Afghanistan

Das leere Versprechen

Nach einem Jahr Bundesaufnahmeprogramm konnten gerade einmal 13 gefährdete Afghan:innen nach Deutschland ausreisen. Ein Skandal mit Methode.

Von Vincent op’t Roodt

Heute vor einem Jahr, am 17. Oktober 2022, verkündete die Bundesregierung das Bundesaufnahmeprogramm (BAP) für durch die Taliban besonders gefährdete Afghan:innen. Stolz erklärte Nancy Faeser, Deutschland handele und erfülle seine „humanitäre Verantwortung“. Annalena Baerbock fügte pathetisch hinzu, das BAP gäbe jenen, die sich für demokratische Werte eingesetzt haben, sowie Frauen und Mädchen „ein Stück Hoffnung“ sowie „die Chance auf ein Leben in Freiheit, Selbstbestimmung und Sicherheit“ zurück. 1.000 Afghan:innen pro Monat sollten über ein humanitäres Visum die Einreise nach Deutschland ermöglicht werden, 12.000 Menschen im Jahr.

Ein Jahr später haben sich diese Ankündigungen als leere Versprechen erwiesen. Bis Ende September 2023 gelangte keine einzige Person über das BAP nach Deutschland, dann landeten drei Linienflugzeuge mit ersten Afghan:innen mit Aufnahmezusage an Bord. Es waren 13 Personen. Das Auswärtige Amt (AA) und das Bundesinnenministerien (BMI) waren sich nicht zu schade, das zu feiern. Jetzt seien die Kapazitäten aufgebaut, weitere Einreisen würden bald folgen. Happy End, Deutschland!

Rechte? Gnade!

Der lange Stillstand ist keineswegs Folge ungeplanter Verzögerungen, im Gegenteil. In ihm manifestiert sich eine Politik, der es nie wirklich um Solidarität mit den Afghan:innen ging. Mit seinen ausschließenden und realitätsfernen Kriterien hat das BAP die Gruppe der Anspruchsberechtigten rigoros verkleinert. Die langwierigen und intransparenten bürokratischen Verfahren bauen systematisch enorme Hürden auf. Und indem der Schutzstatus nicht aus dem völkerrechtlich verbrieften individuellen Recht auf Asyl, sondern nach §23(2) Aufenthaltsgesetz nur aus dem „politischen Willen“ des BMI abgeleitet wird, ist die Aufnahme übers BAP nichts als ein humanitärer Gnadenakt nach Gutdünken des BMI.

Die wenigen Menschen, die dank der „Gnade Deutschlands“ nach Monaten des Wartens eine Aufnahmezusage erhalten, stehen der großen Zahl derer gegenüber, denen die Aufnahme verwehrt bleibt. Die wenigen sind die kalkulierte Ausnahme vom Ausschluss aller. Letztlich ist das BAP nur ein weiteres Rad im europäisch-deutschen Grenzregime, das die brutalisierte Abschottung und die Entrechtung der zu „illegalen Migrant:innen“ deklarierten Schutzsuchenden absichert und legitimiert.

Vor Ort, in Afghanistan, kämpfen Hunderttausende Menschen ums Überleben. Seit der Rückkehr der Taliban an die Macht wurden unzählige Menschenrechtsaktivist:innen, Jurist:innen, Journalist:innen, Kulturschaffende und frühere Beamt:innen sowie Ortskräfte der NATO-Staaten  inhaftiert, gefoltert und getötet. Etliche erhalten (Mord-)Drohungen und werden durch Hausbesuche oder Vernehmungen eingeschüchtert. Menschen, die von einer freieren oder gerechteren Zukunft geträumt haben, stecken in einer gefährlichen Sackgasse. Frauen und Mädchen sind jeglicher Rechte beraubt, queere Menschen sind alltäglicher Gewalt ausgesetzt. 20-Jahre westlicher Militärintervention sind in dystopische Zustände gemündet, in ein, wie es die ehemalige Vorsitzende der Unabhängigen Afghanischen Menschenrechtskommission Shaharzad Akbar genannt hat, „Massengrab der Träume“. Ein Frauenrechtsaktivist, seit zwei Jahren von den Taliban gejagt, schrieb an medico: „Our days and nights are equally black. Believe me, we do not live, we do not have a life. We try to stay alive.”

Hürden, Verzögerungen, Schikanen

Das Bundesaufnahmeprogramm ignoriert systematisch die Kernforderungen der Zivilgesellschaft wie die nach einer zentralen Anlaufstelle, an die sich Gefährdete und Verfolgte direkt wenden können. Stattdessen müssen sich Schutzsuchende an zivilgesellschaftliche Organisationen – im BAP-Sprech „meldeberechtigte Stellen“ – wenden und darauf hoffen, dass diese sich ihres Falles annehmen. Das macht es für Menschen ohne bereits bestehende Kontakte zu deutschen NGOs so gut wie unmöglich, überhaupt für das Programm in Betracht zu kommen. Es ist auch nicht öffentlich einsehbar, welche Organisationen als meldeberechtigte Stellen registriert sind. Darüber hinaus erhalten diese keinerlei finanzielle oder personelle Unterstützung für die Fallbearbeitung. Faktisch macht sie das selbst zu „Gatekeepern“.

Das Programm und seine Kriterien folgen einer Exklusionsstrategie. Allgemein bekannte Bedrohungs- und Gewalterfahrungen müssen individuell bewiesen und glaubhaft gemacht werden. Unbestritten vorliegende Gefährdungsprofile wie Gewalt aufgrund von Sippenhaft, Bestrafung und gewalttätiges Unterdrucksetzen von Angehörigen bereits Geflohener werden explizit ausgeschlossen – denn die Aufnahme von Personen, bei denen eine solche „abgeleitete“ Gefährdung vorliegt, sind im BAP nicht vorgesehen. Dabei verlangt das BAP, dass sich gefährdete Afghan:innen zum Zeitpunkt der Bewerbung innerhalb Afghanistans befinden müssen. Wer aufgrund akuter Bedrohung bereits in einen Drittstaat fliehen konnte, wird ausgeschlossen – mag er auch dort von extremer Gewalt und Ermordung sowie von Abschiebung nach Afghanistan bedroht sein. Das macht Länder wie Pakistan und Iran zu quasi-sicheren Drittstaaten.

Erfüllt eine Person die Kriterien, beginnt der langwierige und nervenaufreibende Prozess der Bewerbung: Die Fallaufarbeitung durch meldeberechtigte Stellen zieht sich meist über Wochen. Dokumente, die die Biographie und die Gefährdung belegen, müssen gesammelt, ein Gutachten über die individuelle Gefährdungslage verfasst werden. Nicht selten müssen Dokumente wie die Eheurkunde beschafft werden. Das stellt Betroffene häufig nicht nur vor unüberwindbare finanzielle Hürden. Es verlangt von ihnen auch, sich an von den Taliban beherrschte Behörden zu wenden.

Sind alle Dokumente beisammen, kann der Fall allerdings noch nicht bei der Bundesregierung eingereicht werden. Das darf erst dann erfolgen, wenn die BMI-finanzierte Koordinierungsstelle (KooSt) die Plausibilität des Falles bestätigt. Diese „zweifache Plausibilitätsprüfung“ führt faktisch zu einer weiteren Verzögerung sowie zur Einschränkung der Ressourcen der KooSt in der Bearbeitung der knapp 40.000 vorliegenden Fälle.

Ein Spiel auf Zeit

Gibt die KooSt grünes Licht, kann der „Fall“ in die IT-Anwendung der Bundesregierung hochgeladen werden. Jetzt ist ein Katalog von über hundert Fragen zur Biographie und Gefährdungslage zu beantworten, viele davon mit standardisierten Antwortmöglichkeiten. Dabei wird die Komplexität von Einzelfällen künstlich gebrochen, um sie berechenbar und vergleichbar zu machen. Ist der Fragenkatalog vollständig ausgefüllt, verschwindet der Fall in den Tiefen der Datenbank und entzieht sich damit jeglicher Einsicht für Betroffene und NGO-Mitarbeiter:innen. Ab jetzt heißt es hoffen und warten.

Ein automatisiertes Bewertungssystem hierarchisiert die Anträge, laut Anordnung vom 19. Dezember 2022 u.a. nach personenbezogener Vulnerabilität, Deutschlandbezug, besonderer persönlicher Exponiertheit, dem politischen Interesse Deutschlands etc. In monatlich stattfindenden Auswahlrunden wird dann eine in der Regel niedrige dreistellige Zahl als Auswahlvorschlag an das BAMF weitergeleitet. Wer nicht ausgewählt wurde, bleibt im Datenpool, möglicherweise für immer. Da es sich nicht um ein offizielles Antragsverfahren handelt, gibt es auch keinen Ablehnungsbescheid. Die ausgewählten Personen lässt das BAMF kontaktieren. Der anschließende Prüfprozess dauert noch einmal Wochen bis Monate, bis – mit viel Glück – irgendwann eine Aufnahmezusage kommt. Mit diesem Bescheid in der Hand müssen sich die Personen nach Pakistan begeben, wofür gültige Pässe und Visa nötig sind.

Ist der risikoreiche Grenzübertritt nach Pakistan geschafft, wird den Ausgewählten eine Unterkunft gestellt. Doch die Ausreise nach Deutschland ist keineswegs sicher, steht der Aufnahmebescheid doch unter dem Vorbehalt des erfolgreichen Durchlaufens eines Sicherheitsinterviews sowie des Visumsverfahrens in der deutschen Botschaft in Islamabad. Im Sicherheitsinterview unterzieht geheimdienstliches Personal alle Familienmitglieder ab 16 Jahren einer Befragung, um herauszufinden, ob sich unter ihnen möglicherweise islamistische Gefährder:innen oder Betrugs- bzw. Missbrauchsfälle befinden. Dies ist eine mentale Tortur für bereits traumatisierte Menschen. Ist das Visumsverfahren schließlich erfolgreich abgeschlossen, werden die Flüge nach Deutschland gebucht. Wie gesagt: Nach einem Jahr sind 13 Menschen durch- und angekommen.

Selbst den gewieftesten Ministerialbeamt:innen dürfte es schwerfallen, eine Erfolgsquote von weit unter einem Prozent schönzureden. Doch ungeachtet der niedrigen Zahl werden von rechts Forderungen immer lauter, das BAP einzustellen. Unterm Strich dient die Aufnahme von einigen wenigen Menschen nur dazu, Tausende andere in Afghanistan ihrem Schicksal zu überlassen und mit gutem Gewissen vergessen zu können.

Vincent op ‘t Roodt ist bei medico international für das Bundesaufnahmeprogramm Afghanistan zuständig.

Veröffentlicht am 17. Oktober 2023

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