Syrien

Letzter Aufruf: Idlib

Wieder tote Zivilisten, wieder 12 zerstörte Kliniken, die bewusst attackiert wurden, wieder Menschen auf der Flucht. Syrien im neunten Jahr des Krieges. Von Till Küster

Seit Tagen bombardieren russische und syrische Kampfjets die Regionen Süd-Idlib und Nord-Hama in Syrien. Idlib ist die letzte Hochburg von Rebellen, Dschihadisten und der politischen syrischen Opposition. Hier leben 2,5 Millionen Menschen, viele von ihnen bereits Binnenflüchtlinge aus anderen Teilen Syriens, die vor Kämpfen flohen und nur noch in Idlib Schutz fanden. Genauso war Idlib einer der Orte, in die politische Oppositionelle und Aktivisten „evakuiert“ wurden – als Teil schmutziger Deals im Rahmen der Rückeroberungen anderer Gebiete durch das Regime und seiner Verbündeter. Auch Aktivisten der medico-Partnerorganisationen aus Erbin und Duma mussten ihrem Transport nach Idlib zustimmen, ihnen drohte sonst die Verhaftung oder Zwangsrekrutierung in Assads Armee.

Idlib wird aber auch zu weiten Teilen kontrolliert von der Al-Nusra-nahen Miliz Hayat Tahrir al-Sham, kurz HTS. Im letzten September einigten sich Russland und die Türkei auf einen Deal: Die Türkei entwaffnet und neutralisiert HTS, dafür verzichtet Russland auf weitere Angriffe auf die Region. Zusätzlich wurde eine demilitarisierte Zone rund um Idlib geschaffen, deren Einhaltung sowohl Russland als auch die Türkei garantieren sollten. Nichts von dem wurde erreicht: Die Dschihadisten wurden nicht entwaffnet, die vereinbarte Waffenstillstand wurde von allen Seiten mehrmals gebrochen. Und nun die Großoffensive durch syrische und russische Armee, die viele überraschte und von der keiner sagen will, wie weit sie gehen wird und welches Ziel syrische Armee und Russland eigentlich haben.

Die Menschen in Idlib sitzen in der Falle, ohne Fluchtoption vor den Kämpfen. Einige Tausend Menschen sind auf dem Weg nach Norden an die türkische Grenze, wo aber seit Monaten nur noch Schmuggler Menschen zu horrenden Preisen in die Türkei schleusen. Ein Zurück in von Assad kontrollierte Gebiete ist für die meisten keine Option, schließlich sind sie vor dem Regime geflohen: Millionen von Menschen in der Sackgasse, während Kampfjets über ihnen kreisen und Hubschrauber die bekannten und zerstörerischen Fassbomben abwerfen.

Wir haben uns an Kriegsverbrechen in Syrien scheinbar gewöhnt. medico hat wie viele andere vor der Katastrophe in Idlib gewarnt, all das ist unsere Hilflosigkeit, all das ist unsere Unfähigkeit zum Handeln.

Die Situation ist grotesk und eine erneute Bankrotterklärung der internationalen Gemeinschaft, insbesondere Europas: Wenige Kilometer südlich der Grenze des Nato-Partners Türkei sitzen Millionen von Menschen fest. Sowohl Russland, Iran und die Türkei haben rund um Idlib militärische Beobachtungsposten eingerichtet während seit Tagen nun die Kampfjets Städte und Dörfer im Süden Idlibs bombardieren. Die UN, der Westen, Europa, sie spielen schon lange keine Rolle mehr. Sollte erneut internationale Hilfe für die Zivilisten in dlib ausbleiben sind die Konsequenzen nicht auszumalen, sowohl was die Zahl der Toten aber auch die Größe der Fluchtbewegungen angeht.

Es gibt daher keine Alternative zu einer europäischen UN-Initiative für einen sofortigen Waffenstillstand, eine Trennung der Kriegsparteien, internationale Garantien und Schutz von Zivilisten in Hama und Idlib. Dies ist nicht die Lösung des syrischen Konfliktes, aber es könnte ein Weg sein, die nächste – und zumindest diese – humanitäre Katastrophe in Syrien abzuwenden.             

Veröffentlicht am 08. Mai 2019

Till Küster

Till Küster ist Politikwissenschaftler und bei medico international Leiter der Abteilung für transnationale Kooperation.

Twitter: @KuesterTill


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