Bericht

Diversität der Überlebenstechniken

Zum ersten Mal in Gaza.

Von Chris Whitman

15 Jahre lang war der Gazastreifen für mich ein rein akademisches Abenteuer. Über den Ort und die Gesellschaft dort habe ich unzählige Bücher gelesen und zahlreiche Dokumentarfilme gesehen. Der Zugang aber blieb mir stets verwehrt. Die Einreise nach Gaza ist kein einfaches Unterfangen. Als ich von 2009 bis 2016 in der Region lebte und bei den folgenden jährlichen Reisen nach Palästina kam ich nie weiter als bis zur Grenze. In vielerlei Hinsicht blieb Gaza für mich eine verbotene Zone, die man an klaren Tagen in der Ferne sehen kann. Mit der Zeit aber ist ein Bild entstanden.

Ich hatte noch vor der jüngsten Eskalation als Büroleiter von medico international in Ramallah die Einreise beantragt und eine Genehmigung erhalten. Kaum war ein Waffenstillstand verkündet, war ich so einer der ersten nichtdiplomatischen Ausländer, der nach Gaza fahren durfte.

Grundsätzlich stellte ich es mir ähnlich vor wie die palästinensischen Realitäten in der Westbank, nur hoffnungsloser, ärmer und verzweifelter. Aber bei der Einreise wurde mir schnell klar, dass das, was ich in Büchern gelesen hatte, nur einen kleinen Einblick in die Wirklichkeiten des Gazastreifens und seiner über zwei Millionen Einwohner:innen bot.

Ein in der Welt der NGOs heillos überstrapaziertes Wort ist das der Resilienz. Normalerweise soll es erklären, wie Menschen mit wenig bis gar nichts in der Lage sind, mit dem auszukommen, was sie haben und weiterzumachen. In Gaza bekommt das Wort eine ganz neue Dynamik, es fügt sich in den Kontext der palästinensischen Erfahrung ein. Im Westjordanland gibt es Witze wie diese: Errichtet Israel einen Kontrollpunkt, nehmen die Palästinenser eine Straße, die um ihn herumführt. Baut die Armee eine Mauer, graben sich die Palästinenser darunter hindurch. An einem Ort wie Gaza, der von der israelischen Armee vollständig von außen kontrolliert wird, ist diese Form der Anpassungsfähigkeit noch notwendiger. Der langjährige Benzinmangel aufgrund der israelischen Blockade führt dazu, dass man überall Karren sieht, die von Tieren und einfachen Motorrädern gezogen werden. Der der Abriegelung geschuldete Mangel an Baumaterialien macht jedes zerstörte Gebäude zu einem Schrottplatz, auf dem Scharen von Männern und Jungen versuchen, so viele Metallstangen, Betonblöcke und Rohre wie möglich zu bergen, um sie wiederzuverwenden. Angesichts des Strom[1]mangels, das einzige Kraftwerk wird immer wieder zerstört und es fehlt an Treibstoff, benutzen die Menschen Generatoren und Akkus, um ihre Häuser und Geschäfte zu versorgen.

In Gaza wird gescherzt, dass es für jedes durch Israel verursachte Problem eine „gazanische Lösung“ gibt. In vielerlei Hinsicht ist das wahr, aber leider nicht in jeder. Seit Wochen verweigert Israel Ausreisegenehmigungen und beschränkt strikt den Zugang für Patient:innen, die auf eine medizinische Versorgung außerhalb des Gazastreifens angewiesen sind. Selbst Krebspatient:innen, die bislang regelmäßig zu Chemotherapien nach Ostjerusalem oder ins Westjordanland fahren, wird die Einreise verweigert. Unsere Partnerorganisationen wie Al-Mezan und Physicians for Human Rights – Israel setzen sich unermüdlich dafür ein, diese restriktive Praxis zu stoppen. Die Erfolge, die Israels Rechtssystem abgetrotzt werden konnten, sind minimal.

Der prägendste Eindruck im Gazastreifen, sei es in Gaza-Stadt im Norden, im Flüchtlingslager von Deir al-Balah im Zentrum oder in Rafah im Süden, ist die enorme Bevölkerungsdichte. Oft wird die Enklave als der dichtest besiedelte Ort der Erde beschrieben. Es wird geschätzt, dass sich die Bevölkerung bis 2050 auf weit über 4,7 Millionen Menschen mehr als verdoppeln wird.

Eine weitere Besonderheit in Gaza ist, dass sich trotz der jüngst elftägigen Bombardierung auf den ersten Blick wieder ein Alltag eingestellt zu haben scheint. Die Menschen, auch Familien, sind gemeinsam auf den Straßen unterwegs. Betrachtet man die Menschen aber genauer, sieht man das, was Einheimische „tote Augen“ nennen: Auf jedem Gesicht in Gaza ist ein verinnerlichtes Trauma zu lesen. Gezeichnet sind vor allem die Eltern, die nicht nur ihre Angst und ihr Trauma verarbeiten müssen, sondern auch ihre Kinder physisch und emotional beschützen mussten, sei es während des massiven Raketenbeschusses oder der alles durchdringenden Luftangriffe. Jede:r in Gaza hat hiervon eine Geschichte zu erzählen. Vom Zusammenkauern auf engstem Raum, der Angst – Gott bewahre –, das Haus könne getroffen werden und zusammen sterben zu müssen bis hin zu lebhaften Schilderungen davon, dass die Erde während des fortwährenden Bombenhagels unaufhörlich gezittert hat. Jede:r in Gaza hat eine Geschichte. Vor allem in den letzten 15 Jahren werden Stimmen aus Gaza an den Rand gedrängt und marginalisiert. Aber hinter jeder Trümmerlandschaft in den Nachrichten und jeder Schlagzeile steckt ein:e Gazaer:in mit ihrer und seiner Geschichte. Es ist an der Zeit, auf diese Geschichten zu hören.

Während der letzten Konflikte in Israel/Palästina hat medico Physicians for Human Rights – Israel und die palästinensische Gesundheitsorganisation PMRS, beides langjährige Partner:innen von medico, finanziell bei medizinischen Nothilfemaßnahmen unterstützt. Neben einer Vielzahl von Arbeiten unterstützen wir auch die israelisch-palästinensische Rechtsberatung Adalah, die u.a. israelische Palästinenser:innen, die im Zuge der jüngsten Auseinandersetzungen verhaftet wurden, juristisch unterstützt.

Dieser Beitrag erschien zuerst im medico-Rundschreiben 2/2021. Das Rundschreiben schicken wir Ihnen gerne kostenlos zu. Jetzt abonnieren!

Veröffentlicht am 01. Juli 2021

Chris Whitman

Chris Whitman ist medico-Büroleiter Israel und Palästina.


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