Nordsyrien

Angekündigte Katastrophe

Die US-Truppen werden abgezogen, Erdoğan bereitet den Angriff gegen die kurdische Autonomieregion Rojava vor. Die medico-Partner vor Ort bereiten sich auf das Schlimmste vor.

Von Anita Starosta

Der Abzug der US-Truppen aus der Region lässt die Gefahr einer erneuten Eskalation im entgrenzten syrischen Krieg erheblich steigen. Sollte die Türkei Nordsyrien angreifen, wird die Zivilbevölkerung erneut mit Krieg, Flucht und Tod konfrontiert. Die demokratischen und föderalen Strukturen der nordsyrischen Selbstverwaltung sind akut bedroht.

Seit dem Kampf gegen den IS und der Schaffung demokratischer Strukturen in Rojava unterstützt medico den Aufbau des Gesundheitssystems in der Region sowie Nothilfemaßnahmen für Geflüchtete aus anderen Teilen Syriens. Auch im Falle eines Angriffs der Türkei stehen wir solidarisch an der Seite der Bevölkerung Nordsyriens und unterstützen unsere Partnerorganisationen in ihrer lebenswichtigen Arbeit für die Menschen in der Region.

In Erwartung des Schlimmsten

Die Stimme von Sherwan Bery, Vorsitzender des Kurdischen Roten Halbmonds in Nordsyrien, mit dem medico seit Jahren zusammenarbeitet, wirkt am Telefon besorgt, deutlich besorgter als sonst: „Wir bereiten uns auf das Schlimmste vor. Aus Afrin haben wir gelernt, dass wir uns auf niemanden verlassen können.“ Bery ist Nothelfer – er und sechshundert Kolleg_innen sind in den Gebieten der nordsyrischen Selbstverwaltung im permanenten Einsatz. Nun kommen die Vorbereitungen auf eine neue militärische Eskalation hinzu, die das Schlimmste befürchten lässt. Der Kurdische Halbmond stellt Krankenwägen bereit und stattet Gesundheitsposten in der Nähe der türkischen Grenze sowie Rückzugsorte weiter südlich aus.

Kriegserfahrungen haben sie beim Kurdischen Roten Halbmond in den letzten Jahren viel zu viele gesammelt, zuletzt in Afrin. Damals half medico bei der Beschaffung von Medikamenten für das einzige Krankenhaus der Region – bis es von türkischen Bomben zerstört wurde. Die kurdischen Nothelfer_innen waren aber auch bei der Befreiung Rakkas vom IS oder der Rettung der jesidischen Bevölkerung aus dem Shengal-Gebirge im Einsatz.

„Die Menschen hier haben Angst, sie wissen nicht was passieren wird und haben noch die Bilder aus Afrin im Kopf,“ antwortet Bery auf die Frage, wie die Stimmung in der Bevölkerung ist. Wenn Erdoğans Armee ernst macht und in die nordsyrischen Gebiete eindringt, wird es zu großen Fluchtbewegungen kommen, da ist sich Bery sicher. Am wahrscheinlichsten in Richtung Nordirak. Der Kurdische Halbmond steht deshalb in Kontakt mit den Vereinten Nationen, um den Flüchtlingen im Notfall schnell Zelte zur Verfügung stellen zu können und ihre Grundversorgung zu sichern.

Versorgung der Flüchtlinge aus Afrin

Derzeit leben noch über 100.000 Flüchtlinge, die vor der türkischen Invasion in den kurdischen Kanton Afrin geflohen sind, in der Region Sheba. Sie werden hier vom Kurdischen Halbmond versorgt. Die Flüchtlinge bereiten Sherwan Bery die größten Sorgen: Was passiert bei einem Einmarsch der Türkei mit den Menschen in Sheba und den über 350.000 anderen Vertriebenen, die in insgesamt dreizehn Flüchtlingscamps vom Halbmond betreut werden.
 

Berys Kollegin Jamila Hami ist gerade erst zu den Flüchtlingen nach Sheba aufgebrochen. Sie leiden aktuell besonders unter den harten Bedingungen des Winters, denn die Lager sind bei weitem nicht ausreichend ausgestattet, um alle Menschen vor Regen, Kälte und Krankheit zu schützen. Die Region Sheba ist seit einem Jahr abgeschnitten von den restlichen Gebieten der nordsyrischen Selbstverwaltung, eingekreist von der türkischen Besatzungsarmee und syrischen Truppen. Die Versorgung der Menschen ist eine immense Herausforderung für den Kurdischen Roten Halbmond. Über den Transport von Schwerkranken ins nächstgelegene Krankenhaus entscheiden die Vertreter des syrischen Regimes ebenso willkürlich wie über die Durchfahrt der LKW mit Nahrungsmitteln und Medizin.

medico unterstützt die Beschaffung und Verteilung von Medikamenten an die unterschiedlichen Gesundheitsposten in Sheba.

Ein Krankenhaus für Rojava

Seit Ende letzten Jahres unterstützt medico auch ein längerfristiges Projekt der Gesundheitskoordination der Nordsyrischen Selbstverwaltungen: die Renovierung und den Ausbau des Krankenhauses in Tirbespi, bei Qamishlo. Im Einzugsgebiet von etwa 100.000 Menschen gibt es bisher nur kleine Gesundheitsstationen für die Basisversorgung. Größere Eingriffe und Operationen können nur in Privatkliniken durchgeführt werden. Der Ausbau des Krankenhauses geht vorerst weiter, denn in der drohenden Notsituation ist ein ausgestattetes Krankenhaus eine wichtige Anlaufstelle für verletzte Zivilist_innen.

Sollte es noch gelingen, einen Angriff der Türkei durch Verhandlungen zu stoppen, wird der Ausbau des Krankenhauses trotzdem weitergehen, denn die Eröffnung hat höchste Priorität für die Menschen in der Region. Die Nordsyrische Selbstverwaltung gibt das demokratische Projekt und die Hoffnung auf ein föderales, gleichberechtigtes und multiethnisches Nordsyrien nicht auf. Die Fortsetzung geplanter Projekte ist auch ein wichtiges Zeichen an die Bewohner_innen in den umliegenden Städten und Dörfern, deren Alltag trotz der Bedrohungslage weitergeht.

Angekündigte Katastrophe

Die internationale Gemeinschaft hat schon beim Einmarsch der türkischen Truppen nach Afrin versagt, warum soll es jetzt anders kommen? Sherwan Bery macht sich keine Hoffnungen. Vor knapp einem Jahr rollten türkische Panzer aus deutscher Produktion über die Grenze in den nordsyrischen Kanton Afrin. Hunderttausende flohen vor den Angriffen des Militärs und dschihadistischer Milizen im Sold der Türkei. Allenfalls mahnende Worte kamen damals von Regierungsvertreter_innen der europäischen Länder – echte Konsequenzen für die Türkei hatten der völkerrechtswidrige Einmarsch und die faktische Annexion Afrins bis heute nicht.
 

Noch besteht die Chance, es diesmal anders zu machen und einen erneuten völkerrechtswidrigen Angriff der Türkei auf Nordsyrien zu stoppen. Bundesregierung und internationale Gemeinschaft sind in der Pflicht, die angekündigte Katastrophe zu verhindern. Gehandelt werden kann aber auch unmittelbar: Es braucht eine Lösung für die über 100.000 Flüchtlinge aus Afrin, die in der Sheba-Region festsitzen und die im Kriegsfall akut davon bedroht sind, von jeglicher Versorgung abgeschnitten zu werden.

„Wir werden eure Hilfe brauchen“, sagt Sherwan Bery am Ende unseres Gesprächs. Und er meint nicht nur die medico-Unterstützung im Gesundheitsbereich. Etwaige Menschenrechtsverletzungen oder Kriegsverbrechen müssen dokumentiert und öffentlich gemacht werden. „Bitte berichtet dann darüber, auch dafür brauchen wir euch!“ Die Erfahrungen aus Afrin sitzen noch tief, Sherwan Berys Befürchtungen sind nicht unbegründet. Damals war medico die einzige deutsche Hilfsorganisation, die unmittelbar Nothilfemittel zur Verfügung stellte und über die lebenswichtige Arbeit des Kurdischen Halbmondes berichtete.

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Veröffentlicht am 11. Januar 2019

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