Flucht und Migration

Die Türkei ist nicht sicher

Ein neues Gutachten widerlegt die Einstufung der Türkei als „sicherer Drittstaat“. Doch ausgerechnet dieses Instrument soll mit der Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems Schule machen.

Von Valeria Hänsel und Kerem Schamberger

Ein neues juristisches Fachgutachten legt dar, dass die Einstufung der Türkei als „sicherer Drittstaat“ für Geflüchtete nicht haltbar ist. Das von medico in Auftrag gegebene Gutachten wurde von der Anwältin Annina Mullis von den „European Lawyers for Democracy and Human Rights“ (ELDH) in Kooperation mit lokalen Expert:innen erstellt. Das Team hat die Situation von Geflüchteten in der Türkei mittels Interviews, Einzelfallanalysen und Recherchen vor Ort analysiert. Es kommt zu dem Schluss, dass die Mängel im Flüchtlingsschutz in der Türkei so gravierend sind, dass das Land die Anforderungen an einen ‚sicheren Drittstaat‘ nicht erfüllt – weder nach dem derzeitigen Artikel 38 der EU-Asylverfahrensrichtlinie, noch nach den Kriterien der geplanten GEAS-Reform.

Drastische Hürden für Schutzsuchende

Das Gutachten dokumentiert die drastischen Hürden, die es gegenwärtig für Schutzsuchende in der Türkei de facto unmöglich machen, überhaupt einen Schutzstatus zu beantragen. Selbst wenn sie einen internationalen oder temporären Schutzstatus  erhalten können, gewährt dieser nur unzureichende Rechte und ist nicht mit dem Rechtsschutz nach der Genfer Flüchtlingskonvention zu vergleichen. Zum anderen werden die höchst prekären Lebensbedingungen für Geflüchtete dargestellt: unzureichende und fehlende Unterbringung, mangelnder Zugang zu medizinischer Versorgung, fehlende Bildungschancen, ausbeuterische Arbeitsverhältnisse und eine rapide Zunahme rassistischer Hetze, die Menschen mit besonderen Schutzbedürfnissen besonders hart treffen.

Die Untersuchung des türkischen Gefängnis- und Abschiebesystem zeigt, wie die einwanderungsfeindliche Politik des Landes zu routinemäßigen Verhaftungswellen und einer weitreichenden Abschiebepraxis führt. Inhaftierte Geflüchtete werden durch die schlechten Haftbedingungen und den eingeschränkten Zugang zu Rechtsbeistand routinemäßig ihrer Grundrechte beraubt.

Massenabschiebungen nach Syrien

Dies geht Hand in Hand mit einer Praxis von gewaltsamen Pushbacks, insbesondere an der syrischen und iranischen Grenze. Gleichzeitig dokumentiert die Studie massenhafte Abschiebungen aus der Türkei: Allein im letzten Jahr wurden aus der Türkei über 60.000 Menschen nach Afghanistan abgeschoben und dem Taliban-Regime damit faktisch ausgehändigt. Bereits im April 2016 in direkter Folge der EU-Türkei-Erklärung berichtete Amnesty International, dass die Türkei seit Anfang des Jahres fast täglich Massenabschiebungen nach Syrien durchführe. In diesem Zusammenhang kommentierte der damalige Direktor von Amnesty International für Europa und Zentralasien den Deal wie folgt: „In ihrem verzweifelten Bestreben, ihre Grenzen abzuschotten, haben die EU-Politiker:innen die einfachsten Fakten vorsätzlich ignoriert: Die Türkei ist kein sicheres Land für syrische Flüchtlinge. Sie wird von Tag zu Tag unsicherer."

Darüber hinaus widmet sich der Bericht den Folgen des verheerenden Erdbebens im Februar 2023 für Geflüchtete. Es zeigt auf, wie insbesondere Syrer:innen von Hilfeleistungen ausgeschlossen wurden, von rassistischer Hetze und Gewalt betroffen waren und wie die Bedingungen viele zur Ausreise nach Syrien zwangen.

Testballon für die GEAS-Reform

Wie kann es sein, dass die Türkei trotz dieser erdrückenden Beweislast von Grundrechtsverletzungen von den Europäischen Mitgliedsstaaten als ‚sicherer Drittstaat‘ für Geflüchtete einstuft wird? Annina Mullis, Autorin der Studie, sagt: „Der Widerspruch zwischen der Behauptung, die Türkei sei sicher, und der Erfahrung der Geflüchteten vor Ort lässt nur eine Schlussfolgerung zu: Die Einstufung der Türkei als „sicherer Drittstaat‘ entspringt politischem Kalkül und hält rechtlichen Kriterien nicht stand. Am Beispiel der Türkei zeigt sich vielmehr, dass die Anwendung des Konzepts des ‚sicheren Drittstaates‘ als Instrument verstanden werden muss, mit dem das Recht auf Asyl ausgehöhlt wird.“

In der Tat zeigt sich anhand des türkischen Beispiels, wohin sich die Europäische Migrationspolitik mit großen Schritten bewegt. Die hoch umstrittene Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS) bündelt verschiedene Maßnahmen, die Flucht nach Europa effektiv reduzieren sollen. Zentral darin sind neben gefängnisartigen Lager-Komplexen an den EU-Außengrenzen die Auslagerung von Migrationskontrolle in Herkunfts- und Transitstaaten. Ein wesentliches Ziel der Reform ist es, weitere Länder als ‚sichere Herkunftsländer‘ oder ‚sichere Drittstaaten‘ klassifizieren zu können und dies als Basis zur pauschalen Abweisung oder generellen Nichtbehandlung von Asylanträgen an den EU-Außengrenzen heranzuziehen.

Der EU-Türkei-Deal vom 18. März 2016 kann als ein erster Testballon angesehen werden, um einen EU-Anrainerstaat durch die Drittstaaten-Regelung in eine Puffer-Zone zu verwandeln und reiht sich ein in die jahrzehntelangen Bemühungen der EU, ihre Grenzen in den globalen Süden vorzuverlagern. Menschen, die in Europa Asyl suchen, können wegen der Drittstaaten-Regelung ohne die inhaltliche Prüfung ihrer Asylanträge in das Transitland Türkei zurückgeschoben werden. Auch wenn dieses Experiment basale Rechte außer Kraft gesetzt und zu Kettenabschiebungen geführt hat, setzt die EU darauf, dieses Vorgehen mit der GEAS-Reform fortzusetzen. Die Kriterien, wann ein Land für ein Individuum als „sicherer Drittstaat“ eingestuft werden kann, sollen nun noch weiter gesenkt werden und das Konzept auch auf Länder wie Tunesien angewendet werden.

Das Gutachten zeigt jedoch, dass dieses Vorgehen juristisch nicht gedeckt ist und die betroffenen Menschen Gewalt, Inhaftierung und Kettenabschiebungen in Länder ausgesetzt werden, in denen sie um ihr Leben fürchten müssen. Anstatt weitere Länder fälschlicherweise als ‚sicher‘ zu erklären, muss die Einstufung der Türkei als ‚sicherer Drittstaat‘ zurückgenommen werden. Sonst droht nichts geringeres als die Abschaffung des Grundrechts auf Asyl.

Von welcher Sicherheit sprechen sie?

Warum die Türkei nicht als "sicherer Drittstaat" betrachtet werden kann – ein Expert:innengutachten im Auftrag von medico international.

Veranstaltung

Warum die Türkei kein "sicherer Drittstaat" für Geflüchtete ist

Vorstellung des Gutachtens am 30.08.2023 um 19 Uhr via Zoom.

Veröffentlicht am 30. August 2023

Valeria Hänsel

Valeria Hänsel ist Migrationsforscherin und bei medico international als Referentin für Flucht und Migration in den Regionen Osteuropa, östliches Mittelmeer und Nahost tätig.

Kerem Schamberger

Kerem Schamberger ist Kommunikationswissenschaftler und in der Öffentlichkeitsarbeit von medico international für den Bereich Flucht und Migration zuständig. 

Twitter: @KeremSchamberg
Facebook: Kerem Schamberger
Instagram: keremschamberger


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