Wachsende Wut

Philippinen: Erst kam der Sturm, dann eine zerstörerische Politik.

Von Bernd Eichner

Es war eine Katastrophe mit Ansage. „Schon einen Tag bevor der Taifun auf die Philippinen traf, standen die Kamerateams von CNN bis hin zum Lokalfernsehen vor unserer Tür“, berichtet Mel Patalne. Die junge Medizinstudentin arbeitet im Provinzhospital von Tacloban. Das Krankenhaus mit Meerblick eignete sich hervorragend als Standort für das Heer von Korrespondenten. Die nationalen wie internationalen Medien hatten die Brisanz der Unwetterwarnung der philippinischen Meteorologen erkannt und sich entsprechend vorbereitet. Aber mit dem, was am Freitagmorgen des 8. November 2013 über sie hereinbrach, hatte niemand gerechnet.

Es war ein kleines Detail der Unwetterwarnung, das den Unterschied machte – die Sturmflut. Der Jahrhundertsturm schob meterhohe Wassermassen vor sich her und setzte die Küsten der Inseln Leyte und Samar unter Wasser. Die Fluten tobten wie ein Tsunami durch die Straßen von Tacloban und hinterließen ein riesiges Trümmerfeld. Die Hütten der Ärmeren hatten dem Meer nichts entgegenzusetzen. Als auch noch der als Evakuierungszentrum genutzte Astrodome, eine große Sportarena geflutet wurde, war die Katastrophe total. Mel und die über 300 Patienten der Klinik hatten Glück. Sie retteten sich in die oberen Stockwerke.

Eigentlich wollte Mel erst einmal nach ihrer Familie suchen, doch das „Eastern Visayas Regional Medical Center“ war das einzige noch existierende Krankenhaus der Region. Ohne Strom und Medikamente versuchten sie und ihre Kollegen zu retten, was zu retten war, und weiterzumachen, bis Unterstützung kommt. Doch es passierte nichts. Der Bürgermeister hatte sich ausfliegen lassen und Präsident „Noynoy“ Aquino war abgetaucht. Nach drei Tagen kam immer noch keine Hilfe aus Manila. Stattdessen schickte die Regierung das Militär, um die Ordnung wiederherzustellen. „Erst eine Woche nach dem Fernsehen kamen endlich auch Medikamente bei uns an“, erzählt die junge Medizinerin. Sie schimpft über unfähige Behörden, korrupte Beamte und die Politiker der Regionalregierung, meist Angehörige der reichen Familien der Großgrundbesitzer, die sich teure Behandlungen in Privatkliniken leisten können. „Das öffentliche Gesundheitssystem in Samar war schon vor dem Taifun eine einzige Katastrophe“, sagt Mel.

Im traditionellen Armenhaus der Philippinen kommt statistisch gesehen ein Krankenhausbett auf 1.000 Einwohner – nach den Empfehlungen der Weltgesundheitsorganisation sollten es mindestens 200 Betten sein. Gibt es in Deutschland durchschnittlich fast vier Mediziner für 1.000 Einwohner, teilen sich in Samar rechnerisch 23.000 Menschen einen Allgemeinarzt. Ihre Empörung versucht Mel konstruktiv zu wenden und engagiert sich deshalb ehrenamtlich bei der NGO Health Empowerment and Action in Leyte and Samar (HEALS).

„Wir wünschen uns eine Gesellschaft ohne Armut, Hunger, Ungerechtigkeit und Unterdrückung, wir kämpfen dafür, dass Gesundheit ein Recht für alle wird“, fasst Mel die Agenda der Basisgesundheitsorganisation zusammen. Bis es soweit ist, versucht HEALS aber auch die Gesundheitssituation in den marginalisierten Gemeinden konkret zu verbessern, ohne den Staat dabei aus seiner Verantwortung zu entlassen. In abgelegenen Dörfern bieten sie Gesundheitsaufklärung an und bilden Freiwillige als Gesundheitsarbeiter aus, damit wenigstens eine minimale Basisversorgung gewährleistet ist. Und sie arbeiten eng zusammen mit den vielen kleinen Gesundheitszentren auf dem Land und stehen den dortigen Gesundheitsarbeitern und Hebammen mit Rat und Tat zur Seite. Zwar hat der Taifun viele der Zentren zerstört, doch das Netzwerk von HEALS blieb weiterhin einsatzfähig.

Netzwerk der Solidarität

Die flächendeckenden Kontakte und die regionale Verankerung von HEALS in der Katastrophenregion ermöglichten dem Nothilfenetzwerk und langjährigem medico-Partner Samahang Operasyong Sagip (SOS) eine Taifun-Nothilfe, die sich nicht nur auf das Umfeld des Flughafens von Tacloban beschränkte.

Neben HEALS gibt es rund 20 weitere Organisationen aus allen Regionen der Philippinen, die sich für die Katastrophenvorsorge und die gegenseitige Hilfe im Katastrophenfall als SOS zusammengeschlossen haben. Die eingespielten Strukturen und die Kenntnis der Lage vor Ort unterscheiden die Aktivisten von SOS von den internationalen Hilfstrupps, die nach Katastrophen eingeflogen werden und hierzulande in den Medien oft als die alleinigen Retter präsentiert werden – als gäbe es vor Ort keine kompetenten Akteure und Netzwerke. Ein anderer Unterschied: Die Mitglieder von SOS verschwinden nicht wieder. Das ermöglicht ihnen, wirklich nachhaltige Arbeit zu leisten – und bedeutet gleichzeitig, sich sowohl mit den hartnäckigen Folgen der Zerstörung als auch mit fehlenden oder problematischen Aufbauprogrammen auseinandersetzen zu müssen.

Gegründet wurde das SOS-Netzwerk im Katastrophenjahr von 1990. Doch die meisten Beteiligten arbeiten schon länger zusammen. Ihre politischen Wurzeln haben viele der Organisationen und Aktivisten in der „People Power“-Bewegung, die Mitte der 1980er-Jahre den Diktator Marcos stürzte, oder dem „First Quarter Storm“, dem philippinischen 68er-Pendant. Damals wehten rote Fahnen auf dem Campus der staatlichen University of the Philippines (UP), der sich zum Zentrum der studentischen Revolte entwickelte. Das wirkt bis heute nach: Die Gewerkschaft der Universitätsangestellten ist ebenfalls SOS-Mitgliedsorganisation. Ein Großteil der SOS-Freiwilligen studiert Medizin an der UP, forscht am angegliederten Institut für gemeindebasierte, öffentliche Gesundheit oder arbeitet als Arzt, Apotheker oder Krankenpfleger an der Universitätsklinik von Manila.

Für die sogenannten „medical missions“ müssen sich die Aktivisten Urlaub nehmen. Dazu sind sie gerne bereit, denn ihre Hilfe begreifen sie als Teil ihres gesundheitspolitischen Engagements. Das wird schon auf den ersten Blick deutlich – viele tragen T-Shirts linker Organisationen, gegen Klinikprivatisierungen und für das Recht auf Gesundheit. Sehr beliebt ist auch das Konterfei von Dr. Remberto “Bobby” de la Paz.

Auch mehr als 30 Jahre nach seinem gewaltsamen Tod ist der „Arzt der Armen“ noch immer als Vorbildfigur der philippinischen Gesundheitsbewegung präsent. Bobby gründete während des Ausnahmezustands unter Diktator Marcos die Vereinigung der UP-Medizinstudenten und absolvierte seine Praktika in den ländlichen Gebieten im Osten der Insel Samar. Hier wurde er mit dem tödlichen Kreislauf vermeidbarer Armutskrankheiten konfrontiert. Fortan ging es ihm um die Beseitigung ihrer Ursachen. Nach Beendigung seines Studiums in Manila zog er dauerhaft nach Samar. Dort widmete er sich hauptsächlich der Ausbildung von Gemeindegesundheitsarbeitern und unterstützte die örtlichen Kleinbauern in ihrem Kampf gegen den Landraub durch transnationale Bergbaukonzerne. Dem Militär und der Polizei war er deshalb suspekt. Der örtliche Polizeichef verbreitete das Gerücht, die Ausbildung von Gesundheitsarbeitern würde nur dazu dienen, „umstürzlerische Elemente“ heranzubilden. Mit der zunehmenden Entdeckung von Bodenschätzen wurden die Auswirkungen der Militarisierung von Tag zu Tag spürbarer. Die Armee unterstellte pauschal allen Personen, die sich in sozialen Bewegungen engagierten, auch die kommunistische Guerilla „New Peoples Army“ (NPA) zu unterstützen. Am 23. April 1982 wurde Bobby erschossen. Aufgeklärt wurde der Mord nie. Ein unabhängiges Bürgerrechtskomitee kam aber zu dem Schluss, dass das Militär darin verstrickt gewesen sei.

„Die Geschichte von Bobby ist für uns deshalb so bedeutend, weil sie leider immer noch aktuell ist. Auch in den letzten Jahren wurden Hunderte Menschenrechtsaktivisten von bewaffneten Sicherheitskräften ermordet. Unrechtmäßige Verhaftungen und Folter gehören zum Alltag von Journalisten, Kirchenleuten, Gewerkschaftern und Aktivisten sozialer Bewegungen für die Landreform oder gegen den Raubbau an der Natur“, erklärt Dr. Alex Montes. Er muss es wissen. 2010 wurde der pensionierte Arzt gemeinsam mit 42 anderen Gesundheitsarbeitern während einer medizinischen Fortbildung für Gemeindehelfer als „Terrorist“ festgenommen. Den Gesundheitsaktivisten wurde vorgeworfen, dass sie mit ihren Aktivitäten die NPA unterstützen würden. Deutlicher kann sich Geschichte kaum wiederholen. Nur durch den Druck einer internationalen Kampagne, die auch vom „Peoples Health Movement“ getragen wurde, kamen die „Morong 43“ schließlich nach zehn Monaten Haft wieder frei.

Als Freiwilliger ist Dr. Alex bei der Taifun-Nothilfe von SOS auf so gut wie jeder „Mission“ dabei. Ansonsten behandelt er trotz seines Rentenalters in einer Klinik der NGO Council for Health and Development (CHD) in Manila kostenlos Patienten, die durch das Raster der nationalen Gesundheitsversicherung fallen.

medico und CHD verbindet nicht nur die gemeinsame Mitgliedschaft in der globalen Gesundheitsbewegung „People´s Health Movement“, sondern auch eine lange Geschichte gemeinsamer Projekte seit dem Kampf gegen die Marcos-Diktatur. Im Katastrophenfall, wie jetzt nach Taifun Haiyan, wird das Büro von CHD in Quezon City zur Nothilfezentrale von SOS umfunktioniert und CHD-Geschäftsführerin Rosalinda Tablang übernimmt die Koordination der medizinischen Teams und der Logistik für die Verteilung der Hilfsgüter. Im Rahmen der Hilfsmissionen wurden in rund 70 betroffenen Gemeinden mehr als 7.000 Patienten behandelt und rund 50.000 Menschen mit Nothilfepaketen versorgt. Zusätzlich zu materieller und medizinischer Nothilfe unterstützt SOS die Gemeinden auf Samar und Leyte auch mit psychosozialer Betreuung. Selbst Monate nach dem Taifun trifft SOS noch immer auf Gemeinden in abgelegenen Bergregionen, die bisher keine Hilfe erhalten haben.

Landreform statt Landraub

Die Unzufriedenheit der Betroffenen wächst. Mittlerweile hat sich eine Protestbewegung gegen die Tatenlosigkeit und den neoliberal inspirierten Wiederaufbauplan der Regierung gebildet. Unter dem Motto „People Surge“ versammelten sich im Januar 2014 über 12.000 Taifunopfer im Astrodome von Tacloban, um für eine Soforthilfe von umgerechnet 650 Euro pro Familie und gegen die „No Build Zone“ zu demonstrieren. Entlang der Küste hat die Regierung eine 40 Meter breite Sperrzone verordnet, in der keine Hütten mehr stehen dürfen.

Was nach einer vernünftigen Maßnahme klingt, um Menschen vor zukünftigen Sturmfluten zu schützen, entpuppt sich als Vorwand für langfristig geplante Abrissprogramme von Armensiedlungen. „Während es anfangs hieß, dass innerhalb des Schutzstreifens gar keine Häuser gebaut werden dürfen, gilt das Verbot mittlerweile nur noch für Wohnhäuser und nicht mehr für Industrieanlagen und Hotels. Die Sperrzone dient damit hauptsächlich den Interessen der großen Firmen, die hier Tourismusressorts und IT-Zentren errichten wollen“, sagt Rosalinda, die für SOS an der Protestkundgebung teilnahm. Sie kritisiert außerdem die Prioritätensetzung des staatlichen Wiederaufbauprogrammes. Für die Unterstützung der Privatwirtschaft sei fast viermal so viel Geld vorgesehen wie für die Bauern und Fischer. „Die großen Unternehmerfamilien haben sich die zerstörte Region unter dem wohlklingenden Titel der „Hilfspatenschaften“ schon aufgeteilt. Am Ende werden die Reichen noch reicher geworden sein und die Katastrophenopfer werden mit nichts dastehen“, befürchtet die SOS-Koordinatorin.

Damit es doch anders kommt, beteiligt sich SOS an der „People Surge“-Kampagne und unterstützt bei all ihren Projekten die Selbstorganisierungsansätze der Betroffenen. Ganz oben auf der Agenda des auf der Versammlung von Tacloban verabschiedeten Forderungskataloges stehen eine Landreform, der Bau von öffentlichen Schulen und Krankenhäusern, das Ende der Umweltzerstörung und Zwangsvertreibungen durch Bergbaugesellschaften sowie das Verbot, Militär gegen soziale Proteste einzusetzen. Angesichts der ungebrochenen Macht der Großgrundbesitzer und Rohstoffkonzerne ist das kein ungefährliches Programm. Die internationale Öffentlichkeit, die die mutigen SOS-Mitglieder in ihrem Kampf für einen gerechten Wiederaufbau von unten schützen könnte, interessiert all das kaum mehr. Der Taifun ist ja schon sechs Monate her und die spektakulären Bilder sind längst verwertet.

Projektstichwort

Neben der unmittelbaren Nothilfe von SOS hat medico auch die Durchführung der „People Surge“-Versammlung im Astrodome von Tacloban mit Fahrtkostenunterstützung für Überlebende des Taifuns aus den entlegenen Gemeinden der Inseln Samar und Leyte unterstützt. Außerdem ist mit SOS ein umfassendes Wiederaufbauprogramm mit ganzheitlichem Ansatz in acht Dörfern vereinbart. Im Fokus stehen die Rehabilitation der kleinbäuerlichen Landwirtschaft und der Fischerei sowie der Aufbau von Basisgesundheitsstrukturen und eines gemeindebasierten Katastrophenmanagements.

Veröffentlicht am 31. März 2014

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