Die Proteste in Los Angeles und die militärische Reaktion der Trump-Regierung sind an Dramatik kaum zu überbieten. Eingewanderte wollen nicht vogelfrei werden. Trump will ihnen alle verbrieften Rechte mit militärischen Mitteln nehmen. Besonders hart trifft es die haitianische Gemeinde in den USA. Über einer halben Million Haitianer:innen entzog die Trump-Administration gerade handstreichartig den legalen Aufenthaltsstatus und droht mit ihrer Abschiebung nach Haiti.
Wohin werden sie abgeschoben? In ein Land, das nach Gaza einer der gefährlichsten Orte der Welt ist. Ein Zehntel der Bevölkerung, etwa 1 Million Menschen, haben die extrem brutalen bewaffneten Gruppierungen intern vertrieben, die Hälfte der Bewohner:innen leidet an akutem Hunger. Ohne die Rücküberweisungen aus den USA wären die Zahlen noch dramatischer. 2024 wurden 6500 Menschen von den Gangs erschossen. Krankenhäuser und Schulen funktionieren in weiten Teilen des Landes nicht. Abgeschoben wird in ein Land, in dem wie im nachfolgenden Interview Menschenrechtsorganisationen den Einsatz von Drohnen und US-Söldnern gegen die Gangführer begrüßen. Es ist ihre letzte verzweifelte Hoffnung, um nicht in einer Hölle zu enden, aus der es vorerst kein Entrinnen gibt.
Pierre Espérance, Direktor der Menschenrechtsorganisation Réseau National de Défense des Droits Humains (RNDDH), beobachtet die politische Entwicklung des Landes seit Jahrzehnten. Im Interview spricht der medico-Partner über das Scheitern internationaler Interventionen und die verspielte Verantwortung haitianischer Eliten – und er erklärt, warum er Verhandlungen mit den Gangs kategorisch ablehnt.

medico: Welche Auswirkungen hat die aktuelle US-Politik, wie zum Beispiel die Streichung der Gelder der US-Entwicklungsagentur USAID, auf Haiti?
Pierre Espérance: Die Art und Weise, wie USAID das Geld in Haiti ausgegeben hat, war nicht unproblematisch, weil damit immer neue Abhängigkeiten geschaffen wurden. Aber immerhin waren sie die einzigen, die sich in Haiti um die Versorgung von Aids-Kranken gekümmert haben – sowohl was die Ausgabe von anti-retroviralen Medikamente betrifft als auch soziale Programme zur Unterstützung von Betroffenen. Natürlich haben die USA keine Menschenrechtsarbeit unterstützt. Die US-Regierungen hatten kein Interesse daran, die haitianische Zivilgesellschaft zu stärken, da diese ihre Aktivitäten im Zweifel kritisch betrachten würde. Die Kürzungen sind eine weitere Katastrophe, auch wenn ich die bestehenden Abhängigkeitsstrukturen kritisiere.
Zerstört die Trump-Regierung ein System sozialer Abfederung, das frühere US-Regierungen seit den 1990er-Jahren in Zusammenarbeit mit internationalen NGOs mit aufgebaut haben?
So ist es. Haiti gilt als Republik der NGOs. Das könnte Trump jetzt beenden. Hinzu kommt, dass die Trump-Administration den temporären Schutz für Haitianer:innen in den USA aufgehoben hat. Dies könnte zur Folge haben, dass eine halbe Million in den USA lebender Haitianer:innen sehr schnell zurückgeschickt werden. Das wäre völlig verrückt. Die USA sind die wichtigsten finanziellen Unterstützer der internationalen Polizeimission in Haiti, die helfen soll, die Gewalt lokaler Gangs zu bekämpfen. Trump hatte angekündigt, die internationale Mission weiter fördern zu wollen. Jetzt verschärfen sie das Problem. Außerdem diskutiert die US-Administration gerade die Möglichkeit, die monetären Rücküberweisungen in den USA lebender Migrant:innen aus Lateinamerika und der Karibik massiv zu besteuern. Eine der wichtigsten Einnahmequellen für Familien in Haiti könnte so erheblich eingeschränkt werden.
Der Oberste Gerichtshof in den USA hat zudem zugestimmt, dass Menschen, die mit dem Biden-Programm seit Herbst 2022 ein temporäres Visum bekamen, ihren Aufenthaltsstatus verlieren. Das betrifft 500.000 Menschen aus Haiti, Venezuela, Cuba und Nicaragua, die sich in den USA aufhalten. Haitianer:innen stellen mit über 200.000 den größten Anteil.
Auch die Biden-Administration hat viele Haitianer:innen deportiert. Worin unterscheidet sich Trumps Politik von der seiner Vorgänger?
Biden hat Leute zurückgeschickt, die keinen legalen Aufenthaltstitel besaßen oder zuvor im Gefängnis waren. Auch das war problematisch. Jetzt geht es aber um Menschen, die seit Jahren und Jahrzehnten legal in den USA leben, die vielleicht sogar dort geboren wurden. Das ist völlig inakzeptabel.
Ein zentraler Bestandteil der US-Politik in Haiti ist die internationale Polizeimission, die zwar vom UN-Sicherheitsrat genehmigt, aber maßgeblich von den USA finanziert wird. Sie ist seit über einem Jahr im Einsatz – doch in dieser Zeit haben die bewaffneten Gangs an Einfluss gewonnen. Wie erklären Sie sich das?
Die internationale Polizeimission ist nicht sehr gut ausgestattet. Zurzeit befinden sich circa 1.000 internationale Polizisten in Haiti. Aber sie haben nicht einmal genügend gepanzerte Fahrzeuge, um zeitgleich 200 Polizisten von einem Ort zum anderen zu bringen. Auch die Ausstattung reicht gerade mal für 300 Einsatzkräfte. Der Rest sitzt nur herum. Schlimmer noch ist, dass die haitianische Polizei so schlecht ausgerüstet ist. Die internationale Mission kann aber ohne die haitianische Polizei nichts unternehmen. Sie hat ja den klaren Auftrag, letztere zu unterstützen.
Das klingt, als sei es von Anfang an eine sehr halbherzige Unternehmung gewesen?
Gäbe es den politischen Willen, die beiden Kräfte anständig auszustatten, könnte man Einiges gegen die Gangs erreichen. Ich selbst war von Anfang an skeptisch. Meiner Meinung nach wäre es besser gewesen, auf die haitianische Polizei zu setzen und diese gut auszustatten.
Würden Sie sagen, dass der Versuch internationaler Unterstützung gescheitert ist?
Ich rede ungern über die internationale Mission, lieber werfe ich den Blick auf die Möglichkeiten vor Ort. 2022 hatten wir noch 14.000 Polizisten. Jetzt sind es nur noch 6000. Viele haben das Land verlassen, weil die Sicherheit ihrer Familien bedroht war. Auch der Lohn kam nicht regelmäßig. Das Justizsystem funktioniert nicht. Die Polizei nimmt ein Gangmitglied fest und die Justiz lässt ihn wieder laufen. Die Polizei ist zurecht verängstigt, weshalb viele das Land verlassen haben. Manche wurden von dem Biden-Programm akzeptiert. Andere haben versucht, über Mexiko in die USA zu gelangen, manche sogar mit dem Boot. Sie haben gute Gründe.
Was genau passiert im haitianischen Justizsystem?
Wir haben gerade einen ausführlichen Bericht über das erste Jahr seit der Einrichtung des präsidialen Übergangsrats veröffentlicht. 80 Prozent der Inhaftierten warten auf ihren Prozess. Der erstinstanzliche Gerichtshof in Port-au-Prince funktioniert nicht. Dabei ist er extrem wichtig, weil hier die meisten Gang-Verbrechen verhandelt werden. Das Gericht wurde von seinem eigentlichen Standort vertrieben. Daraufhin haben hohe Regierungsmitglieder mit großem Pomp das neue Gebäude eingeweiht. Die Räume sind aber vollkommen ungeeignet. Es gibt keinen Strom, keine Computer, viel zu wenig Platz. So viel zum politischen Willen, ein funktionierendes Justizsystem aufzubauen.
Welche Bilanz ziehen Menschenrechtsorganisationen mit Blick auf die von den USA und den Caricom-Staaten, also der Karibischen Gemeinschaft, eingerichtete Übergangsregierung?
Die internationalen Akteure begnügen sich gern mit kosmetischen Maßnahmen. Der präsidiale Übergangsrat besteht aus sieben Personen und zwei Beobachtern. Gegen drei seiner Mitglieder gibt es erhebliche Korruptionsvorwürfe. Sie sind dennoch weiter im Rat involviert. In unserem Bericht zur Jahresbilanz des Übergangsrates haben wir festgestellt, dass er sehr viel Geld verschlingt. Die Politiker sorgen vorwiegend dafür, dass sie und ihre Ehefrauen gute Gehälter und Auslandsreisen in teuren Hotels bekommen. Gerade hat der haitianische Präsident Jean Fritz versucht, die unsinnige Ernennung von Botschaftspersonal zu verhindern. Die Zahlt geht in die Hunderte. Regierungsposten sind eine reine Bereicherungsmachinerie. Auf Jean Fritz hat niemand gehört. Die Posten wurden besetzt. Das ist vollkommen unangemessen, wenn man sich das Drama anschaut, das die Mehrheit der haitianischen Bevölkerung erleidet. Diese Politiker sind Teil des Problems.
Die Gangs stehen derzeit kurz vor der Übernahme von Port-au-Prince: Sie kontrollieren den Flughafen und weite Teile der Hauptstadt. Inzwischen stehen auch Mirebalais und große Teile des landwirtschaftlichen Zentrums Artibonite unter ihrer Kontrolle. Sehen wir hier den Kollaps des haitianischen Staates?
Zuallererst muss man betonen, dass es keine Strategie zur Bekämpfung der Gangs gibt. Das macht auch einen Teil ihrer Macht aus. Ich sehe schlicht keinen politischen Willen, die Gangs ernsthaft zu bekämpfen. Die eingesetzte Regierung müsste sich darum bemühen, die Polizei sachgerecht auszustatten. Vor der Ermordung des Politikers Jovenel Moïse im Sommer 2021 kontrollierten die Gangs etwa 45 Prozent des Metropolengebiets. Unter dem von der internationalen Gemeinschaft, also der UNO und den USA, eingesetzten Ministerpräsidenten Ariel Henry hat sich ihr Terrain verdoppelt. Heute kontrollieren sie fast 90 Prozent der Metropolregion.
Was, wenn die Gangs die Metropolregion vollständig unter ihre Kontrolle brächten?
Noch fehlt ihnen dazu die Macht. Aber sie sind entschlossen, das Land komplett zu übernehmen. Seit zwei Jahren hat es keine größeren Auseinandersetzungen unter den Gangs gegeben.
Wenn die Gangs so nahe vor der Machtübernahme stehen, wäre es da nicht an der Zeit, über Verhandlungen mit ihnen nachzudenken?
Ich bin fundamental dagegen. Ich bezeichne diese Gangs als Terroristen. Sie terrorisieren das ganze haitianische Volk. Was soll man mit ihnen besprechen? Als ich vor zwei Jahren in Deutschland war, hatten wir noch eine ganz andere Situation im Land. Es gab Krankenhäuser und Apotheken, der Flughafen funktionierte, die Schulen waren offen. Heute morden die Gangs wahllos. Im November letzten Jahres haben sie sogar auf zwei Flugzeuge geschossen.
Kürzlich haben Sie den Einsatz von US-Söldnern unter Führung des Blackwater-Unternehmers Erik Price und Drohnen bei der Bekämpfung der Gangs begrüßt. Warum?
Jede Möglichkeit, die Gangs zu stoppen und die Gangführer an der Machtübernahme zu hindern, müssen wir jetzt nutzen. Ich verlange die Offenlegung der Vereinbarung mit Blackwater und verlange, dass es keine zivilen Opfer beim Drohnen-Einsatz geben darf. Aber Verhandlungen mit Gangführern darf es nicht geben. Das wäre eine Verhöhnung der Opfer.
Die Erfahrungen mit Drohneneinsätzen und auch mit ausländischen Söldnern im sog. Krieg gegen den Terror sprechen nicht für eine erfolgreiche Strategie. Menschenrechtsverletzungen haben damit enorm zugenommen, für die keiner zur Verantwortung gezogen wurde und der Krieg, beispielsweise in Afghanistan, ging trotzdem verloren. Was soll in Haiti anders sein?
Wir haben keine Wahl. Die Gangführer sind im Blut gewatet. Sie stehen in der Tradition der Tonton Macouts, die uns unter der Duvalier-Diktatur 50 Jahre lang terrorisiert haben. Mit ihnen können wir nicht verhandeln.
Es häufen sich Berichte, dass in mehreren Stadtvierteln in Haiti Strukturen zur Selbstverteidigung entstehen.
Das ist nicht so bedeutsam, wie es klingt. Es kann nur helfen, wenn die Polizei unterstützend eingreift. Womit wollen sich die Leute verteidigen? Mit Messern und Macheten? Die Gangs sind mit den besten Waffen aus den USA ausgestattet.
Was bedeuten diese Entwicklungen für das Menschenrechtsnetzwerk RNDDH?
Wir stellen uns jeden Tag die Frage, wie lange wir noch arbeiten können. Die Gangs können uns jederzeit vertreiben. Solange wir können, arbeiten wir als Menschenrechtsorganisation dafür, dass Menschenrechte auch in Haiti und für seine Bevölkerung gelten. Solange werde ich mit Politiker:innen reden und Artikel in US-Zeitungen schreiben. Ich spreche auch in Europa mit Politiker:innen. Und immerhin erlebe ich, dass sie mir zuhören und offen sind für das, was ich zu erzählen habe. Aber ob sie an dem Thema dranbleiben, kann ich nicht beurteilen.
Was raten Sie europäischen Politiker:innen?
Sie sollen nicht allein auf die internationale Polizeimission setzen, sondern insbesondere die haitianische Polizei unterstützen. Die EU unterstützt die Durchführung von Wahlen, die Ende des Jahres geplant sind. In meinen Gesprächen versuche ich klar zu machen, dass legitime Wahlen unter den gegenwärtigen Bedingungen nicht durchführbar sind. Insofern ist das Beharren auf baldigen Wahlen ein Witz. Leider beteiligt sich die EU daran. Das sind die kosmetischen Lösungen, von denen ich oft spreche. Für Wahlen benötigen wir ein Minimum an Sicherheit, damit sich die Leute überhaupt trauen, zu den Wahlurnen zu gehen. Nur aus formalen Gründen an der Durchführung von Wahlen festzuhalten ist zynisch.
Wie ist Ihre persönliche Sicherheitssituation?
An immer neue Morddrohungen habe ich mich gewöhnt, soweit das geht. Bis jetzt ich lebe in meinem Haus. Aber viele meiner Kolleg:innen teilen das schreckliche Schicksal der Vertreibung. Was ich machen werde, wenn es mich treffen sollte, weiß ich nicht. Ich kann nirgendwo anders hin. Ich lebe jeden Tag, ohne zu wissen, was der nächste bringt. Ich habe auch kein Visum für ein anderes Land. Ich kann nur in Haiti bleiben.
Das Interview führte Katja Maurer.
medico international unterstützt das haitianische Menschenrechtsnetzwerk (RNDDH), das unter den bürgerkriegsähnlichen Umständen alle damit im Zusammenhang stehenden Verbrechen dokumentiert. Morddrohungen gegen ihre Mitarbeiter:innen sind üblich. Aber das Büro ist immer besetzt – in der Hoffnung, dass eines Tages die herrschende Straflosigkeit endet.