Das Bild von Ali Deniz Uzatmaz

Déjà-vu in Ankara

In den sozialen Medien gibt es viele Bilder der Opfer des #AnkaraBombing. Darunter schreckliche Déjà-vu-Ereignisse wie das Foto von Ali Deniz Uzatmaz.

In den sozialen Medien gibt es viele Bilder der Opfer des #AnkaraBombing. Es finden sich unfassbar traurige Geschichten, etwa wie ein frisch vermähltes Paar unter den Toten ist, ein Großvater mit seinem Enkel, die Tochter eines Ehepaars, das selbst schwerverletzt überlebte, ein Freund, der seine sterbende Freundin im Arm hielt. Und es gibt so etwas wie tatsächliche Déjà-vu-Ereignisse, die sehr viel über die politische Landschaft der Türkei und die Gewalt aussagen, die mit der AKP-Regierung einhergehen.

Das Déja-vu auf Fotos

Diese Geschichte ist so etwas: Ein heute 19-jähriger Aktivist demonstrierte einst dagegen, dass ein damals 19-Jähriger Aktivist einfach von der Polizei totgeschlagen werden darf. Ali Deniz Uzatmaz ist einer der 101 oder 102 Opfern des Anschlags in Ankara. Der 19-jährige angehende Student der Elektrotechnik war ein Aktivist der linken Emek-Jugend in Antep.

Noch am 3. Juni 2015 demonstrierte er anlässlich des 2. Jahrestages des Todes von Ali İsmail Korkmaz, der im Zuge der Gezi-Proteste von der Polizei in der Nacht vom 2. auf den 3. Juni 2013 in Eskişehir mit Knüppeln halbtot geschlagen wurde und später an einer Hirnblutung starb. Am Sonntag wurde nun Ali Deniz Uzatmaz in Ankara kurz vor der Beginn der großen Friedensdemo ermordet. Jetzt halten wieder andere junge AktivistInnen sein Bild hoch und protestieren gegen den Mord an ihm und seiner ebenfalls ermordeten Freundin Şebnem Yurtman, die bei der Emek-Jugend in Mersin aktiv war. Sie ist die junge Frau mit der roten Mütze.

Und wann wird dieser schreckliche Kreislauf unterbrochen? Am 1. November, wenn gewählt werden soll? Wann werden die Mörder zur Rechenschaft gezogen? Beim quasi totgeschlagenen Ali İsmail Korkmaz im Jahr 2013 gab es Videoaufzeichnungen mehrerer Überwachungskameras. Die Polizei beschlagnahmte verschiedene Bänder und löschte sogar welche. Aber die Bilder blieben in der Welt und sie lösten eine Welle der Proteste aus. Es kam zum Prozess gegen die beteiligten Polizisten, von denen einige mehrjährige Haftstrafen bekamen, andere wurden freigesprochen.

Geheime Ermittlungen

Laut einem Bericht der Zeitung Cumhuriyet hat gestern die Staatsanwaltschaft der 2. Kammer des Staatsgerichtshofes in Ankara die Ermittlungen bezüglich der mutmaßlichen zwei Selbstmordattentäter, die für das Massaker am Samstag verantwortlich waren, als „geheim“ deklariert. Das heißt, dass die Öffentlichkeit keinen und die AntwältInnen der Angehörigen allenfalls sehr eingeschränkten Zugang zum Verlauf der Ermittlungen bekommen werden – wenn überhaupt. Warum das?

Damit das „Ergebnis“ dieser Untersuchung auch tatsächlich stimmt, wie es die Regierung gerne hätte? Nein, Transparenz angesichts einer solchen Bluttat, eines solchen Staatsversagens und aller Vermutungen über eine mögliche geheimdienstliche Komplizenschaft mit den Attentätern würde anders aussehen. Auch Rücktritte von führenden Polizeibeamten oder aus den Sicherheitsapparaten, geschweige denn aus der Regierung, gibt es bislang keine.

Taktlosigkeit und Rücksichtslosigkeit

Nein, es kommt weiter zu Taktlosigkeiten, die in ihrer Rücksichtslosigkeit doch immer wieder überraschen. So wollten am Sonntag nach dem Attentat Trauernde am Tatort des Anschlags Blumen niederlegen. Sie wurden von der Polizei mit Gaseinsätzen vertrieben. Kein Mitglied der AKP-Regierung kondolierte am Ort des Terroranschlags, auch nicht der AKP-Bürgermeister der Stadt, nein, die Toten waren wie schon in Suruç wieder nur die „anderen“: Linke, KurdInnen, AlevitInnen oder gleich nur AtheistInnen. Schnell wurde der Platz vor dem Bahnhof von der Stadtreinigung mit Wasser abgespritzt und wieder für den Verkehr freigegeben. Nichts soll bleiben, kein Ort der Erinnerung oder des Abschiednehmens entstehen.

Einzig die EU-BotschafterInnen legten noch am gestrigen Abend am Ort des Anschlags Blumen nieder. Staatspräsident Erdoğan, der ansonsten in einem fort öffentliche Reden hält, Gebäude einweiht und durch das Land fährt, hielt das bislang nicht für nötig. Noch nicht einmal eine Fernsehansprache waren ihm die 101 Toten von Ankara wert. Nein, nur eine kurze Stellungnahme im Staatsfernsehen gab es. Am Tag nach dem Massaker. Der Staatspräsident wies auf etwas hin, was andere schlicht übersehen hatten: „Der Bahnhof wurde auch schwer beschädigt.“ Richtig, das stimmt wohl.

Veröffentlicht am 13. Oktober 2015

Martin Glasenapp

Martin Glasenapp war bis Frühjahr 2016 stellvertretender Leiter der medico-Öffentlichkeitsarbeit und zuständig für den Nahen Osten und Syrien. (Foto: Christian Gropper)


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