Brasilien

Nekropolitik und Pandemie

Wie Bolsonaro in Brasilien einen inneren Feind neu konstruiert. Von Ruy Braga

Die Bolsonaro-Regierung verfolgt ein nekropolitisches Machtprojekt, das permanent einen Teil der Gesellschaft gegen einen inneren, dehumanisierten und somit auslöschbaren Feind mobilisiert. Vor Covid-19 oblag diese Rolle je nach Kontext und mit unterschiedlicher Emphase den „Vagabunden“ und „Banditen“, also pauschal Mitgliedern verschiedenster linker Gruppen, insbesondere Gewerkschafter*innen oder jene, die Verbindungen zum nationalen „politischen Establishement“haben. In diesem Projekt liegt eine Schlussfolgerung auf der Hand: Um die „Nation“ zu retten“ muss die von den „Vagabunden“ und „Banditen“ instrumentalisierte Demokratie mit all ihren in der Verfassung von 1988 verankerten sozialen und politischen Menschenrechten beseitigt werden. Das Projekt zur Untergrabung der brasilianischen Demokratie orientierte sich bis zum Aufkommen des Coronavirus an einer Reihe anderer internationaler Experimente, vor allem in den USA und Ungarn, die sich nach der Krise von 2008 entwickelt haben – mit einem bemerkenswerten Unterschied: Anders als die von Donald Trump oder Viktor Orbán geführten Regime verfolgt das brasilianische Modell eine ultraliberale Wirtschaftsstrategie, die öffentlichen Ausgaben kürzt, und keine materiellen Konzessionen an die Subalternen gewährt.

Wahlverwandtschaften

Statt materieller Zugeständnisse verfolgt der Bolsanarismus eine ultrakonservative Agenda der Sitten, die den Wünschen des christlichen Fundamentalismus, insbesondere der evangelikalen Rechten, entspricht. Eine Verschiebung hin zu reaktionären Werten als Angebot an die Subalternen ist jedoch eine unsichere und quälende Angelegenheit. Dies gilt umso mehr in einem wirtschaftlichen Kontext, der angesichts der ultraneoliberalen Agenda von Minister Paulo durch eine Informalisierung von Arbeitsbeziehungen, steigende Arbeitslosigkeit, Unterbeschäftigung und sinkende Arbeitseinkommen gekennzeichnet ist. Unsere Hypothese lautet: Bis zur Pandemie bestand die Bindung der Bevölkerung an das Bolsonaro-Projekt, die sich in dem Präsidentschaftswahlkampf 2018 herauskristallisierte, weitgehend auf einer „Wahlverwandtschaft“ zwischen einer bestimmten neopfingstkirchlichen Theologie und der typischen Fragilität in der informellen Beschäftigung, wie wir sie in den Peripherien des Landes beobachten.

Genau ein Jahrhundert nach der Veröffentlichung von „Die potestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus“, dem berühmtesten Werk des Soziologen Max Weber, hat in der brasilianischen vorurteilsgeladenen Gesellschaft eine ähnliche Art der Wahlverwandtschaft Fuß gefasst: die Wahlverwandtschaft aus neupfingstlicher Doktrin des Wohlstands und dem Geist des bis in die ärmsten Schichten reichenden Unternehmertums. Es geht also darum zu verstehen, inwieweit die Anziehungskraft zwischen einem religiösen Glauben und einer professionellen Ethik die Entwicklung einer materialistischen Kultur beeinflusst hat, die wir in Ermangelung eines besseren Ausdrucks Neoliberalismus nennen – und wie dies auch breite Teile der armen Bevölkerung zu Anhängern von Jair Messias Bolsonaro gemacht hat.

Das Wachstum der neupfingstlichen Bewegung in Brasilien ist vielfach untersucht worden. Es ist kein Geheimnis, dass die bedeutende Zunahme evangelikaler Prediger*innen in jenen Regionen und Gruppen stattgefunden hat, die der immer elitärer werdende Katholizismus im Stich gelassen hat. Zudem hat die hypertrophe Lebensweise in den Favelas und Randzonen mit ihren prekären Bedingungen die Suche nach Versprechen materieller Sicherheit und spiritueller Tröstung verständlicherweise verstärkt. Unklar bleibt aber, warum ausgerechnet die neupfingstliche Theologie den flexiblen Überlebenspraktiken von Kindern und Jugendlichen (den „viraçao“, benannt nach einem schnell aufkommenden Wind) und dem Kleinstunternehmertum der informellen Ökonomie mit einer expliziten Gegenposition zur Grammatik der sozialen Rechte so nah gekommen ist.

Je mehr die Aussicht auf kollektiven Fortschritt durch die Stärkung universeller Rechte vom Horizont verschwindet und die Konkurrenz um Geschäftsmöglichkeiten in der informellen Ökonomie aufgrund steigender Arbeitslosigkeit zunimmt, umso mehr wird der Glaube an einen Gott, der individuelle Anstrengungen belohnt, zu einem mächtigen Verbündeten in der täglichen Arbeit. Seit die Auszahlung der Rente für 40 Millionen informelle Arbeiter*innen zu einem kaum erreichbaren Wunsch geworden ist, wird die Botschaft der neupfingstlichen Kirchen zur einzigen verbliebenen Hoffnung: „Gott will sein Volk sicher und wohlhabend sehen.“ Hierzu braucht es nicht mehr als die monatliche Abgabe eines Zehntels der eigenen Einkünfte – des „Zehnten“ – und ein positives Glaubensbekenntnis.

Für all jene, die keine Hoffnung mehr in traditionelle kollektive Lösungen wie politische Parteien und/oder Gewerkschaften setzen, kann das ein glaubwürdiger Weg zu materiellem Fortschritt sein, zumal er die subjektive Motivation zur Arbeitsdisziplin steigert. Um dem Gläubigen Gottes Segen zu demonstrieren, wird die Betonung des Zehnten zu einer privilegierten Antriebskraft für wirtschaftlichen Wohlstand und folglich für die Disziplin des arbeitenden Körpers. Untersuchungen charakterisieren informelle Arbeit entlang sehr langen Arbeitszeiten, einem Leben mit sozialer Gewalt und unregelmäßigem Einkommen, zahlloser Standortwechsel in der Stadt und chronischer Müdigkeit. Unter solch extremen Bedingungen kann nur der Glaube an die Erfüllung des göttlichen Versprechens von wirtschaftlichem Wohlstand den Willen des armen Arbeiters, der armen Arbeiterin stützen.

Chloroquin oder Quarantäne

Bis zum Auftreten der biblischen Plage des Coronavirus schien die Quadratur des Kreises unter Bolsonaro relativ gut zu funktionieren. Schließlich blieb die Unterstützung derer, die von einem Einkommen in der Höhe von zwei bis fünf Mindestlöhnen leben, auch angesichts des niedrigen Wirtschaftswachstums stabil. Die wichtigsten evangelikalen Führungspersönlichkeiten standen fest zum autoritären Präsidenten und unterstützten seine noch so absurden Haltungen. Die von den paramilitärisch anmutenden Internethetzer*innen geführte Konfrontation zwischen dem „Vagabunden“ und dem „Familienvater“ nährte kontinuierlich die Ressentiments selbst unter Freunden und Verwandten.

Mit Ankunft der Pandemie geriet jedoch ein strategischer Punkt der nekropolitischen Erzählung ins Wanken. Bolsonaros autoritäres Projekt hängt nämlich von der Fähigkeit ab, einen inneren Feind zu konstruieren: die korrupte PT-Frau, der NGO-Vagabund, der Slum-Bandit, der Feminazi usw. – je nach Laune des Augenblicks wird er oder sie ausgewählt, um die reaktionären Anhänger*innen zu mobilisieren. Deshalb ließen sich mit Ausbruch der Pandemie in der Regierung richtiggehende Kurzschluss-Reaktionen beobachten. Denn was tun, wenn der Feind die Menschheit als Ganzes und nicht nur den Teil von ihr herausfordert, der am anfälligsten für Fake News ist? Wie kann man ein nekropolitisches Projekt aufrechterhalten, wenn alle im selben Boot sitzen oder wenn der Feind, die Feindin nicht mehr „entmenschlichbar“ ist, weil er oder sie gar kein Mensch ist?

Bisher hat sich die Strategie Bolsonaros mit allen Mitteln an das nekropolitische Modell geklammert. Sie versucht es auch jetzt. Gefährlicher als das „Grippchen“ Covid-19 sei die Allianz zwischen Gouverneuren, dem Präsidenten des Kongresses, Richtern des Obersten Gerichtshofs und dem Globo-Netzwerk, die sich mit ihrer Unterstützung von Maßnahmen des Social Distancing gegen Bolsonaros Bundesregierung verschworen hätten. Die Argumentation schwankt, ab und an werden auch besondere Risiken für ältere Menschen eingestanden. Dennoch ist es Bolsonaro in gewisser Weise gelungen, die nekropolitische Polarisierung neu zu erfinden, indem Menschen lastwagenweise auf die Straße gekarrt wurden, um gegen die soziale Isolation zu protestieren.

Auf der einen Seite stehen diejenigen, die dem Diskurs folgen, wonach das traditionelle politische System und das Globo-Netzwerk mit gesundheitspolitischen Maßnahmen das Kleinunternehmertum ruiniert und den wirtschaftlichen Tod der armen Bevölkerung provoziert. Auf der anderen Seite befinden sich diejenigen, die die Warnungen der Weltgesundheitsorganisation ernst nehmen und epidemiologische Diagramme zur Verteidigung von Massentests und sozialer Isolation als den effizientesten Weg zur Vermeidung tausender Todesfälle vorlegen. Die Negativfront von Bolsonaro hingegen fabriziert eine Kampagne, die im Kampf gegen das Virus Chloroquin und Hydroxychloroquin als Mittel der Wahl preist. Die Front verläuft nun zwischen Chloroquin- und Quarantäne-Anhänger*innen. Die Nekropolitik stellt vor die Wahl: wirtschaftlicher oder physischer Tod.

Während die Bundesregierung versucht, ihre Strategie der permanenten Mobilisierung gegen den inneren Feind neu zu erfinden, befreit sie sich von der Last der kommenden Wirtschaftskrise, indem sie die Bürgermeister*innen und Gouverneur*innen sowie die von ihnen getroffenen Maßnahmen verantwortlich macht. Sie entledigt sich ihrer Verantwortung für die soziale Krise und präsentiert sich gleichzeitig als Verteidigerin von Beschäftigung und Einkommen für prekäre Arbeitnehmer*innen. So plump stellt sich Bolsonaro das Szenario einer Eindämmung des Virus in Verbindung mit einer leichten Wirtschaftskrise vor. Er könnte sich dann als einziger Führer eines mächtigen Landes darstellen, der verstanden habe, dass das Heilmittel Isolation bitterer ist als die Heilung der Pandemie.

Kann dieser politische Trick Erfolg haben? Vieles hängt davon ab, ob die Unterstützung an der Basis stabil bleibt. Die Bolsonaro-Rechnung geht in etwa so: Wenn es bis zum Ende der Krise bei einer Unterstützung von etwa 20 Prozent der Wähler*innenschaft bleibt, kann er seine Amtszeit zu Ende bringen und hat Chancen auf eine Wiederwahl 2022. Diese Unterstützung würde ausreichen, kombiniert mit der Angst vor einer Rückkehr der Linken an die Macht. Doch schon vor 100 Jahren hat Max Weber an etwas erinnert: Wird der Glaube an die Erfüllung der göttlichen Verheißung, der die Gläubigen an den charismatischen Führer bindet, durch die Fragilität der Gnadenbeweise erschüttert, beginnt ein Interregnum der Nachdenklichkeit. Und dies endet oft damit, dass der Führer fallengelassen wird. Die Loyalität des Gläubigen gegenüber dem vermeintlich Auserwählten Gottes ist nie bedingungslos und kann zu einer dem Rosenkrieg gleichen Scheidung führen. Wenn die Arbeitslosigkeit weiter zunimmt, die Unterbeschäftigung explodiert und sich die Lebens- und Arbeitsbedingungen der Ärmsten verschlechtern, ist es durchaus möglich, dass wir erleben werden, wie sich die bisherigen Wahlverwandten neupfingstlicher Wohlstandsethik und plebejisches Wirtschaftsunternehmertum gegeneinander richten.

Übersetzung: Katja Maurer

Der Text des Soziologen Ruy Braga entstammt der von medico geförderten Website „Outras Palavras“, die hunderttausende Leser*innen in Brasilien hat. Das alternative Medium veröffentlicht zudem einen regelmäßigen Newsletter zur Gesundheit, die im Rahmen der brasilianischen Verfassung von 1988 als „Recht aller“ und „Pflicht des Staates“, proklamiert wurde: „Garantiert durch eine Sozial- und Wirtschaftspolitik, die darauf abzielt das Risiko von Krankheit zu verringern“. Lateinamerika hat sich mittlerweile zum Hotspot der Pandemie entwickelt und in Brasilien hat sich die politische Krise mit Corona grundlegend verschärft, deren möglicher Ausgang ein Ende der Demokratie mit sich bringen könnte. In dieser Auseinandersetzung ist eine informierte kritische Öffentlichkeit der Unterpfand für das demokratische Recht – auch auf Gesundheit.

Veröffentlicht am 18. Juni 2020

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