Polen/Belarus

Nicht aufzuhalten

22.11.2021   Lesezeit: 4 min

Junge Menschen helfen Geflüchteten, die es trotz aller Abwehrmaßnahmen über die polnische Grenze schaffen. medico hat sie besucht.

Von Ramona Lenz

„The Polish border is sealed. Belarusian authorities told you lies. Go back to Minsk!“ Wir sind noch einige Kilometer von der polnisch-belarussischen Grenze entfernt, als uns diese SMS erreicht. Der angehängte Link führt auf die Seite des polnischen Innenministeriums, auf der eindringlich vor einem Grenzübertritt von Belarus nach Polen gewarnt wird. Offenbar geht diese Nachricht an jede ausländische Mobilfunknummer, die in der Nähe der Grenze aufgespürt wird, also auch an uns mit unseren deutschen Nummern. Gerichtet ist sie allerdings an die verzweifelten Menschen aus Ländern wie Syrien, Irak oder Afghanistan, die sich in dem dichtbewaldeten Grenzgebiet aufhalten. Stoppen lassen sie sich dadurch jedoch nicht. Trotz aller Versuche, ihre Flucht in die EU zu vereiteln – sei es durch solche seit Monaten verschickten Warn-SMS oder durch brutale Pushbacks – kommen nach wie vor täglich Geflüchtete auf der polnischen Seite der Grenze an.

Mitten im Wald, aber außerhalb der Sperrzone – also des Gebietes entlang der Grenze, für das Polen den Ausnahmezustand verhängt hat – besuchen wir ein Basislager, das junge Leute aus Warschau errichtet haben. Die Schränke und Regale sind gut gefüllt mit Jacken, Schuhen, Mützen, Socken, Schlafsäcken, Hygieneartikeln, Spielzeug und Nahrungsmitteln. In der Küche stehen Dutzende Thermoskannen mit Tee bereit. Es herrscht eine konzentrierte Atmosphäre bei gleichzeitig regem Treiben. In einer Ecke berät sich eine Gruppe, eine andere bereitet sich auf einen Einsatz vor. Während unseres Aufenthalts gehen mehrere Notrufe ein. Aleksander, Jakup und Filip* sind gerade von einem Einsatz zurückgekommen und erzählen uns davon. Über die Notrufnummer, die unter den Flüchtlingen verbreitet wird, hatte sich am Nachmittag eine Gruppe von acht Menschen aus Syrien gemeldet, die im Wald in Not geraten war. Daraufhin waren die drei aufgebrochen, um zu helfen. Bevor sie losfahren, fragen die Aktivist:innen immer einige Eckdaten ab: Um wie viele Menschen geht es? Wie alt sind sie? Und vor allem: Was brauchen sie? Dann tragen sie alles, was benötigt wird, zusammen, nehmen Tee und Suppe zum Aufwärmen mit und machen sich mit dem Auto und das letzte Stück häufig zu Fuß auf den Weg zu den Menschen.

„Für zwei Kilometer mit Gepäck durch den Wald, brauche ich zu Fuß gut 40 Minuten“, erklärt Alexander, ein junger sportlicher Mann. „Stellt euch vor, was diese Leute hinter sich haben, wenn sie uns anrufen?“ Bei nasskaltem Novemberwetter und früher Dunkelheit laufen sie teilweise wochenlang durch das dichte Waldgebiet, immer in Angst, entdeckt und zurückgeschickt zu werden. „Man jagt sie wie Tiere“, meint Jakub. Die meisten Menschen befänden sich in einem sehr schlechten Zustand, wenn sie bei ihnen anriefen. Die häufigsten gesundheitlichen Beschwerden seien Blasen an den Füßen, Magenprobleme wegen verschmutztem Wasser und ungenießbarer Waldfrüchte, Durchfall, Muskelkrämpfe und Kopfschmerzen. In ernsteren Fällen rufen die Aktivist:innen ein Team von Mediziner:innen an, die die Identität der Patient:innen nicht preisgeben.

Sollten die Mediziner:innen feststellen, dass eine Person ins Krankenhaus gebracht werden muss, ist die Entscheidung für die Betroffenen allerdings oft sehr schwierig, denn eine Krankenhauseinweisung hat in der Regel eine Abschiebung zur Folge. Wenn man bereits zwanzig Pushbacks zwischen Polen und Belarus hinter sich hat – wie die Gruppe der Syrer:innen heute – lässt sich niemand leichtfertig darauf ein. Die drei Frauen und fünf jungen Männer, der jüngste von ihnen 14 Jahre alt, waren glücklicherweise körperlich in einem relativ guten Zustand und benötigten keine weitergehende medizinische Versorgung. Was die seelischen Verletzungen angeht, wissen die Aktivist:innen, dass sie bei ihren kurzen Begegnungen im Wald wenig tun können, und doch nutzen sie die Gelegenheit, um die Menschen etwas aufzuheitern – und wenn es nur ein freundliches Wort oder eine vorsichtige Berührung ist.

Die Aktivist:innen kommen meist nur für ein paar Tage ins Grenzgebiet. Dann werden sie von anderen abgelöst, damit sie wieder ihrer Lohnarbeit oder ihrem Studium in Warschau nachgehen können. Sie sind genauso Teil der von medico unterstützen Grupa Granica wie andere, die sich darum bemühen, das Unrecht, dass den Menschen an der Grenze widerfährt, juristisch zu verfolgen. Erst kürzlich verhinderten sie die Beisetzung eines jungen Mannes aus Syrien, dessen Leiche im Grenzgebiet gefunden worden war, um zuvor eine unabhängige Autopsie durchführen zu können. In einem anderen Fall bemühen sie sich um die Aufklärung des Todes eines jungen chronisch kranken Irakers, der in desolatem Zustand von Polen aus auf die belarussische Seite der Grenze zurückgeschleppt worden war und dort starb.

Mindestens 13 Menschen haben in den letzten Wochen im polnisch-belarussischen Grenzgebiet ihr Leben verloren. Ab morgen soll es noch einmal deutlich kälter werden und die Gefahr weiterer Todesopfer nimmt zu. Es ist jedoch nicht das Wetter, das die Menschen umbringt, es ist das Grenzregime, das Brüssel und Berlin ebenso zu verantworten haben wie Warschau und Minsk.

*anonymisiert

Für die Nothilfe und Menschrechtsarbeit an der polnisch-belarussischen Grenze bitten wir um Spenden.

Ramona Lenz (Foto: medico)

Ramona Lenz ist Kulturanthropologin. Bis Mitte 2024 war sie Sprecherin der Stiftung medico und über viele Jahre in der Öffentlichkeitsarbeit von medico international zuständig für das Thema Flucht und Migration.

Twitter: @LenzRamona


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