Bangladeschs Textilsektor

Ein Modell für Gesundheit und Würde

10.09.2025   Lesezeit: 5 min  
#basisgesundheit 

Auf eigene Faust: Wie medico-Partner eine kollektive Krankenversicherung für marginalisierte Arbeiter:innen einführen.

Von Dr. Andreas Wulf

In Bangladeschs Textilindustrie arbeiten Millionen Menschen für niedrige Löhne und unter teils gefährlichen Bedingungen. Die medico-Partnerorganisation Gonoshasthaya Kendra (GK) versucht seit Jahren, dem etwas entgegen zu setzen – mit kollektiven Krankenversicherungen, eigenen Kliniken und pragmatischen Reformideen. Ein Überblick, wie Gonoshasthaya Kendra Druck auf Politik und Unternehmen ausübt.

In den großen Industriebetrieben des 19. und 20. Jahrhunderts in Europa setzten Arbeiter:innen und gewerkschaftliche Organisationen in jahrzehntelangen Kämpfen nicht nur bessere Löhne, kürzere Arbeitszeiten und besseren Arbeitsschutz durch. Es entstanden damals auch die ersten Betriebskrankenkassen, die Gesundheitsversorgung im Krankheitsfall finanzierten. An einer ähnlichen Entwicklung ist heute der langjährige medico-Gesundheitspartner Gonoshasthaya Kendra (GK) in Bangladesch beteiligt.

Der Textilsektor ist Bangladeschs zentraler Wirtschaftsmotor: Er erwirtschaftet rund 80 Prozent aller Exporte – insbesondere nach Nordamerika und Europa – und einen erheblichen Anteil der Deviseneinnahmen. In der Branche arbeiten nach Schätzungen bis zu vier Millionen Menschen, mehr als die Hälfte sind junge Frauen. Für viele von ihnen bedeutet diese Arbeit ein Stück ökonomische Selbstständigkeit, sprich weniger Abhängigkeit von Familie und Ehemann.

Zwar sind die Löhne in Bangladesch in den vergangenen Jahren infolge von gewerkschaftlicher Organisierung und Arbeitskämpfen gestiegen. Doch unter dem Druck der internationalen Konkurrenz im „ready made garment“-Sektor bleiben sie bis heute prekär – mit geschätzten 80 bis 100 US-Dollar pro Monat, weit unterhalb des Existenzminimums von circa 200 US-Dollar. In Bangladeschs Satellitenstädten Ahulia, Panishail und Tongi rund um die Hauptstadt Dhaka, wo die meisten Textilfabriken angesiedelt sind, ist diese Kluft bis heute deutlich spürbar.

Die überlangen Arbeitszeiten, Akkordarbeit und fehlender Arbeitsschutz gefährden die Gesundheit der meist jungen Arbeiter:innen erheblich. Arbeitsunfälle sind an der Tagesordnung. Die Katastrophe des Rana-Plaza-Einsturzes 2013, bei der Hunderte Menschen ums Leben kamen, ist im kollektiven Gedächtnis des Landes bis heute präsent. Gonoshasthaya Kendra war damals in der unmittelbaren Nothilfe und Rehabilitation der Verletzten aktiv.

Die Katastrophe von damals führte zu strengeren Arbeitsschutzgesetzen und zur Ausweitung der gesetzlichen Unfallversicherung – auch wenn deren Umsetzung lückenhaft bleibt. Heute sind Unternehmen verpflichtet, einen Beitrag für die Krankenversicherung ihrer Beschäftigten zu leisten. In der Praxis wird diese jedoch oft von privaten Anbietern geleistet – und der Versicherungsschutz bleibt für viele Arbeiter:innen schwer zugänglich.

Deshalb hat Gonoshasthaya Kendra – bereits vor der Rana-Plaza-Katastrophe – damit begonnen, ein weiteres Arbeitsfeld zu eröffnen: eine Krankenversicherung für die Arbeiter:innen in diesen Textilfabriken. Für eine Organisation, deren Schwerpunkt lange auf der Verbesserung der ländlichen Gesundheitsversorgung lag, war dies Neuland.

In den ländlichen Gebieten arbeiteten die GK-Mitarbeiter:innen vor allem mit dörflichen Strukturen und lokalen Autoritäten zusammen. Die größten Herausforderungen lagen bei der Mutter-Kind Gesundheit, rund um Schwangerschaft, Geburt und Säuglingsalter, die schwierige Erreichbarkeit von Kliniken in Notfällen. Die urbanen Lebenswelten hingegen sind geprägt von Mobilität, komplexen sozialen Konflikten und den Gesundheitsrisiken der Industriearbeit und Umweltverschmutzung wie Smog. Auch in der Organisierung unterscheiden sich die Akteure: Statt Dorfgemeinschaften stehen in den Städten Gewerkschaften und Textilunternehmen im Mittelpunkt.

In den vergangenen Jahren gelang es Gonoshasthaya Kendra, durch kontinuierliche Überzeugungsarbeit mehrere Textilfabriken als „Kollektiv-Versicherer“ zu gewinnen. Heute sind in fünf Betrieben zwischen 500 und 16.000 Arbeiter:innen versichert – darunter auch ECHOTEX, das mit eigenen Marken vor allem auf dem britischen Markt präsent ist. Der jährliche Beitrag pro versicherter Person liegt bei lediglich 600 Taka, rund 4,30 Euro – weniger als 0,5 Prozent des Monatslohns.

Überzeugen kann dabei insbesondere das breite Angebot der Organisation: Neben der ambulanten Betreuung in kleinen Gesundheitsstationen während der Arbeitszeit können die Beschäftigten auch die regionalen GK-Zentren und das Krankenhaus im nahegelegenen Savar nutzen. Damit lassen sich auch komplexere Gesundheitsprobleme behandeln. Und die GK-Einrichtungen stehen den Arbeiter:innen auch außerhalb ihrer Arbeitszeiten offen.

Allerdings reichen die Versicherungsbeiträge der Unternehmen in der Regel nicht aus, um alle Kosten von Gonoshasthaya Kendra, einschließlich der Administration, zu decken. Das Projekt ist daher weiterhin auf externe Zuschüsse angewiesen, zu denen medicos Unterstützung wesentlich beiträgt.

Gonoshasthaya Kendra verfolgt die Strategie, mehr Unternehmen für das Versicherungsmodell zu gewinnen, um langfristig kostendeckend arbeiten zu können. Die naheliegende Lösung, die Beiträge zu erhöhen, erweist sich bislang jedoch als kaum umsetzbar: Viele Firmen würden sofort zu jenen Versicherern wechseln, die lediglich den gesetzlichen Mindestbetrag verlangen. Politisches Lobbying für eine stärkere Beteiligung der Unternehmen bleibt also notwendig und ist GK aus den Jahrzehnten ihrer Arbeit nicht fremd.

Die bisherigen Erfahrungen sprechen für das Modell – und für seine Ausweitung. Unabhängige Auswertungen von der Universität Dhaka zeigen, dass Arbeiter:innen Gonoshasthaya Kendras Gesundheitsdienste heute schneller und ohne zusätzliche Kosten nutzen können. Viele wünschen sich eine Erweiterung der Versicherungsleistungen. Auch für die Unternehmen haben sich die Angebote bewährt: Die Arbeitsplatzzufriedenheit spielt eine wichtige Rolle im Wettbewerb um Fachkräfte im Textilsektor.

Damit die Gesundheitsversorgung substantiell verbessert werden kann, bräuchte es jedoch mehr: insbesondere verbindliche Vorgaben der zuständigen Arbeitsbehörden. Vor allem müssten die bislang extrem niedrigen Versicherungsbeiträge im Textilsektor – und darüber hinaus – schrittweise angehoben werden.

Tatsächlich hat die Reformkommission für das Gesundheitswesen, die nach dem Sturz der Awami League im Sommer 2024 von der Übergangsregierung eingesetzt wurde, zahlreiche Vorschläge vorgelegt – insbesondere zur Stärkung des öffentlichen Gesundheitssektors. Gonoshasthaya Kendra war an diesen Debatten beteiligt, viele der diskutierten Ideen tragen die Handschrift der Organisation. Zugleich weisen die GK-Kolleg:innen zurecht darauf hin, dass ähnliche Vorschläge bereits vor 30 Jahren gemacht wurden – und dass ihre Umsetzung heute, im Rahmen eines stark privatisierten Gesundheitssystems, noch schwieriger geworden ist als damals.

Mit der Gesundheitsversicherung im Textilsektor bleibt Gonoshasthaya Kendra seinem pragmatischen Ansatz treu: funktionierende Strukturen aufzubauen, die Druck auf Politik und Behörden erzeugen, damit tatsächliche Verbesserungen erfolgen. Oder, in den Worten des GK-Gründers Zafrullah Chowdhury: Small is beautiful, but big is necessary.”

Seit mehr als 50 Jahren streitet die medico-Partnerorganisation Gonoshathaya Kendra (GK) in Bangladesch dafür, dass sich die desolate Gesundheitsversorgung und krankmachende Lebens- und Arbeitsbedingungen in den ländlichen und städtischen Gegenden des Landes sowie in den zahlreichen Textilfabriken im Großraum der Hauptstadt Dhaka verbessern. Sie können die Arbeit von GK mit einer Spende unterstützen! 

Andreas Wulf

Andreas Wulf ist Arzt und seit 1998 bei medico international. Er ist Nothilfe-Referent und arbeitet zu Themen globaler Gesundheit.


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