Flucht und Migration

Entrechtung auf Knopfdruck

Instrumentalisierungsverordnung heißt die neue Eskalationsstufe der europäischen Flüchtlingspolitik.

Von Kerem Schamberger

Wir leben in einer Zeit, in der viele Demokratien auf die eine oder andere Art den Ausnahme zum Normalzustand erklärt haben. Wann immer gewünscht, lassen sich die eigenen Gesetze so leicht umgehen. Die Europäische Union, darin durchaus Vorreiterin, will dem Trend nun noch eine „Instrumentalisierungsverordnung“ hinzufügen. Ein Begriffsungetüm, dessen Funktion es ist, die Abschottung an den EU-Außengrenzen rechtlich zu zementieren.

Die Verordnung ermöglicht es den Mitgliedsstaaten, Asylstandards zu senken oder gar nicht erst anzuwenden, wenn andere Staaten Geflüchtete als „politisches Druckmittel“ einsetzen – so zumindest die offizielle Erklärung. Zukünftig sollen EU-Länder selbst bestimmen können, wann sie das grundlegende Recht auf Asyl aussetzen. Die Anzahl offener Grenzübergänge soll reduziert und die Grenzüberwachung erhöht werden. Geflüchtete sollen über Wochen ohne Registrierung festgehalten und eingesperrt werden können. Die Gefahr von illegalen Pushbacks steigt damit. Auch die erlaubte Dauer der Verfahren, möglichst direkt an der Grenze, wird auf bis zu 20 Wochen erhöht. Abschiebungen werden erleichtert. Der Maßnahmenkatalog der Verordnung soll den EU-Ländern immer zur Verfügung stehen. Sie selbst definieren also, wann eine „feindselige Handlung eines Drittlands“ vorliegt. Das Repertoire zur Missachtung fundamentaler Menschenrechte, die an den Grenzen schon jetzt eine immer geringere Rolle spielen, würde damit beträchtlich erhöht. Welche Bedeutung haben Rechte noch, wenn sie sich nach Belieben an- oder ausschalten lassen?

Die Verordnung soll eine Reaktion der EU auf Länder darstellen, die ihrer – von der EU zugewiesenen und finanzierten – Rolle als Türsteher Europas nicht mehr nachkommen und Lücken im externalisierten EU-Grenzregime aufbrechen (lassen). So wie im März 2020, als die Türkei infolge von Streitigkeiten mit Griechenland die Grenzkontrollen am Evros-Grenzfluss herunterfuhr und Schutzsuchenden damit die Möglichkeit gab, das Land, in dem sie seit Monaten und Jahren festgehalten wurden, zu verlassen.

Griechenland reagierte im Namen der EU mit Brutalität: Tränengas, Wasserwerfer, Schusswaffen. Mindestens zwei Menschen starben, Hunderte wurden verletzt. War die Empörung im Frühjahr 2016 noch groß, als die AfD forderte, auf Geflüchtete an Europas Grenzen zu schießen, lobte die EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen Griechenland damals als „Schild“ Europas – trotz Tausender Pushbacks, trotz Bruch des Völkerrechts, trotz der Todesopfer. Oder gerade deswegen?

Denn die EU hat selber einen großen Anteil daran, dass fliehende Menschen politisch strategisch hin- und hergeschoben werden können. Durch den EU-Türkei-Deal von März 2016 etwa hat das AKP-Regime bisher fast fünf Milliarden Euro für die Versorgung von Flüchtlingen aus Brüssel erhalten, und das, obwohl die Kriegspolitik Erdogans in der Region selber Millionen von Menschen in die Flucht treibt. Ein perfides Geschäftsmodell.

Schon der Begriff „Instrumentalisierung“ ist Teil eines Diskurses, in dem Migration als „hybride Waffe“ bezeichnet wird und der die Enthumanisierung von Schutzsuchenden vorantreibt. Geflüchtete werden darin zu einer namens-, gesichts- und willenlosen Manövriermasse von Geopolitik erklärt, letztlich zu einer potenziellen Bedrohung, auf die dann vor allem sicherheitspolitisch reagiert werden muss. Hier ist eine gesellschaftliche Ordnung am Werk, die auf die verheerenden Folgen ihrer imperialen Produktions- und Lebensweise nur eine Antwort findet: Abschottung.

Ausnahmezustände

Die Kriegsrhetorik, die sich in den letzten Jahren in Bezug auf Flucht und Migration durchsetzt, leistet Vorschub für eine Abwärtsspirale bei grundlegenden Menschenrechten von Geflüchteten. So konnte der spanische Ministerpräsident Pedro Sánchez nach dem Massaker von Melilla am 24. Juni 2022 von einem „Angriff auf die territoriale Integrität“ Spaniens sprechen und die marokkanischen und spanischen Sicherheitskräfte für ihre effektive Arbeit loben. Damals waren mehr als zwei Dutzend Geflüchteter an den Grenzzäunen der spanischen Enklave getötet worden, mehr als 70 sind bis heute vermisst. Marokko hat in den vergangenen drei Jahren 346 Millionen Euro von der EU bekommen, um Migration Richtung Norden zu unterbinden. Bis 2027 sollen weitere 500 Millionen dazukommen.

Bei Bedarf drehen Länder wie die Türkei, Marokko und Belarus die Eskalationsspirale von sich aus weiter. Die EU hat die Möglichkeiten, das zu ändern. Schließlich hat sie selbst diesen Ländern die Druckmittel in die Hand gegeben und Schutzsuchende zum destabilisieren[1]den Faktor erklärt. Statt immer weiter die Normalisierung des Ausnahmezustandes zu betreiben, wäre es an der Zeit, gültiges Recht zu wahren und endlich ein gemeinsames europäisches Asylsystem aufzubauen, das nicht auf Abschottung und Ausnahmezustand setzt. Viel Zeit bleibt nicht mehr. Bereits im Dezember soll die Verordnung im EU-Rat verabschiedet werden.

Dieser Beitrag erschien zuerst im medico-Rundschreiben 4/2022. Das Rundschreiben schicken wir Ihnen gerne kostenlos zu. Jetzt abonnieren!

Veröffentlicht am 08. Dezember 2022

Kerem Schamberger

Kerem Schamberger ist Kommunikationswissenschaftler und in der Öffentlichkeitsarbeit von medico international für den Bereich Flucht und Migration zuständig. 

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