Kurdistan

Angriff zweier Großmächte

Was treibt die Türkei und den Iran, zwei hegemoniale Mächte im Nahen Osten, bei der Unterdrückung der Kurden zu kooperieren?

Von Dastan Jasim und Pedram Zarei

Die Geschichte der Kurd*innen in allen Teilen Kurdistans ist von Genoziden, Repression und Zwangsassimilation geprägt. Die Nationalstaaten, in denen die Kurden zwangseingebunden sind, waren trotz unterschiedlicher geopolitischer Interessen oftmals Verbündete, wenn es um die kurdische Frage ging. Das zeigt sich am deutlichsten an der Anzahl der geschriebenen Verträge, gegenseitigen Abschiebungen politischer Geflüchteter und gleichzeitiger militärischer Offensiven.

Gerade auf den Iran und die Türkei trifft das zu. Schon ihr erster Freundschaftsvertrag von 1926 beinhaltete die Verpflichtung, sich gegenseitig bei dem jeweiligen „Kurdenproblem“ zu helfen. Obgleich es also vielleicht auf den ersten Blick scheint, als stünden die Türkei und der Iran aufgrund ihrer Position in unterschiedlichen Machtblöcken auf verschiedenen Seiten der regionalen Konflikte, teilen sie doch zahlreiche gemeinsame Interessen und bemühen sich um bilaterale Kooperationen. Die Moderne zeichnet sich zudem dadurch aus, dass die beiden Staaten vom politischen Islam beherrscht werden: Im Fall des Irans handelt es sich um ein theokratisches Regime, dessen Entstehung auf das Jahr 1979 zurückgeht, und in der Türkei um die AKP, die in den frühen 2000er Jahren an die Macht kam.

Erst im Juli 2022 trafen sich beide Länder im Zuge des Astana-Prozesses mit dem ebenfalls autokratisch regierten Russland in der iranischen Hauptstadt Teheran. Dort haben der türkische Präsident Erdogan, der iranische Religionsführer Chamenei und der iranische Präsident Ebrahim Raisi über das militärische Vorgehen gegen die kurdischen oppositionellen Kräfte konferiert. Vor Beginn der seit 19. November parallel ablaufenden Angriffe hat der iranische Innenminister in einem Gespräch mit seinem türkischen Amtskollegen kundgegeben, dass der Iran im Kampf gegen die gemeinsamen Feinde mit der Türkei zusammenarbeiten würde.

Absurdität der westlichen Politik

Während der Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine von allen deutschen Massenmedien von Anbeginn an richtigerweise kritisiert wird, findet der seit Jahren anhaltende völkerrechtswidrige Angriffskrieg des NATO-Staates am Bosporus gegen die Kurd*innen in Rojava und der autonomen Region Kurdistans Irak (KRI) keine mediale Aufmerksamkeit. Angesichts der neuen Eskalation seitens der Türkei begnügte sich die deutsche Innenministerin Nancy Faeser bei einem Treffen mit ihrem Amtskollegen Süleyman Soylu mit der Bitte, dass die Angriffe „verhältnismäßig“ bleiben sollten und deklarierte, dass Deutschland im Kampf gegen den Terrorismus an der Seite der Türkei stehe.

In Folge der jüngsten türkischen Angriffe auf die Autonome Administration Nordost Syrien (AANES), die in der Nacht vom 19. auf den 20. November begonnen haben, sind bereits elf Zivilist*innen zu Tode gekommen und Dutzende wurden verletzt. Die Angriffe zielen auf die Vernichtung der vitalen Infrastruktur wie Getreidesilos, Krankenhäuser, Elektrizitätswerke, Ölfelder, Gas- und Wasserversorgung. Laut lokaler Medien sind sechs der zehn Getreidesilos in Dahr al-Arab, in der Nähe von Darbasiyah, beschädigt oder zerstört worden. Die Reparatur der Silos, in denen 1.000 Tonnen Mais gelagert waren, soll 150.000 Dollar kosten. Auch die Stadtzentren von Kobane und Qamislo sind von Angriffen mit Kampfjets und Drohnen betroffen.

Während die Türkei den Terroranschlag in Istanbul am 13. November zur Rechtfertigung der Angriffswelle instrumentalisiert, betont Mazlum Abdi, der Generalkommandant der Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF), dass niemand in Nord- und Ostsyrien in den Anschlag verwickelt sei und die SDF für eine vollständige Kooperation mit jeder Art von Untersuchungskommissionen bereitstünden. Für eine solche Untersuchung hat die HDP im türkischen Parlament erst kürzlich einen Antrag gestellt, der jedoch abgelehnt wurde – vor allem durch die regierende AKP-MHP Fraktion.

Keine Freunde außer den Straßen

In Ostkurdistan (iranisch besetztes Kurdistan) geht das Regime mit aller Härte gegen die Zivilist*innen vor. Nachdem die Stärke und das Ausmaß der landesweiten Proteste etwas abgenommen haben, konnte das Regime seine repressiven Kräfte in den nordwestlichen Gebieten des Landes konzentrieren. Dabei setzten mehrere Momente des Kontrollverlustes über einige Stadtteile in Şino, Ciwanro, Mehabad und Bokan dem Mythos der Unbesiegbarkeit des Regimes ein Ende und boten einen nie da gewesenen politischen Raum, der allen marginalisierten Menschen und Völkern des Mehrvölkerstaats Iran vorenthalten wurde. In der Stadt Mahabad, wo im Jahre 1946 die Republik Kurdistan gegründet wurde, feierten die Menschen die vorübergehende Abwesenheit des iranischen Regimes und erinnerten an die kurze Zeit der Freiheit nach der Revolution von 1979.

Die massiven Proteste in den kurdischen Städten waren dem Regime über diese zwei Monate hinweg ein Dorn im Auge. Das Regime hat während dieser Zeit mehrmals die Stützpunkte der ostkurdischen Parteien im irakischen Kurdistan mit Raketenwerfern und Kamikazedrohnen angegriffen. Die Islamische Republik, die versucht, die Massenproteste als ausländisches Komplott darzustellen, wirft den kurdischen Oppositionsgruppen vor, diese angestachelt zu haben.

Nun versucht das Regime die von Kurdistan ausgehenden Proteste an ihrem Ausgangsort niederzuschlagen. Es wird ein Krieg gegen die Menschen erklärt, obwohl die andere Seite nicht bewaffnet ist. Bilder, die trotz der Internetsperre aus den kurdischen Gebieten kommen, zeigen den Einsatz von Kriegshubschraubern und Maschinengewehren.

Laut neuester Meldungen hat die iranische Revolutionsgarde (IRGC) sich an der iranisch-irakischen Grenze gesammelt und bereitet sich auf einen großangelegten Einmarsch in die benachbarte Kurdistan Region Irak vor, um dort die iranisch-kurdischen Partien zu vertreiben. Das geschieht, nachdem die an irakische und kurdische Beamte in Bagdad gerichtete Drohung des iranischen Kommandeurs der Quds-Truppen, Esmail Ghaani, bei einem unangekündigten zweitägigen Besuch am Montag letzter Woche nicht zu gewünschten Ergebnissen führte.

Die Reaktion der Öffentlichkeit in den beiden Ländern

Die türkische Bevölkerung reagiert auf die Angriffe in Nordostsyrien mit mehrheitlicher Zustimmung oder verfällt wie bei anderen früheren Angriffen in Schweigen. Im Iran hingegen steht die nicht-kurdische Öffentlichkeit vor einer Weggabelung. Aufgrund der kulturellen Verwobenheit mit anderen Völkern im Iran und ihrer kulturellen Präsenz in der iranischen Gesellschaft erfreuen sich die Kurd*innen zum einen der Sympathie von Teilen der iranischen Bevölkerung. Zum anderen macht der vom iranischen Nationalismus beeinflusste Teil der Bevölkerung sich Sorgen, dass die als separatistisch gebrandmarkten Kurd*innen durch die wachsende Anerkennung politische Macht gewinnen – ein Narrativ, das sowohl durch die monarchistischen Kräfte mit ihren starken medialen Konglomeraten als auch den islamischen Propagandaapparat verbreitet wird.

Der iranische Nationalstaat wurde wie sein türkischer Nachbar um eine Ablehnung der Selbstständigkeit anderer Völker und demzufolge deren Zwangsassimilation gebildet. Die iranistische, auf Perser konzentrierte Propaganda wurde sowohl von der Islamischen Republik als auch von den Pahlavis (die Dynastie des ehemaligen Schah des Irans) systematisch gefördert und hatte einen tiefgreifenden Einfluss auch auf die Selbstdefinition der überwiegend im Zentrum des Irans lebenden Menschen. Während der türkische Staat die Existenz der Kurden jahrelang vehement verleugnet hat, unternahm der iranische Staat den Versuch, die kurdische Nation in die Identität des Großen Irans zu integrieren und ihr jedes Recht auf sprachliche und kulturelle Unterschiedlichkeit und Selbstbestimmung zu nehmen.

Doch das Vorgehen des Irans und der Türkei gegen die Kurden ist nicht nur ein Resultat strategischer Erwägungen. Sie bekämpfen die Kurden als Avantgarden einer anderen, einer demokratischen, feministischen und egalitären Wertegemeinschaft.

Das gegenseitige solidarische Verhältnis von Rojava und Rojhalat

Das politische Bewusstsein der Kurd*innen in Rojhelat (kurdisch für Ostkurdistan) wurde immer wieder von den in den anderen Teilen des abgespaltenen Kurdistans gelobt und wertgeschätzt. In den letzten Jahren wurden auf den Straßen der ostkurdischen Städte Parolen in Solidarität mit Rojava gerufen. Beim IS-Angriff auf Kobane im Jahr 2015 fanden in fast allen ostkurdischen Städten Spendenkampagnen statt und die Frauen in Rojhelat haben sich im Wiederspiegel der emanzipatorischen Bewegung in Rojava sowohl an ihre eigene Geschichte des Widerstands erinnert und versucht ihre Kämpfe nach diesem Vorbild zu reorganisieren.

In Rojava, wo auch viele Kurd*innen aus Rojhelat in den Reihen Volksverteidigungseinheiten kämpfen, haben die Frauen sich nach dem Tod von Jina Amini mit Menschen im Iran und ihrem Kampf gegen das Patriarchat solidarisiert. Trotz aller staatlicher Kooperation zwischen der Türkei und dem Iran im Krieg gegen Kurdistan ist deutlich: auch zivile, demokratische und innerkurdische Kooperation ist möglich, Rojava und Rojhelat stehen nebeneinander, wie die Menschen heute auf den Straßen beider Kurdengebiete rufen.

Dastan Jasim ist Politikwissenschaftlerin und Doctoral Fellow am German Institute for Global and Area Studies. Gerade ist sie in Sulaimaniya in der Kurdistan Region Irak, wo sie Feldforschung zu ihrem Dissertationsprojekt über die politische Kultur von Kurd*innen durchführt.

Pedram Zarei ist mehrsprachiger Übersetzter, Journalist und politischer Aktivist aus Rojhelat (Ostkurdistan). Er lebt seit vier Jahren als politischer Geflüchteter in Deutschland. Zu seinen Interessengebieten gehören die kurdische Frage, Kritische Psychologie und Kultursoziologie.

Veröffentlicht am 29. November 2022

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