Südafrika

Frantz Fanon hatte gewarnt

Vor 75 Jahren wurde in Südafrika das Apartheid-System eingeführt. Über die lange Geschichte des Widerstandes und der medico-Arbeit.

Von Usche Merk

„Beim Protest ist Südafrika Weltmeister“, sagt Omhle Ntshingila vom Netzwerk Right2Protest, die ich im Zuge meiner Dienstreise im August in Johannesburg treffe. „Jährlich gibt es rund 9.000 Aktionen. Aber so sehr wir das Recht auf Protest mit unserer demokratischen Verfassung vor fast 30 Jahren erkämpft haben: Proteste werden immer mehr verfolgt und unterdrückt.“ Omhle betreut die Hotline für verfolgte Aktivist:innen und reicht mir einen Bericht mit dem Titel „Verfolgungserfahrungen von Aktivist:innen in Südafrika”. In dem Vorwort von S’bu Zikode, Präsident der Landlosenbewegung Abahlali baseMjondolo, schreibt er: „Mehr als ein Vierteljahrhundert nach dem Ende der Apartheid werden Millionen von armen Menschen weiterhin unterdrückt. Uns wird Land, Wohnraum, Arbeit, Einkommen, angemessene Bildung und Gesundheitsfürsorge verweigert, und wir werden vom Staat in Krankenhäusern, Schulen und natürlich von der Polizei mit Verachtung gestraft. Unsere Würde wird tagtäglich angetastet. (...) Unterdrückung bedeutet nicht nur, dass wir, die wir arm gemacht wurden, arm bleiben. Sie bedeutet auch, dass von uns erwartet wird, dass wir in den dunklen Ecken der Gesellschaft bleiben und schweigen, während andere über uns und für uns sprechen, während andere für uns entscheiden. Wenn wir die materiellen Bedingungen unserer Unterdrückung in Frage stellen, indem wir Land besetzen, Häuser, Hallen, Krippen und Gärten bauen und Besetzungen zu Kommunen entwickeln, stoßen wir auf Repression, auf Gewalt seitens des Staates und der herrschenden Partei, die einst eine Befreiungsbewegung war. Aber wir sind nicht das einzige Land, das diesen Schock erleidet. Frantz Fanon hat uns davor gewarnt.“

Ich hatte Zikode einige Tage zuvor getroffen. Dabei erzählte er mir, wie brutal gegen ihre Bewegung vorgegangen wird. 24 Führungspersonen seien in den letzten zehn Jahren Attentaten zum Opfer gefallen. „Unsere Bewegung bewegt sich von Begräbnis zu Begräbnis.“ Ich bin verstört, heute Berichte zu lesen und zu hören, die mich an Erfahrungen aus dem Jahr 1986, zu Zeiten der Apartheid, erinnern, als ich zum ersten Mal in Südafrika war. Wie kommt es, dass sich diese gewaltsamen Strukturen extremer Ungleichheit und Unterdrückung immer wieder reproduzieren?

Die Geburt der Apartheid

Das System der Apartheid wurde 1948 – vor genau 75 Jahren – von der burischen Nationalpartei in Südafrika eingeführt, just in dem Jahr, in dem die UN die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte beschloss. Südafrika sah sich gleichwohl als Teil des Westens und wurde auch als solcher behandelt. Es gab enge Geschäftsbeziehungen mit europäischen Ländern. Apartheid, das war die legalistische Erfindung einer rassistischen Raumordnungs- und Ausgrenzungspolitik, die unter dem Slogan „Separate but equal“ strukturelle Gewalt und rassistische Herrschaft durch mehr als eintausend Gesetze absicherte. Vor dem Hintergrund einer durch Kolonialismus und Versklavung entstandenen Siedlerökonomie, die für den Bergbau und die kommerzielle Landwirtschaft massenweise billige Arbeitskräfte verlangte, wurde ein komplexes System rassifizierter, hierarchisch geordneter „Identitäten“ geschaffen, denen eigene Territorien zugewiesen wurden.

Für die verschiedenen Gruppen der Schwarzen Bevölkerung waren das in den Städten die „Townships“, auf dem Land verschiedene „homelands“, die mit eigenen Schulen, Gesundheitseinrichtungen und zum Teil „Selbstverwaltungen“ ausgestattet wurden. Mehr als 3,5 Millionen Menschen wurden zwangsumgesiedelt, ihres Landes und Eigentums beraubt. Sie wurden in lagerähnliche, militärisch bewachte und weit außerhalb des Stadtzentrums liegende Townships oder abgelegene „Homelands“ gezwungen. Mit Hilfe komplizierter Passsysteme und dem Entzug der Staatsangehörigkeit wurde die Schwarze Mehrheit zu Migrant:innen im eigenen Land gemacht, die für die Arbeit und den Aufenthalt im „weißen“ Südafrika Erlaubnisscheine brauchte.

Zur psychologischen Kontrolle wurden Instrumente der „Petty Apartheid“ eingeführt. Diese reichten von der „Bantu Education“, einem ausgefeilten Bildungscurriculum zur Verhinderung der intellektuellen Entwicklung von Schwarzen Kindern, über getrennte Eingänge zu öffentlichen Einrichtungen bis zu einer Medien-, Kultur- und Propagandapolitik, die eine normalisierte Apartheid des Alltags schuf, die nicht hinterfragt, ja nicht einmal wahrgenommen werden sollte. Hendrik Verwoerd, der „Erfinder“ der Apartheid, war Psychologe und 1927 als Forscher am Leipziger Institut von Wilhelm Wundt tätig, wo Konzepte der „Völkerpsychologie“ und Psychotechnologie zur Verhaltenssteuerung entwickelt wurden.

Widerstand von Anfang an

Von Beginn an gab es Widerstand gegen die Apartheid. Anfangs war er von Gandhis Strategie des gewaltfreien Widerstands geprägt. Infolge des Sharpeville-Massakers begannen die Befreiungsbewegungen ANC und PAC ab den 1960er-Jahren auch einen militärischen Flügel zu organisieren. Doch bald wurden ihre Führungspersonen verhaftet und die Bewegungen ins Exil gezwungen. Die Proteste der Schüler:innen ab 1977 schufen jedoch eine neue Generation von Aktivist:innen. Sie waren von den Ideen der Black-Consciousness-Bewegung beeinflusst, deren zentraler Slogan von Steve Biko die psychologische Ebene der Herrschaft in den Blick nahm: „Die stärkste Waffe in den Händen des Unterdrückers ist das Bewusstsein des Unterdrückten.“

In dieser Zeit begann medico die Unterstützung des südafrikanischen Befreiungskampfes, zunächst über die Exilstrukturen in Tansania, ab Mitte der 1980er-Jahre auch im Land selbst. Ich selbst war 1986 auf Einladung von Aktivistinnen aus dem Bildungsbereich zum ersten Mal in Südafrika. Es war eine Zeit der großen Aufstände gegen die Apartheid, aber auch des Ausnahmezustands und brutaler Repression. Ich musste miterleben, wie neugewonnene Freund:innen verhaftet und gefoltert wurden, einer wurde umgebracht. Die Polizei überwachte selbst die Beerdigungen und schickte eigene Pfarrer, die von „ungehorsamen, vom Weg abgekommenen Kindern“ predigten. Ich sah, wie die Welt fast aller weißen Südafrikaner:innen vollkommen abgeschottet war von den Realitäten der schwarze Südafrikaner:innen. Selbstgerecht versuchten sie mir zu erklären, warum Apartheid gerecht, Sanktionen schlecht und die Schwarzen eben anders seien.

Als ich 1989 bei medico anfing, engagierten wir uns in einem NGO-Netzwerk, in dem südafrikanische und europäische Anti-Apartheid-Aktivist:innen zusammenarbeiteten. Durch die Aufstände in Südafrika wurden auch die Proteste in Europa stärker und Forderungen nach Wirtschaftssanktionen lauter. Trotz großer Mobilisierungen hielten vor allem die Bundesrepublik und Großbritannien die Wirtschaftsbeziehungen mit Südafrika aufrecht. Die Europäische Kommission sah sich immerhin gezwungen, ein Hilfsprogramm aufzulegen, das sogenannte „Special Programme for the Victims of Apartheid“, das sie von 1986 bis 1994 mit insgesamt 458 Millionen ECU (Vorgänger des Euro) finanzierten, damals das größte Überseeprogramm der Europäischen Gemeinschaft.

Sofort entwickelten die südafrikanischen Aktivist:innen Strategien, um zu verhindern, dass die Gelder in falsche Hände gerieten: in Infrastrukturen der Apartheid oder konservative schwarze Strukturen, die das Regime als Teil seiner Teile-und-herrsche-Strategie aufbaute, um gegen Sanktionen und für eine „Reform“ der Apartheid zu mobilisieren und die auch von konservativen deutschen Stiftungen finanziert wurden. Also wurde in Südafrika der Kagiso Trust gegründet, in Europa schlossen sich progressive NGOs zum Konsortium SANAM zusammen. Daneben gab es ähnliche Zusammenschlüsse der Kirchenverbände. Die Südafrikaner:innen bestanden darauf, dass die gesamten Mittel der EU ausschließlich über diese Strukturen nach Südafrika gelangen – mit Erfolg.

In diesem Kagiso-SANAM-Netzwerk unterstützte medico alle gesundheitsbezogenen Projekte. So konnten wir erhebliche Summen in viele Organisationen von Gesundheitsaktivist:innen vermitteln. Zum Beispiel gab es ein landesweites Netz von medizinischer Nothilfe für bei Protestmärschen, Straßenaktionen oder politischen Beerdigungen verletzte Aktivist:innen, die nicht in öffentliche Krankenhäuser gehen konnten, weil sie dort verhaftet wurden. Es gab ein Netzwerk oppositioneller Psycholog:innen, die therapeutische Hilfe für Haftentlassene und gefolterte Aktivist:innen anboten. Weiter gab es selbstorganisierte Community Clinics, die von Community Health Workern und aktivistischen Ärzt:innen partizipative Formen der gesundheitlichen Versorgung erprobten. Und es gab Kämpfe gegen gesundheitsschädigende Arbeitsbedingungen, nicht zuletzt bei Firmen wie Bayer oder VW. Aus all diesen Initiativen und Kämpfen entstand das National Progressive Primary Health Care Network, das später Grundlagen für die Ideen eines Post-Apartheid-Gesundheitssystem entwickelte.

Die beste Verfassung der Welt

Nach langen zähen Verhandlungen zwischen dem Apartheid Regime und dem ANC ab 1991 gelang es, eine Vereinbarung über den Übergang der Macht und die Schaffung einer neuen Verfassung zu erzielen. Sie wurden von massiven Gewaltexzessen begleitet, die durch verdeckte Milizen des Regimes angestiftet wurden und Zugeständnisse des ANC erzwangen. Als 1994 tatsächlich eine neue, demokratisch gewählte Regierung mit Nelson Mandela als Präsident an die Macht kam, war der Streit über die Post-Apartheid längst entbrannt. Geht es lediglich um eine formale Abschaffung der Apartheid-Gesetze? Oder sollten weitreichendere ökonomische, soziale, politische, auch psychologische Veränderungen durchgesetzt werden? War es Zeit für eine entkolonisierte, nicht kapitalistisch organisierte Gesellschaft, die das Konzept „race“ radikal überwindet? Oder würde sich die Veränderung darauf beschränken, dass, wie 1991 im medico-rundschreiben befürchtet, die Ungleichheit nun „über die Ökonomie geregelt“ würde, „zwischen Arm und Reich, wobei durchaus auch einige Weiße arm und womöglich so mancher Schwarze reich werden könnte“?

Zum Kristallisationspunkt wurde die Ausarbeitung einer neuen Verfassung: Alle politischen Ideen und Ansprüche, die in den jahrzehntelangen Kämpfen entwickelt worden waren, sollten darin festgeschrieben werden – auf dass sie nie wieder verloren gehen würden. Am 4. Dezember 1996 wurde die neue Verfassung verabschiedet. Bis heute gilt sie als eine der progressivsten der Welt. Im gleichen Jahr wurde allerdings auch das neue Wirtschaftsprogramm GEAR eingeführt. Anders als in den ersten zwei Jahren der Mandela-Regierung lag der Fokus nun nicht mehr auf der Umverteilung von oben nach unten. Stattdessen wurde ein radikal neoliberales Konzept aufgesetzt. Schon gleich nach der Ankündigung gab es scharfe Kritik daran. medico unterstützte damals den Aufbau des Alternative Information and Development Centre (AIDC), das zu einer zentralen Stimme der Kritik an dieser fatalen Wirtschaftspolitik werden sollte.

Wahrheit und Gerechtigkeit

1995 begann auch ein anderer wichtiger Prozess: die Truth and Reconciliation Commission (TRC) nahm die Arbeit auf. In den Verhandlungen mit dem alten Regime hatte der ANC Kompromisse eingehen müssen. So blieben Eigentumsverhältnisse unangetastet, aber auch Menschenrechtsverbrechen sollten amnestiert werden. Um umgekehrt eine Generalamnestie zu verhindern, setzte der ANC ein öffentliches Verfahren durch: Nur auf Antrag und nach Offenlegung der ganzen Wahrheit konnten Täter amnestiert werden. Eben hierfür wurde die Wahrheits- und Versöhnungskommission geschaffen. Mit ihr entstand auch ein Forum, vor dem Opfer politischer Gewalt zwischen 1960und 1994 Zeugnis ablegen konnten.

Um sich für die Aussagen vorzubereiten und gegenseitig zu unterstützen, gründeten einige Opfer eine Selbsthilfegruppe, die Khulumani Support Group. Diese sollte, mehr als 20 Jahre von medico unterstützt, zu einer Bewegung von über 100.000 Mitgliedern werden. Ihr Einsatz war auch deshalb so notwendig, weil der als „Versöhnung“ deklarierte Prozess viele Leerstellen aufwies. Ein kurzes Zeitfenster schloss Zehntausende aus, die keine Eingaben mehr machen konnten, aber auch das enge Mandat, das die systemischen Apartheid-Verbrechen wie Zwangsumsiedlungen gar nicht thematisierte. Selbst für anerkannte Fälle von Folter und Mord blieben Entschädigungen aus oder fielen beschämend niedrig aus. „Niemand soll denken, dass jetzt alles in Ordnung sei, weil es eine Wahrheitskommission gab. Wir haben noch einen langen Weg vor uns“, erklärte die Khulumani-Koordinatorin Ntombi Mosikare schon damals.

Profiteure und Entschädigung

Wichtig war Khulumani auch dabei, internationale Profiteure der Apartheid zur Verantwortung zu ziehen. Während Millionen schwarzer Südafrikaner:innen unter Gewalt, Unterdrückung und Ausbeutung litten, führen viele Unternehmen hohe Gewinne ein. 2002 reichte Khulumani mit Unterstützung medicos vor einem New Yorker Gericht Entschädigungsklage gegen acht solcher Firmen ein, darunter Daimler, IBM und Rheinmetall. Über zehn Jahre organisierte medico in Allianzen Kampagnen zur Unterstützung der Klage. Es war politische und juristische Pionierarbeit, denn niemals zuvor waren Unternehmen dafür haftbar gemacht worden, auf der Basis von Menschenrechtsverletzungen Profite erzielt zu haben. Tshepo Madlingozi, Advocacy Koordinator von Khulumani, sprach von einem Präzedenzfall: „Die verklagten Unternehmen haben die ‚Maschinerie‘ der Apartheid-Regierung, ihre Sicherheitsapparte ausgestattet und finanziell unterstützt. Sollte die Klage erfolgreich sein, kann sie dazu beitragen, eine Form der Rechenschaftspflicht von Unternehmen für die Art von Menschenrechtsverletzungen zu gewährleisten, die bei Unternehmensaktivitäten in Entwicklungsländern fast alltäglich geworden sind.“ Juristisch wurde die Klage nicht gewonnen. Dass sie aber zugelassen worden war, eine große internationale Öffentlichkeit erreichte und der Kampf um Rechenschaftspflichten von Unternehmen in zahlreichen anderen Fällen fortgesetzt wurde, war ein großer Erfolg. Zur Wahrheit gehört aber auch, dass die zermürbenden juristischen Prozessen die Zusammenarbeit von Menschen, von denen viele schwer traumatisiert waren, erheblich belastete.

Schwierig war die Post-Apartheid-Zeit auch für ehemaligen Kombattanten der Befreiungsbewegungen, von denen viele bereits in jungen Jahren in Angola oder anderswo im Einsatz waren. Nach ihrer Demobilisierung in den 1990er-Jahren fühlten sich viele ignoriert, ausgeschlossen und nicht anerkannt. Außer der Möglichkeit, in die Polizei oder offizielle Armee zu gehen, gab es keine Angebote zur zivilen Reintegration und Aufarbeitung der Erfahrungen. Ihre politischen und intellektuellen Kenntnisse, ihre Ideen und Utopien für ein neues Südafrika hatten keinen Ort, um ausgesprochen und gehört zu werden. Daher gründeten einige das Direct Action Centre for Peace and Memory, das medico ebenfalls viele Jahre unterstützte. Die Gruppe organisierte Erinnerungsführungen durch Kapstadt und andere Formate, in denen sie Besucher:innen, Schüler:innen, Studierende und Interessierten von der Geschichte und Gegenwart der Apartheid und des Widerstands erzählten. Einer der Gründer, Yazir Henri, beschrieb ihn so: „Diese Bewegungen verbinden die traumatischen Erfahrungen der Vergangenheit mit der Fortexistenz von Gewalt und Trauma in der Gegenwart. Wir schaffen ein Bewusstsein darüber, wie die Stadt in verschiedene Zonen von Krieg und Frieden aufgeteilt ist, von Trauma und Nicht Trauma, von Wohlstand und Armut, die weiter existieren.“

HIV-AIDS-Krise und die Erosion von Solidarität

Als ob die Aufarbeitung jahrhundertelanger Gewalt und der gravierenden neoliberalen Umwälzungen nicht genug gewesen wäre, traf Ende der 1990er-Jahre die HIV-AIDS-Krise Südafrika so heftig wie kaum ein anderes Land. Millionen Menschen infizierten sich, Hunderttausende Menschen, vor allem jüngere zwischen 30 und 50 Jahren, starben. Das lag auch daran, dass antiretrovirale Medikamente, wenn sie denn entwickelt waren, nicht zugänglich waren. Die Profitinteressen der Pharmaindustrie gingen vor. Die Dramatik der Krise lag aber auch an der Haltung der politischen Führung während der Mbeki-Präsidentschaft, die das HI-Virus strikt leugnete. Eine ganze Generation verlor Kolleg:innen, FreundInnen, Familienangehörige und Genossinnen, jedes Wochenende gingen Menschen auf Beerdigungen, die Verzweiflung war allgegenwärtig.

Es war hartnäckigen landesweiten Kämpfen der Gesundheitsbewegung Treatment Action Campaign zu verdanken, dass es ab 2009 einen flächendeckenden Zugang zu antiretroviralen Medikamenten gab. medico-Projektpartner wie Sinani – KwaZulu-Natal Programme for Survivors of Violence unterstützten diese Kämpfe durch Präventionsarbeit in den am stärksten betroffenen Communities, die zumeist arm und von Gewalt geprägt waren. Mit Unterstützung von medico und der Adaption eines brasilianischen Konzepts entwickelte Sinani ein innovatives Programm für junge Männer, um den fatalen patriarchal-kapitalistisch-rassistischen Nexus von Armut, Gewalt und HIV/AIDS zu durchbrechen. Das Angebot eröffnete einen einzigartigen Reflexionsraum und mobilisierte tausende junge Männer, die später selbst zu Moderatoren und Umsetzern des Programms wurden.

Die HIV/AIDS-Krise hatte auch zur Folge, dass ab Mitte der 2000er-Jahre fast 70.000 Community Health Worker (CHW) mit prekären Verträgen in den Communities tätig waren. Die Gemeindegesundheitsarbeiter:innen überwachten die Medikamentenausgabe und betreuten die Schwerkranken. Sie stopften damit die Lücken des öffentlichen Gesundheitssystems, die während der Präsidentschaft Jacob Zumas zwischen 2009 und 2018 durch eine radikal neoliberale Politik der Privatisierung, der Budgetkürzungen und des Outsourcings immer klaffender wurden.

„Talk left and walk right“ lässt sich die Praxis dieser neuen Eliten nennen, die sich im Gesundheitssystem sinnbildlich zeigte. Sie plünderten staatliche Ressourcen und Infrastrukturen systematisch aus. Im Zuge dieser Umverteilung von unten nach oben gerieten schätzungsweise 100 Milliarden US-Dollar öffentlicher Ressourcen in private Hände. Politische und ethische Werte erodierten und erst nach zivilgesellschaftlichen Kämpfen, insbesondere von mutigen Journalist:innen und Menschenrechtsanwält:innen, gelang es, die Machenschaften aufzudecken und die Zuma-Clique von der Macht zu vertreiben. Der medico-Projektpartner section 27 war daran ebenso beteiligt wie viele der alten und neuen Partner:innen, die sich trotz massiver Bedrohung gegen die vollständige Enteignung der Post-Apartheid stemmten. Doch die Folgen dieser politische und ökonomischen Korruption leben weiter fort. Allerdings traten auch neuere soziale Bewegungen und feministische Netzwerke auf den Plan. Drei Beispiele von medico-Partnerorganisationen: Local Government Action kämpfte auf der kommunalen Ebene, das Zimbabwe Exiles Forum und die Sophiatown Community Psychological Services wehrten sich gegen die rassistische Gewalt gegenüber afrikanischen Migrant:innen, die vom Zuma Lager geschürt und instrumentalisiert wurde.

Ab 2014 unterstützte medico eine stärkere Vernetzung der verschiedenen Partner:innen, um die Selbstorganisation der Community Health Worker zu stärken, die sich gegen die fortgesetzte extreme Ausbeutung und die mangelnde Anerkennung der von ihnen geleisteten Arbeit wehrten. In dieser Abwertung kulminierte die neoliberal-patriarchale und rassistische Hierarchie, die arme Schwarze Frauen in marginalisierten Gemeinden dazu zwang, die gesundheitlichen Folgen der Verelendung, Gewalt und staatlichen Ausplünderung aufzufangen. Gemeinsam mit fünf Partnerorganisationen und mit Mitteln des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung setzte medico ein landesweites Programms auf, das die Selbstorganisation der Gesundheitsarbeiter:innen unterstützen und ihre Vernetzung ermöglichen sollte.

Im Laufe von mehreren Jahren wurden die Forderungen der Community Health Worker unüberhörbar. 2020 gelang dann in der Provinz Gauteng vor dem Hintergrund der Corona-Pandemie ein Durchbruch: Rund 6.000 Community Health Worker wurden als Festangestellte in das Gesundheitssystem integriert. Dieser Erfolg wurde zum landesweiten Signal. Auf meiner Reise treffe ich die Lawyers for Human Rights, die von Tausenden Community Health Workern mandatiert wurden, mit einer Klage dieselben Bedingungen für alle durchzusetzen. Darüber hinaus versuchen sie, eine lokal verankerte, aber national vernetzte Gesundheitsbewegung aufzubauen, um das in der Verfassung verankerte Recht auf Gesundheit umfassend zu verwirklichen.

Aufstand gegen die Post-Apartheid

Ob und wie das Post-Apartheid-Projekt gescheitert ist, war die zentrale Frage der neuen Studierendenbewegung, die 2015 aufkam. Unter dem Slogan „fees must fall“ forderte sie nicht nur kostenlose Bildung, sondern auch dekoloniale, antipatriarchale, antirassistische und antikapitalistische Inhalte. Die junge Generation der „born free“, also der nach 1994 Geborenen, stellte die Post-Apartheid-Narrative radikal infrage – die Rede von der „Rainbow Nation“, von Wahrheit und Versöhnung, von Mandela und dem ANC als Befreier. Sie pochten auf den Zusammenhang der aktuellen Probleme des Landes mit der langen Geschichte der Apartheid, von Kolonialismus und Versklavung und der neoliberalen Hegemonie. Auf den Punkt gebracht: Sie bezeichneten die Post-Apartheid als neue Apartheid. Junge Frauen wie Omhle Ntshingila krempelten mit einer Explosion kluger Analysen, Protestaktionen und kreativen Ideen die Diskurse um. Obwohl die Strukturen des Aufstands infolge von Repression der Universitäten, sexistischen und autoritären Gegenkräfte innerhalb der Studentenschaft, Infiltrationen sowie Instrumentalisierungen durch verschiedene politische Parteiennach nach wenigen Jahren gespalten und zermürbt waren: Die Kühnheit der Bewegung, ihre Bezüge zu anderen intersektionalen Kämpfen und die Wiederentdeckung alter Bewegungen wie Black Consciousness, Frantz Fanon oder des Combahee River Collectives strahlten weit über Südafrika hinaus und beeinflussten auch die Black-Lives-Matter-Bewegung.

Auf meiner Reise durch das heutige Südafrika war die Frage allgegenwärtig, ob und wie die Versprechen der Verfassung angesichts der anhaltenden systemischen Gewalt und eklatanten Ungleichheit erkämpft und umgesetzt werden könnten. „Undoing Apartheid“, sagt Premesh Lalu vom Centre for Humanities Research, den ich in Kapstadt treffe, „meint weit mehr als die Streichung von Gesetzen und den Austausch von Eliten.“ Jahrhunderte von Gewaltherrschaft und Kapitalismus auf der Basis hochmütiger rassistischer europäischer Ideen hätten tiefe Wunden geschlagen und gelebte Erfahrungen von „race“ auf eine Weise normalisiert, dass sie die sinnlichen Wahrnehmungen veränderten. Er fordert intellektuelle und kreative Anstrengungen, um überhaupt eine Realität jenseits der Matrix Apartheid und der gelebten Normalität imaginier- und sprechbar machen zu können.

Was er damit meint, zeigen mir die jungen Künstler:innen von Ukwanda, die ein kulturelles Labor aufgebaut haben, durch ihre neuesten Objekte: Es sind außergewöhnliche Puppenfiguren, mit denen sie utopische Ideen in Bilder und Szenen umsetzen – „undoing Apartheid“. Die verflochtenen kolonialen Geschichten, die sinnentstellenden Spuren der jahrhundertelangen Ausgrenzungs- und Gewaltgeschichte, die Europa mit der Welt verbindet, reichen weit über Südafrika hinaus direkt in unsere gelebte Normalität, die erneut brutale Systeme rassistischer Ausgrenzung und Abschottung erfindet. „Undoing Apartheid“ muss hier beginnen.

Usche Merk ist über ihre Aktivitäten in der Anti-Apartheid-Bewegung zu medico gestoßen. Seit 1989 ist sie neben ihrer Verantwortung für die psychosoziale Arbeit für die Kooperation mit Partner:innen vor allem in Südafrika zuständig. Sie hat in der Region gelebt und sie immer wieder, zuletzt im Sommer 2023, besucht und enge solidarische Verbindungen zu vielen Organisationen und Menschen geschaffen.

Die medico-Partnerarbeit hat eine lange Kontinuität in Südafrika. Bis heute fördert medico-Partner:innen wie Sinani, die mit selbstorganisierten Strukturen in marginalisierten Communities zu den psychosozialen Folgen von politischer Gewalt, Ungleichheit und Ausbeutung sowie HIV/AIDS arbeiten.. Gegen patriarchale Gewalt und xenophobe Angriffe auf Migrant:innen engagieren sich Partner:innen wie Sophiatown Community Psychological Services, Phephisa oder Africa Revival Foundation durch Unterstützung von Selbsthilfegruppen und Menschenrechtsarbeit. Um Repressionen zu widerstehen, braucht es Partnerorganisationen wie Right2Protest.

Dieser Beitrag erschien zuerst gekürzt im medico-Rundschreiben 4/2023. Das Rundschreiben schicken wir Ihnen gerne kostenlos zu. Jetzt abonnieren!

Veröffentlicht am 04. Dezember 2023

Usche Merk

Usche Merk ist in der Abteilung für transnationale Kooperation seit 1995 zuständig für das Thema Psychosoziale Arbeit, außerdem ist sie verantwortlich für Projekte in Südafrika und Sierra Leone. Die Pädagogin und systemische Beraterin hat drei Jahre lang beim medico-Partner Sinani in Südafrika in der Friedensarbeit mit gewaltgeprägten Gemeinden gearbeitet. Daneben unterstützt sie als Supervisorin und Trainerin Menschen, die in Krisenregionen oder mit Flüchtlingen arbeiten.


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