Kommentar

Auf der Suche nach Frieden, der kein Frieden mit den Verhältnissen ist

Wie steht es um die psychische Verfasstheit einer Gesellschaft, die sich an „sämtlichen Fronten“ in bedrohlichen Zeiten befindet?

Von Julia Manek

Kontinentaleuropa habe seit dem Zweiten Weltkrieg bis zum russischen Angriffskrieg auf die Ukraine anhaltend Frieden gehabt. Diese Annahme durchzieht weite Teile der deutschen Öffentlichkeit und Gesellschaft. Auffällig unsichtbar bleiben tatsächlich stattgefundene Kriege. Hat sich ein Schleier des „Nicht-Wissen-Wollens“ über sie gelegt, dessen unwiderrufliches Zerreißen einen Sturm der Affekte auslöst?

Es geht um Frieden, doch nichts scheint weiter entfernt. Als würde das auffällig affektgeladene Ringen um die Idee von Frieden, selbst nicht schon die psychischen Erschütterungen der Menschen in den globalen Krisen offenlegen. Zeugen nicht sowohl der überbordende Kriegseifer als auch Friedensforderungen, die von Empathielosigkeit gegenüber den Betroffenen gezeichnet sind, von der Mobilisierung multipler unbewusster Abwehrmechanismen angesichts überwältigender Angst und Ohnmacht?

Frieden kriegen in einem Sturm der Affekte?

Der Angriffskrieg auf die Ukraine dauert nunmehr über 365 Tage an. Eine Zeit, in der es um Frieden geht – als Forderung, als Idee und letztendlich immer wieder als Leerstelle. Diese Leerstelle zeigt sich in der neuerlich vagen UN-Resolution, die sich in ihrer Symbolträchtigkeit nicht nur gegenüber den Enthaltungen und Gegenstimmen, sondern auch vor der materiellen Realität behaupten muss. Eine Leerstelle, die mit widersprüchlichen Platzhaltern versucht wird aufzufüllen: so klingt es in den Forderungen der Außenministerin Annalena Baerbock nach „Waffen für den Frieden. Krieg dem Krieg.“ Aussagen, dass „deutsche Waffen Menschenleben schützen“ mögen auch dem Wunsch geschuldet sein, endlich einmal auf der richtigen Seite der Geschichte – der Seite der Guten – zu stehen.  Doch wie alle anderen Waffen werden auch deutsche Waffen hergestellt, um Menschen zu töten. Niemals könne Krieg ein Mittel zum Frieden sein, so die Philosophin Judith Butler: „Krieg erzeugt Krieg. Er bringt gedemütigte und wütende Menschen hervor.“

Jenseits seiner politischen und wirtschaftlichen Dimension sind Krieg und Kriegsbereitschaft nicht zuletzt auch über seelische Bedürfnisse organisiert. In seinen Überlegungen zu einem konstituierenden Frieden betrachtet Raúl Sanchez Cedillo kritisch den Krieg und die psychischen Strukturen der Gesellschaft. Er unterstreicht: „Jeden Tag, den der Krieg weitergeht, werden demokratische Strukturen in einem Sturm der Affekte ausgehöhlt“. Gemeint sind damit nicht nur die direkt vom Krieg betroffen Menschen, gemeint sind auch die psychischen Dynamiken hierzulande. Seine These begibt sich in Resonanz zur Sozialpsychologie der Frankfurter Schule: Die Vereinzelung der bürgerlichen Existenz und deren Unbehagen mit dem einschneidenden Gefühl einer „drohenden sozialen Katastrophe“, betrachtet den aufkommenden Autoritarismus als eine willkommene Abwehr wider die eigene Angst und Ohnmacht und begünstigt den Aufstieg zur gesellschaftlichen Kriegsreife. So Ende des letzten Jahrtausends postuliert, haben sich die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, darunter auch Kriegstechnologien, in rasender Eile verändert. Was aber ist mit den Psychen der Subjekte?

Bedrohliche Zeiten

Die jetzige Welt ist eine, in der sich multiple Krisen zur Polykrise verschränken und unausweichlich erscheinen. Die Spirale globaler Zerstörung dreht sich immer schneller: Klimawandel, Pandemie, Krieg. Katastrophische Szenarien geben sich die Klinke in die Hand, die Beschädigungen der Welt werden zunehmend irreparabel, in deren Angesicht Unsicherheiten und Ohnmacht wachsen – objektive wie subjektive. Mit dem global gewordenen neoliberalen Projekt wurde die Tendenz der entfremdeten Vereinzelung auf die Spitze getrieben. Das Individuum, das nun auch unternehmerisch für sich selbst sorgende Subjekt, muss den sich zusätzlich verschärfenden Anforderungen allumfänglich selbstoptimiert gegenübertreten.

Resilienz wurde zum neuen Modewort: Es galt und gilt, sich fit zu machen für die Katastrophe, aus der es in der Corona-Pandemie als globales, alle erfassendes Moment, keinen Ausweg zu geben scheint. Vereinzelung und Einsamkeit bestanden schon vor der Pandemie, verschärften sich durch die Lockdowns aber spürbar und blieben auch nach deren Aufhebung bestehen. Die Erkenntnis über die Verletzlichkeit des eigenen Lebens ist unübersehbar und kann schwerlich abgewehrt werden. Alle – selbst die reichen und mit sämtlichen Sicherungssystemen versehenen Menschen im globalen Norden wurden daran erinnert, dass sie sterblich sind. Was für ein Affront.

Bedrohliche Zeiten, die (nicht nur) psychische Überforderungen auslösen, zu deren Bewältigung nicht nur Weltuntergangsphantasien gepflegt und Affekte als regressive Abwehr von Ängsten mobilisiert werden. Krieg sei nichts anderes, als ein weiteres Mittel der Abwehr wider die eigene Hilflosigkeit und Verletzlichkeit, schreibt Judith Butler.

Krieg ist Frieden

Darin, dass der Kriegszustand gegen die Position eines Anderen mobilisiert wird, ließe sich die eigene Verletzbarkeit auf diesen Anderen projizieren. Gleichzeitig ist die psychische Abwehr ein misslungener Umgang: Der Krieg ein Zustand der zugespitzten Verletzlichkeit – er stellt eine Welt her, in der sich die Wahrscheinlichkeit einer erneuten Verwundung erhöht. Reale Widersprüche verschärfen sich, ebenso die psychischen und gesellschaftliche Spannungen, Verrohung breitet sich aus.

Wenn die Komplexität der Verhältnisse kaum aushaltbar zu sein scheint, versprechen Dichotomien das Bedürfnis nach einfachen Antworten und Klarheit zu erfüllen. Und tatsächlich erstarkten mit dem Kriegsbeginn hierzulande Entweder-oder-Logiken, spürbar reduzierte sich die Ambiguitätstoleranz, also die Fähigkeit, Vieldeutigkeit und Unsicherheit zur Kenntnis zu nehmen und ertragen zu können. Der gedankliche wie öffentliche Raum für Widersprüche und Gleichzeitigkeiten schrumpft bedenklich zusammen: Die Militarisierung des Denkens verkörpert in Feind versus Freund, Täter versus Opfer, Sieg versus Niederlage, Krieg versus Frieden.

Die sozialpsychoanalytische Betrachtung medialer Diskurse unterstreicht dies: In der aufgerüsteten deutschen Sprache werden ukrainische Soldaten unlängst als „tapfer“, gar „heroisch“ bedacht. Vom Sofa aus steigen mediale Rezipient:innen gemeinsam mit Journalist:innen in deutsche Panzer, liegen mit Soldaten in Schützengräben, mit Verwundeten in Lazaretten und machen mitunter zusammen mit „der ukrainischen Jeanne D’Arc“ „Jagd auf russische Offiziere“.

Die Eindrücklichkeit der Bilder macht es schwierig, sich ihnen zu entziehen. Gleichzeitig formulieren sie ein Angebot: Sie laden nicht nur dazu ein, eingestaubtes anti-russisches Ressentiment wiederzubeleben, sondern auch dazu, sich mit den abgebildeten Held:innen zu identifizieren und so den eigenen, angestauten Ängsten – und vielleicht sogar dem durchschnittlichen Dasein einer langweiligen Konsumgesellschaft – zu entfliehen. Solange die Ukrainer:innen kämpfen, kann der Fernsehabend auf sicheren Sofas adrenalingeladen im Schützengraben stattfinden.

Für wen Krieg immer noch Krieg ist und wer versucht, sich diesem Sog der Affekte zu entziehen, wird schnell disqualifiziert und abgewehrt, der Naivität oder des „Putin-Verstehens“ beschuldigt. Der Sturm der Empörung trifft zielsicher, selbst den des bloßen Gesinnungspazifismus unverdächtigen Jürgen Habermas. Überraschenderweise erfährt der bellizistische Kriegseifer auch aus der Richtung Unterstützung, aus der sich eigentlich Vorschläge für einen Frieden finden lassen sollten: von links.

Stell dir vor es ist Frieden und keine:r geht hin

Die Eindimensionalität des Denkens findet sich ebenso im wertebasierten Kriegsplädoyer, wie in der Friedensbewegung. Das „Manifest für den Frieden“ rühmt sich, eine Antwort wider den Krieg und für den Frieden zu geben, versammelt hinter sich aber nicht nur Positionen, die für Frieden und Gerechtigkeit eintreten, sondern auch Antidemokrat:innen, die für Frieden und Freiheit wenig übrig haben. Dabei ist es durchaus möglich, einen Friedensaufruf so zu formulieren, dass autoritäre Rechte und gar Faschist:innen ihn nicht unterzeichnen können. Einen Aufruf also zu schreiben, der Komplexität aufrechterhält und nicht selbst Teil der dichotomen Logiken wird.

Auf den ersten Blick erscheint es absurd, dass die Friedensdemonstrationen auch jene mobilisieren, die sich mit dem Angriffskrieg und offenen Verbindungen zu den rechten, faschistischen Strukturen Russlands pflegen – und den Angriffskrieg „nicht für schlecht“ heißen. Dabei entpuppt sich eine Kontinuität mit den Corona-Protesten: Damals artikulierte sich in der Verleugnung des Virus eine regressive Abwehr von Todesangst. Artikuliert sie sich nun in Teilen der Unterzeichner:innen des Manifests und in Teilen der derzeitigen Friedensbewegungen?

Sozialpsychologisch lassen sich die Demonstrationen der Friedensbewegung auch als Artikulation des Unbehagens und der Wut wider der westlichen Doppelmoral deuten, gegen die man nicht anzukommen scheint. Ein sich nicht gemeinmachen wollen mit dem Krieg ist ohnmächtig. Vielleicht gar so sehr, dass sogar zur Identifikation mit dem ausgemachten Widersacher übergegangen und imaginiert wird, dass er diese Ohnmacht teilt. Wie sonst ließe es sich erklären, wenn der Russischen Erzählung Glauben geschenkt wird, die konstatiert, dass die NATO Russland keine andere Wahl gelassen habe als Angriffskrieg zu führen? Wenn aus dem Anliegen der Solidarität mit Unterdrückten nun aber eine Identifikation mit Tätern wird, dann ist das gleichzeitige Mitlaufen rechter Angebote weder überraschend noch zufällig. Denn mit der Täter-Opfer-Umkehr als oft mobilisierten Figur rechter Bewegungen geht eine unbewusste psychische Abwehr einher, die Erleichterung verspricht: Wer Opfer ist, muss keine Verantwortung übernehmen, weder für die Gegenwart noch für die Zukunft. Unwiderruflich ist die Opferidentität in der Vergangenheit festgeschrieben. Sie enthebt der Herausforderung, Antworten für eine kaum vorstellbare, teils apokalyptisch erscheinende Zukunft zu finden, in der Krieg nur eine von multiplen Krisen ist.

Was fehlt, ist eine solide Analyse des Kriegsregimes und der Idee davon, was in der heutigen Welt ein antiimperialistischer Gegenentwurf sein könnte. Während die einen Frieden mit Sieg und die anderen Frieden mit Unterwerfung ersetzen, fehlt es beiden nur noch polförmig denkenden Positionen an Empathie für diejenigen, die von ihm betroffen sind. Damit gestaltete sich der Diskurs über Frieden selbst als strukturell von rechts be- und getrieben.

Sich nicht affizieren lassen?

„Stell dir vor, es ist Krieg und keine:r geht hin.“ Der phantastisch-wirkmächtige Slogan der Friedensbewegung wird oft als Kuckucks-Zitat eines Gedichts von Bertolt Brecht ausgegeben. Der schrieb in der Originalversion: „Nicht einmal den Kampf vermeidet, wer den Kampf vermeiden will: denn es wird kämpfen für die Sache des Feinds, wer für seine eigene Sache nicht gekämpft hat.“

Eine pazifistische Alternative zu finden, die derartige Spannungen vereint, wäre die eigentlich einzulösende Aufgabe. Freilich steht nicht alles auf affektivem Sturm, Stimmen der Vernunft existieren, obgleich im medialen Eifer des Krieges attackiert oder kaum hörbar gemacht. Auch eine von Vernunft gespeiste Antwort auf den Krieg kommt nicht ohne eine Brise Affekt aus. Zum einen ist es schwierig, beinahe unmöglich, nicht affiziert zu sein – von den massiven Auswirkungen, den realen und den phantasmatischen Ängsten. Frieden ist, so Butler, kein einfaches Antidot gegen den Krieg, um die Psychen zu beruhigen und alles andere als ein idyllischer Zustand: Im Frieden manifestiert sich nicht zuletzt auch der Widerstand gegen die Versuchung des Krieges. Eine Antwort auf den Krieg muss deswegen auch durchsetzt sein von einem Bewusstsein für Trauer, Schmerz und Verletzlichkeit und damit dem Bruch mit der Phantasie vom omnipotenten neoliberalen Subjekt.

Groß sind die Widersprüche zwischen den gelebten Realitäten. Jenseits psychischer Abwehr verhindern Sprachbarrieren und räumliche Trennungen eine Verständigung. Wo bestehen überhaupt reale Möglichkeiten für einen Diskurs, wie kann Veränderung erreicht werden? In den Diskussionen mit medico-Partner:innen ist es einfacher zu fragen: „Wie soll es weitergehen? Wie stellst du dir die Gesellschaft in der Zukunft vor?“, als „Was ist Frieden? Wie soll er aussehen?“ Eine gemeinsame Antwort darauf zu finden, ist noch schwerer. Gerade die realpolitischen Interessen globaler Akteure stimmen nachdenklich, wie ein Frieden für die Menschen in der Ukraine aussehen könnte – selbst bei einem Ende des Krieges.

Unsere Partner:innen aus der Ukraine berichten vom fortschreitendem neoliberalen Umbau des Staates im Kriegsgeschehen. Es scheint, dass der Wiederaufbau von Infrastruktur und die humanitäre Versorgung privaten Konzernen und Nichtregierungsorganisationen überlassen werden und der Staat die Kriegsführung übernehmen soll. Weitere dieser Umstrukturierungen behindern den Aufbau einer Gesellschaft, in der Frieden demokratisch mitgestalten werden kann. Wie aber kann ein gutes Leben aussehen, in dem Frieden nicht losgelöst von den Verhältnissen gedacht wird?

Auf die Frage, was passiert, wenn der Krieg weiterläuft, antworteten unsere Partner:innen: „Das Gefährlichste ist, dass man sich an diesen Zustand gewöhnt.“

Veröffentlicht am 18. April 2023

Julia Manek

Julia Manek ist Psychologin und Humangeographin. In der Öffentlichkeitsarbeit von medico international ist sie als Referentin für psychosoziale Arbeit tätig.


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