Flüchtlinge erzählen

Von Syrien nach Thüringen

Khalil, Ahmed und Musa sind erst seit wenigen Tagen in der Zentralen Erstaufnahmestelle für Asylsuchende in Thüringen.

Von Heike Kleffner

„Ohne Assad säßen wir jetzt sicher nicht an einem Tisch“, sagt Khalil*, Palästinenser aus Daraa. In seiner Heimatstadt begann im März 2011 der Aufstand gegen das Regime von Baschar al-Assad mit Protesten von Eltern, deren Kinder vom syrischen Geheimdienst inhaftiert und gefoltert worden waren. So lange wie möglich habe er versucht, die Eskalation der Gewalt und Zerstörung zu ignorieren, betont Khalil. Sein Vater, der als Flüchtling 1948 nach Syrien kam, wollte, dass der Sohn das Betriebswirtschaftsstudium zu Ende bringt. „Kaum hatte ich meinen Abschluss, sollte ich zur Armee eingezogen werden. Aber ich wollte mich nicht an diesem hässlichen Krieg beteiligen.“

Wie Zehntausende andere wehrpflichtige junge Syrer beschloss auch er zu fliehen: Sechs Tage brauchte Khalil, um von Daraa im äußersten Südwesten Syriens per Bus und zu Fuß an die rund 600 Kilometer entfernte türkisch-syrische Grenze im Norden Syriens zu kommen. Nachts überquert er mit anderen Syrern die Grenze und hat Glück, dass keine türkischen Soldaten zur Stelle waren. Knapp sechs Wochen später sitzt der 25-Jährige Ende August in einem T-Shirt, Sporthosen und ausgetretenen braunen Halbschuhen im Café International im thüringischen Eisenberg und tauscht sich mit vier anderen Syrern über die Fragen aus, die sie seit ihrer Ankunft in Deutschland bewegen.

Neben Khalil sitzt Omar aus Aleppo. Der 27-Jährige mit der Intellektuellenbrille im schmalen Gesicht übersetzt das Gespräch vom Arabischen in ein zögerndes, aber gut verständliches Englisch, das er „aus US-amerikanischen Fernsehserien auf Youtube“ gesammelt hat. Omar hat Biotechnologie studiert, ist aber noch ohne Abschluss. Ein Jahr und drei Monate war er in einem der zahllosen überfüllten Gefängnisse des syrischen Geheimdienstes inhaftiert. Als er wieder freigelassen wurde, „begannen die Bombardierungen“. Nachfragen zu den Hintergründen und Erlebnissen in der Haft blockt er höflich ab. „Du weißt doch, dass es jeden in Syrien treffen kann.“ Er will lieber weiter für die anderen Männer am Tisch übersetzen. Dann legt er seinem Nachbarn Ahmed eine Hand auf die Schulter.

Ahmed ist fast vollständig erblindet, seine Augenlider sind über eingefallenen Augenhöhlen verklebt, nervös tasten seine Hände über die Tischoberfläche. Ahmed lebte als Zigarettenverkäufer in der Nähe von al-Hassaka im Norden Syriens, als „das ganze Dorf “ geflohen ist. „Wir hatten Angst vor allen – vor der Armee und vor dem IS“, sagt der untersetzte Mann. Ein Jahr hat er für die Flucht von Syrien nach Deutschland gebraucht – „immer hat mich jemand mitgenommen und geführt“. Zusammen mit Nachbarn aus dem Dorf überquerte er die türkische Grenze. Dann brachten ihn türkische Polizisten in ein Flüchtlingslager. Wie lang er in dem Camp war, kann Ahmed nicht genau sagen, nur dass er weiterfloh, weil er sich in der Nähe der Grenze nicht mehr sicher fühlte. „Er hatte Angst, dass der Krieg ins Lager kommt“, übersetzt Omar für ihn.

Khalil ergänzt, dass auch in Izmir Geheimdienstleute von Assad unterwegs gewesen seien. Die Angst, auch im Ausland vom Regime verfolgt zu werden, „hat wohl jeder Syrer“. Mehr will Khalil nicht sagen, aus Furcht, seine Frau und sein Kind zu gefährden, die er in Daraa zurücklassen musste. Alle am Tisch bis auf den Blinden nicken. Die Sorge um in Syrien zurückgebliebene Familienmitglieder – Eltern, Geschwister, Ehefrauen und Kinder – belastet alle. Omar zieht sein Handy und zeigt eine Reihe von verwackelten Fotos: „Meine Mutter.“ Eine Frau mit zerfurchtem Gesicht und weißen Kopftuch, die zurückhaltend in die Kamera schaut, dann mehrere Fotos zerschossener Häuserfronten, Schuttberge in einer schmalen Gasse, ein Bombenkrater neben einem zerstörten Haus. „Mein Stadtteil und der Laden meiner Eltern.“ Dann fügt Omar hinzu: „Es gibt keine Zukunft in Syrien.“

Musa, ein kurdischer Schneider, dessen Dorf vom IS überrannt wurde und dessen Frau sowie sein dreijähriger Sohn noch in der Türkei sind, mischt sich ein: Sein schlimmstes Fluchterlebnis habe er in Tschechien gehabt. „70 Tage war ich in einem Lager in Tschechien, die Polizei dort hat mir alles weggenommen – meine Papiere, mein Geld, mein Handy “, sagt der Enddreißiger. „Das schlimmste ist, dass ich mit dem Handy auch alle Dokumente und meine Kontakte verloren habe.“ Omar wirft ein, dass er von einer Gruppe syrischer Männer gehört habe, denen Handys und Papiere von Polizeibeamten in Bayern abgenommen worden seien. „Wegen Dublin.“ Jetzt hätten die Männer nur noch Quittungen mit einem Aktenzeichen und ihren Namen und einem Schreiben der Bundespolizei, mit dem sie nach dem sogenannten Königsteiner Schlüssel, der die innerdeutsche Aufteilung der Flüchtlinge nach Einwohnerzahl und Steueraufkommen unter den Bundesländern regelt, nach Eisenberg verteilt wurden.

Alle am Tisch sind erst seit wenigen Tagen in der Zentralen Erstaufnahmestelle für Asylsuchende des Freistaats Thüringen, einer ehemaligen Wurstfabrik . Doch die Enge in den – mit 950 Menschen bis an die äußerste Kapazität belegten – Schlafräumen, Doppelstock-Containern oder Zelten, zehrt schon jetzt an ihnen. Sie sind froh, dass sie im Café International – mit Steckdosenleisten zum Laden von Mobiltelefonen, mit Deutsch-Sprachkursangeboten, Kinderspielecke sowie Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, die beim Aktivieren von SIM-Karten helfen – einen Ort gefunden haben, an dem sie wenigstens für ein paar Stunden bei Kaffee und Tee ein Gefühl von Ruhe bekommen.

Niemand kann ihnen derzeit sagen, wann oder wohin sie innerhalb Thüringens weiterverteilt werden. Und niemand kann die Fragen beantworten, die sie am meisten beschäftigen: Omar möchte in Deutschland weiter Biotechnologie studieren und sorgt sich, ob das trotz fehlender Dokumente möglich sein wird. Musa und Khalil fragen sich, wie sie ihre Familien nachholen und so schnell wie möglich Arbeit finden können. Der blinde Ahmed hingegen will nicht in Deutschland bleiben, sondern zu einem Cousin nach Schweden. „Aber erst muss ich wieder Zigaretten verkaufen, um meine Reisekasse aufzufüllen“, sagt Ahmed. Zum ersten Mal lacht die syrische Tischrunde.

Heike Kleffner ist Journalistin und Mitglied im Beirat der Mobilen Beratung für Opfer rechter Gewalt in Sachsen-Anhalt.

* Alle Namen von der Reaktion geändert.

Dieser Artikel erschien zuerst im medico-Rundschreiben 3/2015. Das Rundschreiben schicken wir Ihnen gerne kostenlos zu. <link material rundschreiben rundschreiben-bestellen internal-link internal link in current>Jetzt abonnieren!

Veröffentlicht am 05. Oktober 2015

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