Migration

Eigene Interessen

„Sichere Drittstaaten“, Migrationsabkommen: Europa möchte seine Abschottung weiter auslagern. Doch die Externalisierungspolitik stößt an Grenzen.

Von Kerem Schamberger

Als die britische Regierung 2022 das „Ruanda-Modell“ vorstellte, war die Empörung in anderen Ländern Europas und vor allem in Deutschland noch groß. Das Modell sieht vor, Asylverfahren von Menschen, die an den Grenzen Großbritanniens ankommen, in sogenannte Drittstaaten außerhalb Europas auszulagern. Ins 6.600 Kilometer entfernte Ruanda zum Beispiel. Ein Paradebeispiel für eine Externalisierungspolitik, die ihr Grenzregime nach außen, ins weit entfernte Afrika auslagern will. Aus den Augen, aus dem Sinn. Allein die Bezeichnung „Drittstaat“ macht deutlich, dass es sich um ein Denken in neokolonialen Mustern handelt: Während des Kolonialismus wurden die „Überseegebiete“ oft als Zwangsexil für Menschen genutzt, die sich in anderen Kolonien gegen die Herrschaft aufgelehnt hatten.

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte stoppte im Juni einen ersten Abschiebeflug aus Großbritannien in den ostafrikanischen Staat. Die Vereinten Nationen sahen in dem Modell einen Bruch internationalen Rechts. Wenige Monate später ist die Empörung verflogen, die höchstrichterlichen Bedenken beiseitegeschoben und der Vorschlag, ganz im Zeichen des galoppierenden Rechtsrucks, auch in Deutschland hoffähig geworden. Im Vorfeld des jüngsten Bund-Länder-Gipfels hatten die unionsgeführten Bundesländer zusammen mit dem grünen Ministerpräsidenten Baden-Württembergs Winfried Kretschmann eine Forderung nach Auslagerung der Asylverfahren an Dritte auf den Tisch gelegt: Die „Feststellung des Schutzstatus von Geflüchteten [solle] unter Achtung der Genfer Flüchtlingskonvention und der Europäischen Menschenrechtskonvention zukünftig auch in Drittstaaten erfolgen“.

Unterstützung bekommt der Vorschlag von einem Impulspapier aus der SPD-Bundestagsfraktion. Darin werden ebenfalls „Rückführungsabkommen der EU mit sicheren Drittstaaten“ vorgeschlagen. In sogenannten „Migrations-Zentren“ in Afrika sollen „irregulär in die EU gelangte Personen“ untergebracht werden und dort ihr Asylverfahren durchlaufen. Ein Bezug der geflohenen Person zu dem „Drittstaat“, in den sie per Flugzeug verfrachtet werden soll, ist nicht vorgesehen. Sie käme dort an, ohne das Land jemals zuvor gesehen zu haben. Dass das Impulspapier ausgerechnet vom SPD-Abgeordneten Lars Castellucci mitgetragen wird, der in Migrationsfragen bisher eher progressive Standpunkte vertreten hatte, ist bezeichnend. Damit wird das „Ruanda-Modell“ nun auch von links als vermeintliche Lösung präsentiert. Am Ende des Bund-Länder-Gipfels wurde bekannt gegeben, dass die Durchführung von Asylverfahren außerhalb der EU geprüft werden solle.

Der Albanien-Deal

Auch in Dänemark, Österreich und Italien gibt es ähnliche Externalisierungspläne. Einen davon präsentierte diese Woche Georgia Meloni, die neofaschistische Ministerpräsidentin Italiens. Sie steht unter Druck, denn trotz gegenläufiger Wahlversprechen, kommen gerade so viele Menschen wie seit langem nicht über das Mittelmeer. Seit Januar 145.000. Deshalb sollen Menschen, die ab dem kommenden Frühjahr im Mittelmeer von der italienischen Küstenwache oder der Finanzpolizei abgefangen werden, nach Albanien gebracht werden. Dort will Italien Lager finanzieren, in denen Geflüchtete untergebracht werden bis ihr Asylantrag entschieden ist. Kapazitäten für 36.000 Menschen pro Jahr sind eingeplant. In der Logik des Migrationsregimes werden diese Menschen eingesperrt werden müssen, da sie sich sonst über die Balkanroute weiter auf den Weg nach Zentraleuropa machen könnten. Im Gegenzug will sich Italien für einen schnellen EU-Beitritt des Landes einsetzen.

Egal ob Ruanda- oder Albanien-Modell, die Einhaltung der Genfer Flüchtlingskonvention und der Europäischen Menschenrechtskonvention ist nicht möglich. Schon jetzt sind in den „Closed Controlled Access Center“ – riesigen gefängnisähnlichen Lagern auf den griechischen Inseln – die Anerkennungsraten bei Asylverfahren um ein Vielfaches geringer als in Deutschland. Selbst Geflüchtete aus Syrien und Afghanistan können aus Griechenland in die Türkei abgeschoben werden, weil diese im Juni 2021 von Griechenland als „sicherer Drittstaat“ eingestuft wurde. Und das obwohl aus der Türkei jährlich tausende Menschen in die Taliban-Diktatur und den syrischen Bürgerkrieg abgeschoben werden. Nur die Verweigerung der türkischen Behörden, diese Menschen aus Griechenland zurückzunehmen, verhindert diese Kettenabschiebung zurzeit.

Es braucht keine Kristallkugel, um vorherzusagen, dass die Zahl der positiven Asylbescheide in „Migrationszentren“ tausende Kilometer entfernt noch geringer sein wird. Ohne Zugang zu unabhängiger Asylberatung, juristischem Beistand und Berufungsrechten – Grundprinzipien der Rechtsstaatlichkeit, gegen die schon an Europas Rändern tagtäglich verstoßen wird. Was die zu „sicheren Drittstaaten“ degradierten Ländern mit Geflüchteten machen sollen, die einen negativen Asylbescheid erhalten, steht ebenfalls in den Sternen. Es ist Teil der Fiktion „Migrationskontrolle“, dass demokratische Prinzipien und Grundrechte aufgegeben werden.

Migrationsabkommen mit Placebo-Effekt

Neben dem Modell der „sicheren Drittstaaten“ arbeitet die Bundesregierung zurzeit an Migrationsabkommen, die als weiteres Werkzeug im Kampf gegen sogenannte „irreguläre Migration“ auserkoren wurden. Ende Oktober war Bundeskanzler Scholz in Nigeria und Ghana, Bundesinnenministerin Faeser zeitgleich in Marokko, um über die Rücknahme von Migrant:innen zu verhandeln. Zurückgekehrt sind sie mit fast leeren Händen. „Maximal unkonkret“ titelte die Tagesschau zu Scholz´ Reise und auch Faeser erhielt nur eine vage Absichtserklärung ihres marokkanischen Amtskollegen.

Auch hier ist das Ziel vor allem innenpolitisch: Handlungsfähigkeit suggerieren und vorgeben, die Zahl der Menschen, die zu uns kommen und die der „Ausreisepflichtigen“ zu reduzieren. Das Beispiel Marokko macht dies deutlich. 3600 Marokkaner:innen in Deutschland sind „ausreisepflichtig“, mehr als zwei Drittel von ihnen haben aber eine Duldung. Es ginge also nur um etwas mehr als 900 Menschen, die nach Marokko zurückgeschickt werden könnten.

Neben Nigeria und Marokko verhandelt die Bundesregierung mit vielen weiteren Ländern, unter anderem Tunesien, Kenia, Kolumbien, Kirgistan und Usbekistan. Eine signifikante Reduzierung der „irregulären Migration“ und ein Einlösen des Versprechens endlich „in großem Stil“ abzuschieben, wird das alles nicht mit sich bringen. Mit den Ländern, aus denen mehr als 70 Prozent der Menschen stammen, die in diesem Jahr in Deutschland Asyl beantragt haben – Syrien, Afghanistan, Türkei, Irak und Iran – gibt es keine Verhandlungen. Das liegt vermutlich auch daran, dass die Abschiebeaussichten schlecht sind, weil die Menschen ein Recht auf Schutz haben: Die bereinigte Schutzquote für alle Menschen, die 2022 in Deutschland Asyl beantragt haben, lag mit 72 Prozent so hoch wie noch nie.

Europa ist nicht alternativlos

Die Externalisierung der Migrationsfrage könnte aber auch aus anderen Gründen an Grenzen gelangen. Es stellt sich die Frage, ob es zukünftig für Europa überhaupt noch möglich sein wird, das Thema mit viel Geld an afrikanische und andere Staaten auszulagern. Seit Jahren geistert die Idee der Migrationskontrolle durch die europäischen Hauptstädte, ein „verlässlicher“ Partnerstaat hat sich dafür in Afrika aber nie finden lassen.

Europa steht nicht gut da in der Welt. Schon beim Aufkauf der Corona-Impfstoffe wurde die „Europe first“-Mentalität bitter registriert, während afrikanische Länder meist leer ausgingen. In der Front gegen den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine zeigen sich große Lücken, weil dieser Krieg vielerorts als regionale Angelegenheit Europas wahrgenommen wird. Und Europa seinerseits auf viele Konflikte in Afrika nur anhand eigener Interessen reagierte. Zudem bietet die „konfliktuelle Multipolarität“, die sich als Welt(un)ordnung derzeit abzeichnet, auch Chancen für den globalen Süden. Russland und insbesondere China treten schon länger als vermeintlich neutrale Akteure auf, die Infrastrukturprojekte finanzieren und andere wirtschaftliche Beziehungen aufbauen. Europa ist nicht mehr alternativlos.

Die westliche Reaktion auf Israels Gaza-Krieg infolge der Hamas-Massaker vom 7. Oktober setzt Europa nun erneut dem Vorwurf der Doppelmoral aus. Denn „die Bilder eines ukrainischen Wohnhauses, das von einer russischen Rakete in Schutt und Asche gelegt wurde, sehen von Afrika aus betrachtet nicht sehr viel anders aus als die Bilder eines Wohnhauses im Gazastreifen, das von einer israelischen Rakete in Schutt und Asche gelegt wurde“, schreibt Josef Kelnberger in der Süddeutschen Zeitung. Nur dass die Reaktionen der Bundesregierung sehr unterschiedlich ausfallen.

Vielleicht werden Lager in Albanien entstehen. Vielleicht wird es Deutschland und der EU gelingen, mit einigen afrikanischen Staaten Migrationsabkommen zu schließen. Die Putschdynamik in der Sahelzone, die für die europäische „Migrationskontrolle“ so wichtig ist, macht jedoch deutlich, dass diese Form der Gelddiplomatie begrenzt ist und vielerorts als Herrschaftsinstrument betrachtet wird. Echte Partnerschaften lassen sich so nicht aufbauen.

Veröffentlicht am 10. November 2023

Kerem Schamberger

Kerem Schamberger ist Kommunikationswissenschaftler und in der Öffentlichkeitsarbeit von medico international für den Bereich Flucht und Migration zuständig. 

Twitter: @KeremSchamberg
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