Syrien

Zwei Engel der Geschichte

Ein Versuch, das Gefängnissystem und den politischen Mord in Syrien in neue Worte zu fassen.

Von Yassin al-Haj Saleh

Nachstehender Text ist die überarbeitete und gekürzte Version eines Vortrags, den Yassin al-Haj Saleh am 10. November 2020 auf einer Veranstaltung der Universität Köln und des Mena Prison Forum gehalten hat. Der Autor widmet den Text Lokman Slim, der das Mena Prison Forum zusammen mit Monika Borgmann gegründet hat und Anfang Februar 2021 im Libanon ermordet wurde.

Vermutlich wurde ich eingeladen, einen Vortrag über das Gefängnis und politische Gewalt zu halten, weil man mich diesbezüglich für eine „Autorität“ hält. Vielleicht glaubt man auch, es sei für mich ganz einfach, darüber zu sprechen. Das ist es nicht. Das war es nie. Tatsächlich ist es jetzt, nach einem niederschmetternden vergangenen Jahrzehnt, noch schwerer geworden. Und meine persönliche Erfahrung ist bereits prähistorisch. Um den Fortgang der Geschichte zu verstehen, bedarf es eines neuen Denkens, einer neuen Sprache, einer neuen Sensibilität. Das ist keine leichte Aufgabe, aber den Versuch ist es wert. Zumal uns das Leben in der Diaspora einen neuen Ansatz eröffnet, wenn wir unsere traumatisierenden Erfahrungen, alte und neue, in einen breiteren Kontext ähnlicher Erfahrungen einfügen. Die grundlegende Schwäche unserer syrischen „Gefängnisliteratur“ besteht nämlich darin, dass sie in Syrien eingesperrt bleibt. Sie verbindet sich nicht mit anderen Literaturen. Es scheint, dass Traumata, ob individuell oder kollektiv, die Menschen an ihre eigene Geschichte binden, von der sie (fälschlicherweise) glauben, sie sei einzigartig. Hätte das Trauma eine Zunge, würde es seine Einzigartigkeit verkünden und beanspruchen, ein absoluter Anfang zu sein. Dem muss man widersprechen. Ich möchte deshalb Elemente eines breiteren Zusammenhangs aufzeigen, mit dem Ziel, die syrischen Verhältnisse zu „entprovinzialisieren“ – in einer Welt, die mehr und mehr zu einer syrisierten zu werden scheint.

Die Assad-Familie regiert Syrien seit einem halben Jahrhundert, also bereits länger als die DDR oder die Apartheid in Südafrika bestanden. In diesen fünf Jahrzehnten hat Syrien, abgesehen vom Krieg mit Israel 1973, zwei interne Kriege erlebt: den ersten syrischen Krieg (SWI) von 1979 bis 1982 und den zweiten syrischen Krieg (SWII), der nun schon fast zehn Jahre andauert. Infolge des ersten syrischen Krieges verbrachten Zehntausende Syrer:innen viele Jahre im Gefängnis. Ich war einer von ihnen. Wie viele Menschen im gegenwärtigen Krieg hinter Gefängnismauern umgekommen sind? In einem Bericht, der im August 2020 veröffentlicht wurde, schätzt das Syrische Netzwerk für Menschenrechte die Zahl der gewaltsam verschwundenen Personen auf fast 100.000. Ich fürchte, dass viele nicht mehr am Leben sind. Und ich glaube, dass wir nicht das ganze Ausmaß kennen.

Indem Syrien zu einem russisch-iranischen Protektorat geworden ist, ist die dynastische Herrschaft der Assads vorerst gesichert. Nach all dem Blutvergießen scheint die Tötungsmaschine des Regimes seine Lebensdauer um mindestens eine weitere Generation zu verlängern.

Aber was hat eigentlich zu dieser chronischen nationalen Krise in der ältesten arabischen Republik geführt? Ich würde sagen: Die „Politik des Gefängnisses“ hat wesentlich dazu beigetragen. Ich meine eine Politik, in der das Gefängnis als grundlegende politische Institution die Bevölkerung weit mehr als entpolitisieren soll; sie soll sie politisch töten.

Der Begriff des „Politizids“ wurde in den 1980er-Jahren in der Politikwissenschaft eingeführt, um jene Gewalt zu fassen, die Menschen wegen ihrer politischen Zugehörigkeit massenhaft umbringt; Massenmorde also, die – anders als in der Völkermordkonvention der UN verankert – nichts mit nationalen, ethnischen oder religiösen Zugehörigkeiten zu tun haben. Hinzu kommt: Wenn ich von Politizid spreche, meine ich damit auch Formen des Tötens, bei denen Menschen nicht unbedingt physisch sterben. In den 1980er-Jahren gab es in Syrien beide Formen des Politizids: Während die Linken vorwiegend individuell verfolgt wurden, sollte die islamistische Gemeinschaft als ganze ausgelöscht werden. Zuletzt aber waren alle Syrer:innen einem Politizid ausgesetzt. Es gab kaum jemand, der oder die nicht in irgendeiner Form mit dem Sicherheitsapparat des Regimes in Berührung kam, sei es, indem man in eine der weit verzweigten Behörden vorgeladen wurde, an der Universität einen „Sicherheitscheck“ durchlief oder sich um einen Job oder einen Pass bewarb. Die berühmt-berüchtigte „Mauer der Angst“ ist eine verinnerlichte Angst, die zu einem tiefen Graben geworden ist. Er trennt Menschen voneinander und durchschneidet Familien.

Folter, Vergewaltigung, Massaker und Verschwindenlassen, stets in voller Straffreiheit für die Täter, sind Praktiken des Politizids. Das Gefängnis ist nur ein Teil dieses allumfassenden Komplexes. Eines haben die verschiedenen Schauplätze der syrischen Geographie des Terrors gemeinsam: Man hat nicht den Funken einer Ahnung über sein eigenes Schicksal. Es kann sein, dass man nie vor Gericht gestellt wird; oder es geschieht erst nach vielen langen Jahren der Haft; wird eine Strafe verhängt, kann man sich nicht darauf verlassen, dass man nach Ablauf der Haftzeit entlassen wird. Das Gefängnis in Assads Syrien ist nie eine juristische Institution gewesen. Es war immer eine politische Institution, und Unberechenbarkeit war immer ein Teil der Politik.

Im syrischen Kontext muss man zwischen „äußeren“ und „inneren“ Gefängnissen unterscheiden. Erstere meinen solche, in denen die Angehörigen den Aufenthaltsort der Insass:innen kennen und sie vielleicht sogar besuchen können. Insass:innen von „inneren Gefängnissen“ hingegen sind von der Außenwelt völlig abgeschnitten. Ihre Familien kennen weder ihren Aufenthaltsort noch wissen sie, ob sie tot oder lebendig sind. In diesen Gefängnissen wird wahllos gefoltert. Es sind keine Haftanstalten, es sind Folter- und Vernichtungslager.

In den Jahren von Hafiz al-Assad war Tadmor Inbegriff des „inneren Gefängnisses“, in der Ära seines Sohnes Baschar ist es Saydnaya. Und auch bisherige äußere Gefängnisse wie Muslimiyah und Adra wurden nach dem Aufstand 2011 in Schlachtfelder verwandelt. In dieser Zeit ist das System der inneren Gefängnisse zur Norm geworden. Es ist keine unglückliche Erfahrung, die nur manche machen. Das Gefängnis ist die Regel und stellt das allgemeine Gesetz dar. Die Metapher eines Landes als riesiges Gefängnis – als Großgefängnis – bedeutet, dass niemand in Syrien außerhalb des Gefängnis-Systems lebt, nicht einmal die Regimetreuen. Sie bedeutet, dass Gefangene nie wirklich freigelassen werden; Freilassung meint lediglich den Übergang von einer kleinen Zelle in eine größere. So gibt das Regime jede Freilassung als Ergebnis einer „Präsidentenamnestie“ aus: Man verlässt ein Gefängnis nicht, weil man das Recht dazu hat, sondern weil der barmherzige väterliche Präsident hat Gnade walten lassen. Eine Freilassung ist demnach auch kein Erfolg im Kampf für ein Syrien ohne politische Gefangenschaft. All das ist in Syrien nicht neu. Nach 2011 aber hat der Komplex aus Inhaftierung, Folter, Vergewaltigung, Massakern und Verschwindenlassen eine noch brutalere Form angenommen. Er hat sich in das verwandelt, was Jules Etjim eine Thanatokratie nennt: die Herrschaft durch die Produktion des gewaltsamen Todes der Beherrschten.

Die Vorstellung einer Gesellschaft als Gefängnis und der lebenslangen Gefangenschaft sollte man im Kopf haben, wenn man den gewaltigen Exodus aus Syrien seit 2013 verstehen will. Dieser Exodus setzte ein, nachdem das durch den Aufstand geöffnete Fenster der Hoffnung mit Macht wieder geschlossen worden war. Etwa 30 Prozent der Bevölkerung sind aus dem Land geflohen, und viele weitere würden gehen, wenn sie könnten. Syrien ist zur Heimat von Obdachlosigkeit und Hoffnungslosigkeit geworden, ohne auch nur die geringste Aussicht auf Gerechtigkeit. Ein halbes Jahrhundert ohne Veränderung, eine Ewigkeit. Das Regime raubt der Bevölkerung die Fähigkeit, eine Zukunft zu entwerfen und zu gestalten. Es maßt sich die Rolle einer unergründlichen Gottheit an. Die terroristische Wirkung, nicht zu wissen, was mit einem geschehen wird; die absolute Unvorhersehbarkeit; das war schon immer eine sehr mächtige Methode des politischen Massenmordes. Sie hat eine zerstörerische Wirkung auf Familien und gesellschaftliche Bindungen. Man kann nicht anders als zu verzweifeln.

Der Begriff des Politizids macht uns auf etwas aufmerksam: Die syrische Erfahrung des letzten halben Jahrhunderts lässt sich nicht in Kategorien von Unterdrückung oder Diktatur oder der poststalinistischen Form des sowjetischen Totalitarismus fassen. Sie gehört eher in die exterminatorische Kategorie, jene von Nazi-Deutschland und der stalinistischen Sowjetunion. Ich sage das, weil wir vor dem syrischen Aufstand dazu neigten, Syrien als ein lediglich halbtotalitäres Regime zu betrachten, etwa wie die DDR. Und noch immer, mehrere Jahre nach dem Aufstand, haben wir weder Sprache noch Literatur entwickelt, um Syrien in den Kontext genozidaler und exterminatorischer Staaten zu stellen.

Zurück zu den syrischen Zeitverhältnissen. Man könnte fast meinen, nichts habe sich geändert. Tatsächlich aber beruht dieser Eindruck von Ewigkeit („abad“) auf einer Dynamik der Verewigung („ta‘beed“). Diese Politik ist einer der großen Unterschiede zwischen exterminatorischen und „lediglich“ unterdrückerischen Regimen. Im Arabischen gibt es eine etymologische Verbindung zwischen „abad“ (Ewigkeit) und „ibada“ (Auslöschung). Das passt zu der These, dass es unmöglich ist, für immer an der Macht zu bleiben – es sei denn, man droht permanent mit einem Massaker, größer noch als das letzte; als befinde man sich in einem Prozess, der unaufhaltsam zu noch größeren Verheerungen führt. Abad und das Großgefängnis: Hierüber hat die Thanatokratie des Assad-Regimes bislang unvorstellbare Wege geschaffen, die Bevölkerung politisch umzubringen. Andere Regimes im Nahen Osten haben sich das zu eigen gemacht. Der junge ägyptische Schriftsteller und Ex-Häftling Ahmed Naji hat sein Land kürzlich als Großgefängnis beschrieben. Die Strukturen des politisch Imaginären sind in der arabischen Welt tendenziell identisch.

In den vergangenen 50 Jahren haben die Syrer:innen in einer besonderen Art von Gegenwart gelebt, einer Gegenwart, in der man sich keine Zukunft ausmalen kann und jede Aussicht auf Veränderung verwehrt bleibt – und in der man gleichzeitig nicht vergeben kann, weil die begangenen Verbrechen nicht einmal als strafbar gelten. Es ist, als ob man von zwei Engeln der Geschichte (Walter Benjamin) belagert wird: Einer verhindert, dass die Vergangenheit vergeht, ein anderer, dass die Zukunft kommt. Dies ist die Struktur der Zeit in jenen absoluten Gefängnissen, in denen sich der Raum der Welt verschließt und die Zeit erdrückend schwer auf den Insass:innen lastet. In den letzten zehn Jahren hat sich Syrien weit mehr verändert, als wir es wollten und auch als das Regime es je wollte. Unheimlicher noch ist jedoch die schleichende Kontinuität der Vernichtungsmaschinerie und die Tatsache, dass wir weder uns selbst noch irgendwem sonst versprechen können, dass das Leid, das wir erlitten haben, das Schlimmste ist, das wir erleiden werden. Wir können nicht sagen, dass das Schlimmste hinter uns liegt. „Nie wieder“ – in Syrien ist die Zeit, dies sagen zu können, noch nicht gekommen.

Übersetzung: Christian Sälzer

medico international unterstützt das MENA Prison Forum seit seiner Gründung. Die Mena-Region umfasst den Mittleren Osten und Nordafrika, in der das Forum die regionale Gefängnisstruktur als Institution der Repression untersucht. Diese institutionelle Repressions- und Tötungsmaschinerien sind zugleich nicht nur regional zu betrachten, auch deshalb, weil europäische Länder in der „Flüchtlingsabwehr“ und die USA im Zusammenhang mit dem „Krieg gegen den Terror“ bis heute genau auf sie zurückgreifen. Das MENA Prison Forum hat eine eigene Website, sammelt Zeugnisse von Überlebenden, vernetzt sich regional und mit der Diaspora. Die Initiative für das MENA Prison Forum ging von UMAM, dem Zentrum für Dokumentation und Erinnerung im Libanon, aus.

Dieser Beitrag erschien zuerst im medico-Rundschreiben 1/2021. Das Rundschreiben schicken wir Ihnen gerne kostenlos zu. Jetzt abonnieren!

Veröffentlicht am 12. April 2021
Yassin al-Haj Saleh

Yassin al-Haj Saleh

Der Schriftsteller Yassin al-Haj Saleh ist eine der prominentesten Stimmen der syrischen Opposition. Dass der Terror des Assad-Regimes bereits Jahrzehnte währt, weiß er nicht nur, weil er seit 1980 insgesamt 16 Jahre in syrischen Gefängnissen inhaftiert war. Al-Haj Saleh lebt heute in Berlin und schreibt regelmäßig für das medico-rundschreiben.


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