Debatte

Kölner Silvesternacht meets Staatsräson

19.11.2024   Lesezeit: 6 min

In der Berichterstattung über Fußball-Gewalt von Amsterdam verbanden sich die schlimmsten Seiten des Migrations- und Nahost-Diskurses. Für die Zukunft des deutschen Journalismus lässt dies Schlimmes befürchten.

Von Fabian Goldmann

Wer sich in den letzten Tagen in deutschen Medien über die Gewalt rund um ein Fußballspiel in Amsterdam informieren wollte, bekam schnell den Eindruck, er habe sich auf einen rechtsextremen Islamhasser-Blog verirrt. Da war die Rede vom “Mob, der die Kontrolle über die Straßen übernommen hat” (BILD), von “muslimisch-arabischen Einwanderergruppen", deren “Hass hinter jeder Ecke lauern und jederzeit zuschlagen kann” (FAZ), von “antisemitischen Pogromen” (Die Zeit) und der “größten Bedrohung der Freiheit seit 1945” (Die Welt).

Rassistische Motive prägen seit Jahren den deutschen Migrationsdiskurs. In der Berichterstattung über die Ausschreitungen im Rahmen des Fußballspiel Ajax Amsterdam gegen Maccabi Tel Aviv kam nun noch ein neuer Aspekt hinzu: Die Einseitigkeiten und Irreführungen der Nahost-Berichterstattung. Die schlimmsten Seiten Seiten von Migrations- und Nahost-Diskurs verbanden sich und kulminierten in einer beispiellosen Eskalation: nicht auf den Straßen von Amsterdam, sondern in deutschen Redaktionen. 

Mit den Rettungsfliegern kam die Pogrom-Debatte

Das Problem der Debatte beginnt schon an ihrem Ursprung. Die Berichterstattung über Fußballfan-Gewalt in Amsterdam nahm nicht etwa mit Fußballfan-Gewalt in Amsterdam ihren Anfang - etwa anlässlich von Polizeimeldungen oder Social Media-Videos. Beides gab es schon anderthalb Tage zuvor, ohne dass Medien sich dafür interessierten. Die Debatte begann dort, wo seit dem 7. Oktober 2023 die meisten Nachrichten über den Krieg in Nahost ihren Ursprung nehmen: mit einem Presse-Statement israelischer Behörden. 

“Israel schickt Flugzeuge nach Krawallen in Amsterdam.” So lautete die erste dpa-Meldung am frühen Freitagmorgen des 8. Novembers. Viel Konkretes lieferte die Nachrichtenagentur nicht. Von Polizeiberichten über “Unruhen” in der niederländischen Hauptstadt ist die Rede. Noch sei nicht klar, von welcher Seite die Gewalt ausgehe. Sehr klar hingegen war die Deutung der Ereignisse, die Israels Regierung mit den Rettungsfliegern mitschickte. Premierminister Benjamin Netanjahu spreche von einem “schrecklichen Vorfall”, weitere israelische Politiker gar von einem “Pogrom”, schrieb die dpa und mit ihr dutzende Zeitungen.

Deutungen aus Tel Aviv, statt Fakten aus Amsterdam 

Die Story von den israelischen Fußballfans, deren Lage so gefährlich ist, dass sie mit Rettungsfliegern evakuiert werden müssen, landet in den nächsten Stunden in tausenden Medien in aller Welt. Immer mit an Bord: Die drastischen Bewertungen durch immer mehr Vertreter der israelischen Regierung. Allein der erste Tagesschau-Bericht zum Thema enthielt vier offizielle israelische Stimmen. Deren immer gleiche Botschaft: grundloser Angriff auf Juden, Antisemitismus, Pogrom.  Was in vielen Berichten hingegen fehlt: Fakten. 

Dass die israelische Darstellung nur bedingt etwas mit den realen Ereignissen in Amsterdam zu tun hat, lässt sich aus vielen der frühen Berichte überraschenderweise bereits herauslesen. Wer sich am frühen Freitagmorgen in Der Spiegel, Die Zeit oder Deutschlandfunk über die Ereignisse informiert, erfährt vom Herunterreißen palästinensischer Fahnen durch Fans von Maccabi Tel Aviv, von der Festnahme israelischer Randalierer durch die Amsterdamer Polizei, davon, dass es auch “Zusammenstöße von israelischen Fußballfans und Sicherheitskräften” gegeben habe.

Was nicht passt, wird passend gemacht

Erst in den  Stunden danach fügt sich die Darstellung so langsam der vorgegebenen Erzählung vom "antisemitischen Pogrom”.  Das Phänomen kennt man aus der deutschen Migrationsberichterstattung, etwa wenn Messerangriffe von migrantischen Tätern wie in Solingen wochenlange Debatten über “Ausländerkriminalität” und “Islamismus” auslösen, während von weißen Deutschen begangene Gewalttaten den meisten Medien nicht einmal eine Meldung wert sind.  Nicht die Deutung orientiert sich an den Fakten, die Auswahl der Fakten orientiert sich an der schon festgelegten Deutung. 

“Sie hatten gerade friedlich ein Fußballspiel gesehen und mussten plötzlich um ihr Leben rennen”, schreibt die BILD zu einem Zeitpunkt, als in internationalen Medien und auf Social Media längst vielfach glaubwürdige Berichte über Gewalttaten durch Maccabi-Fans kursieren. Auch das Publikum der Abendnachrichten von Tagesschau und ZDF Heute erfährt nichts mehr zur Gewalt der Maccabi-Fans. Stattdessen ist nun von “antisemitischen Ausschreitungen” die Rede - und von den Vergleichen von Israels Präsident Herzog (“Pogrom”) und Regierungschef Netanjahu (“Kristallnacht”).

Gute Opfer, schlechte Opfer

Der Weg von solchen einseitigen, zu offenkundig falschen Darstellungen ist im Migrations- und Nahost-Diskurs traditionell nicht weit. Weltweit verbreiten Medien ein Video, das Angriffe auf Maccabi-Fans zeigen soll. In Wahrheit ist das Gegenteil zu sehen: Nicht ein “arabischer Mob” (BILD) macht hier Jagd auf Juden, sondern israelische Fußballfans machen Jagd auf niederländische Passanten. 

Selbst dann noch, als die Urheberin des Videos, die Fotografin Annet de Graaf, auf den Fehler aufmerksam macht, behalten einige Medien die falsche Darstellung bei (BILD, Welt). Andere löschen das Video - teils mit Korrekturhinweisen, die kaum jemand zu Gesicht bekommt (Tagesschau und Süddeutsche). Auf die Idee, anhand des Videos nun auch über die Gewalterfahrung arabisch-niederländischeren Betroffener zu berichten, kommen Medien nicht. Gute Opfer, schlechte Opfer. Auch dieses Phänomen kennt man aus der deutschen Migrations- und Nahostberichterstattung. So erhalten Israelische gegenüber palästinensischen Opfern des Krieges in Nahost ein Vielfaches der medialen Aufmerksamkeit. Auch wenn in Deutschland, Muslime und Musliminnen Opfer von Straftaten werden, schauen viele Medien weg.

Nicht alle Medien berichten so einseitig. Auch in deutschen Redaktionen finden sich Medienschaffende, die sorgfältig recherchieren, Gewalttaten auf beiden Seiten benennen, konkrete antisemitische und rassistische Vorfälle identifizieren, und dennoch nicht pauschalisieren. Aber sie bleiben die Ausnahme von der Regel. Zu dieser Regel gehört spätestens seit dem 7. Oktober auch: Nüchterne Analysen zu Hintergründen, Motiven und Ursprüngen von Gewalt gibt es kaum. Jugendliche Perspektivlosigkeit, migrantische Diskriminierungserfahrungen, der toxische Zusammenhang von Fußball-Fan-Kultur und Gewalt und nicht zuletzt die Wirkung des Krieges in Nahost auf Menschen, die oftmals selbst Familie in der Region haben: Man muss nicht jeden Erklärungsansatz für ausschlaggebend halten, schon gar als Entschuldigung für Gewalttaten gelten lassen, aber man sollte sie als Journalist zumindest diskutieren. 

Früher rechtsextremes Manifest, heute Journalismus

Wo Fakten, Perspektive und Kontexte fehlen, entsteht umso mehr Raum für rassistische Stimmungsmache. Auch in dieser Hinsicht bringt die Amsterdam-Berichterstattung die schlimmsten Aspekte des Nahost- und Migrationsdiskurses zusammen. Verschwörungstheorien über Überfremdung und Unterwanderung, kulturkämpferische Erzählungen über den “zivilisierten Westen” und den “rückständigen Islam”,  entmenschlichende Bezeichnungen wie “Barbaren”, Pauschalurteile über “Araber” und “Muslime”, Holocaust-Vergleiche, martialische Forderungen nach Abschiebungen und Polizeigewalt… Die aktuelle Berichterstattung zeigt auch, wie sehr wir uns an solche einstigen Tabubrüche gewöhnt haben. Auf öffentlichen Widerspruch treffen sie kaum noch. 

Die Folge: Der gesamte Diskurs rückt immer weiter nach rechts. Wohin die Reise geht, konnte man am 8. November in Die Welt lesen. “Dieser Mob, der sich in Amsterdam gezeigt hat, ist der Feind des Westens, (...) der nichts anderes anzubieten hat als ein islamofaschistisches, reaktionäres und durchaus auch mittelalterliches Gesellschaftsbild”, schreibt Chefredakteur Ulf Poschardt, bevor die vermeintlichen Komplizen der “Barbarei” markiert: “zwangsgebührenfinanzierte Medien”, “Uni-Präsident:innen”, “steuerfinanzierte Kulturinstitutionen”, die SPD-Politikerin Sawsan Chebli, Friday for Future-Aktivistin Luisa Neubauer, die Linkspartei…  

Vor zehn Jahren fanden sich Verschwörungstheorien und Feindbildmarkierungen wie diese auf Pegida-Kundgebungen und in den Manifesten rechtsextremer Attentäter und sorgten für breite öffentliche Empörung. Heute stehen sie in einer der größten Tageszeitungen. Empörung gibt es keine mehr.

 

Fabian Goldmann ist freier Journalist und Islamwissenschaftler. Er kritisiert Medien gern und oft für ihre schiefe Islam- Migrations- und Nahostberichterstattung. Als Teil der Neuen deutschen Medienmacher*innen erklärt er ihnen dann, wie es besser geht. Was er sonst nirgends unterkriegt, landet bei „Schantall und die Scharia“, sein Blog und Podcast gegen Rassismus.


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