäßig auf der medico-Website.


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