Kommentar

Grünes Licht für Rücksichtslosigkeit

Deutschland hat ein europäisches Lieferkettengesetz sabotiert. Ist die deutsche Wirtschaft nur wettbewerbsfähig, wenn sie Arbeitsschutz- und Umweltrechte missachtet?

Von Karin Zennig

Am 24. April 2013 stürzte in Bangladesch die Textilfabrik Rana Plaza ein. 1135 Menschen starben, 2438 wurden verletzt, viele von ihnen schwer und auf Dauer. In dem neunstöckigen Fabrikgebäude in der Stadt Savar, nahe der Hauptstadt Dhaka, hatten unter anderem große westliche Marken T-Shirts, Hosen und anderes produzieren lassen. Der Fall Rana Plaza war beileibe nicht der einzige, aber doch der prägnanteste Vorfall dieser Art, der einer europaweiten Initiative Rückenwind verlieh, die Arbeitsbedingungen in den weltweiten Lieferketten zu verbessern. Das ist über zehn Jahre her. Doch ein europäisches Lieferkettengesetz wird es auf absehbare Zeit nicht geben.

Eigentlich hatten sich die Unterhändler der EU-Länder und des Europaparlaments bereits im Dezember auf einen Entwurf für ein Lieferkettengesetz geeinigt. Unternehmen mit Sitz in der EU, mindestens 500 Beschäftigten und einem weltweiten jährlichen Mindestumsatz von 150 Millionen Euro sollten für ihre Lieferketten die Verantwortung übernehmen: Kinder- und entrechtete Arbeit verhindern, Mindestlöhne und Arbeitsschutz absichern, Umweltauflagen einhalten und dafür sorgen, dass verwendete Chemikalien und Giftstoffe fachgemäß entsorgt werden. Die Abstimmung der EU-Mitgliedsländer über den Gesetzesentwurf im Februar 2024 galt nur noch als Formsache. Doch in letzter Minute kündigte die FDP an, der Gesetzesinitiative nicht zustimmen zu wollen. Die Enthaltung der Bundesregierung löste eine Kettenreaktion aus. Schließlich stimmten vierzehn EU-Mitgliedsstaaten gegen das Gesetz.

Die FDP begründete ihre Ablehnung damit, dass sich deutschen Unternehmen keine zusätzlichen Belastungen leisten könnten. Die deutsche Wirtschaft ist also nur wettbewerbsfähig, wenn sie Arbeitsschutz- und Umweltrechte missachtet? Der viel beschworen deutsche Mittelstand nur lebensfähig, wenn man es mit Menschenrechten nicht so genau nimmt? Grünes Licht für rücksichtslose Unternehmenspraktiken.

Die Einhaltung basaler Standards gilt auch der deutschen Industrie- und Handelskammer, die der FDP sofort beisprang, als zu vermeidender Aufwand. Überraschen kann das nicht. Gemacht wird, was geht und die Kosten senkt. Zum Beispiel Belegschaften den Verzicht auf Lohn abpressen, indem mit einer Standortverlagerung gedroht wird. Ganze Industrien wurden ins Ausland verlegt. Doch nachdem die lokale Gesetzgebung die gröbsten Auswüchse eindämmte und Standards, wenn auch niedrige, für Arbeits-, Umwelt und Gesundheitsschutz setzte, zog die Produktion weiter. In der Textilproduktion beispielsweise von Indien nach Bangladesch und Pakistan, von der Türkei nach Indonesien und Sri Lanka. Begünstigt durch den Siegeszug des Neoliberalismus entstand das Prinzip des sogenannten Güterkettenkapitalismus. Jede nationale Schutzbestimmung gilt als Handelshemmnis und wird versucht, über Freihandelsabkommen zu beseitigen. Denn der Markt regelt und er regelt gut.

Wie der Markt regelt, konnte man eindrücklich an der Entstehung des deutschen Lieferkettengesetzes verfolgen: nichts. Nachdem die Politik an Unternehmen appelliert hatte, sich freiwillig zur Einhaltung bestimmter Standards in der Produktion zu verpflichten, fiel die Resonanz so ernüchternd aus, dass sich die Bundesregierung zu einer gesetzlichen Regelung genötigt sah. Das Ergebnis ist schwach im Vergleich zum relativ weitreichenden Entwurf europäischen Gesetzesentwurf, den die FDP vom Tisch gefegt hat.

Sind Standards nicht zwingend und werden sie nicht kontrolliert, dann werden sie umgangen, unterlaufen oder absichtsvoll verletzt. Nicht manchmal, sondern systematisch. Das Ergebnis sind keine Unfälle – jeder einzelne Vorfall, jede eingestürzte Fabrik, jede Verkrüppelung, jede Grundwasservergiftung wäre vermeidbar. Funktionsfähige Kontrollinstanzen gegen diesen kapitalistischen Eigensinn durchzusetzen würde deswegen in der Tat mehr Aufwand bedeuten als bisher.

Gescheitert ist vergangene Woche deswegen nicht nur eine Gesetzesinitiative. Gescheitert ist die moralische Erzählung der westlichen Marktwirtschaft, in der Politik in der Lage ist, die Ausbeutungsinteressen von Unternehmen zu regulieren. Dass die politische Bankrotterklärung nicht der Haltung der europäischen Bevölkerung entspricht, in Deutschland noch nicht einmal dem Willen der Wähler:innenbasis der FDP, lässt hoffen. Das hat eine repräsentative Befragung des Netzwerkes Lieferkettengesetz gezeigt, dem auch medico angehört.

Die Erfahrung mit dem deutschen Lieferkettengesetz zeigt indes, dass es nur da wirkt, wo seine Umsetzung von Betroffenen aktiv eingefordert wird. Kontroll- und Beschwerdemechanismen zur Verbesserung der Standards unternehmerischer Praktiken, Zulieferbetriebe, Subunternehmen und Auftragsketten entfalten nur da ihre Wirkung, wo sie angerufen werden. Ohne Netzwerke von Betroffenen und starke lokale Gewerkschaften, die ihre Rechte kennen und auf deren Einhaltung bestehen, wird auch ein noch so gutes Lieferkettengesetz die augenscheinlichsten Missstände nicht beenden.

medico unterstützt seit vielen Jahren die Kämpfe von Textilarbeiter:innen in Pakistan und Bangladesch gegen Ausbeutung, für Entschädigung und das Recht auf gewerkschaftliche Organisation.

Veröffentlicht am 11. März 2024

Autorin Karin Zennig

Karin Zennig ist bei medico in der Öffentlichkeitsabteilung für die Region Südasien und das Thema Klimagerechtigkeit zuständig. 

Twitter: @KarinZennig


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