Von Jarmuk bis Kobanê

Überleben in der Todeszone

Angesichts der großen Flucht nach Europa ist die solidarische Nothilfe in Syrien mehr als eine humanitäre Aktion. Die Hilfe ist auch eine politische Antwort.

Die Hilfe ist auch eine politische Antwort auf die Unmenschlichkeit des Krieges. Mehr denn je geht es um Hilfe zum Überleben, demokratische Selbstbestimmung, eine Existenz in Freiheit und Würde. Beispiele der Hilfe von medico in Syrien und in den kurdischen Gebieten. Von Martin Glasenapp

Fortdauernde Belagerung

In dem palästinensische Flüchtlingslager Jarmuk , einem ehemals pulsierenden Stadtviertel im Süden von Damaskus, ist die Zerstörung auf Dauer gestellt. Es gibt keine Hoffnung, nur noch Hunger und Verzweiflung. Einst lebten hier über 200.000 Menschen, heute hausen noch knapp 10.000 in den Trümmern, zumeist jene, die zu arm zur Flucht waren, viele Frauen, Alte und Kinder. Im Lager selbst patrouillieren islamistische Kämpfer, in den angrenzenden Vierteln lauern Scharfschützen der syrischen Armee. Weil das Wasser vergiftet ist, gibt es unzählige Fälle von Typhus, Hepatitis und Gelbsucht. Es gibt quasi kein Entkommen. Dennoch leistet der palästinensische medico-Partner Jafra weiterhin Hilfe in Jarmuk. Ein Aktivist schrieb uns: „In der Belagerung lernst du das Verfallsdatum von Produkten zu ignorieren, damit dein Körper nicht von einem Schaudern durchzogen wird, wenn du feststellst, nahezu faulige Nahrung zu essen. Du lernst auch, dass du besser nicht alleine isst, damit dein Gewissen dich nicht beim ersten Bissen fragt: Sind jene, die essen, und jene, die nicht essen, gleich?“ Für Jafra ist dies alles nach fünf Kriegsjahren ein zutiefst ermüdender Alltag. Unsere Kollegen kapitulieren nicht, aber mehr als eine minimale Grundversorgung in Jarmuk können auch sie nicht garantieren.

Lernen unter der Erde

Das Vorrücken der syrischen Armee bedroht auch das Leben in Erbin, dem einst bevölkerungsreichsten Vorort von Damaskus. Anfang Januar 2016 wurde ein Mitglied der medico-Partnerorganisation am Eingang einer unterirdischen Schule bei einem Luftschlag verletzt. Die etwa 300 Kinder und 200 Mütter, die sich zum gleichen Zeitpunkt in der Schule befanden, blieben unverletzt. Auch die Zusammenarbeit des Schulkomitees mit der lokalen Rebellenkoalition ist nicht unproblematisch. Das von den syrischen Muslimbrüdern dominierte Bildungskomitee setzt auf einen konservativen, religiösen Unterricht sowie die Trennung von Mädchen und Jungen.

Das von medico unterstützte Schulkomitee hingegen möchte die Religion ausdrücklich aus dem Unterricht heraushalten und fördert einen „unideologischen“ und gemeinsamen Unterricht. Ein erfolgreiches Projekt:

2.400 Schülerinnen und Schüler werden im kommenden Schuljahr von 180 Lehrkräften in sechs verschiedenen Schulen unterrichtet. Diese befinden sich unter der Erde, damit die Kinder vor den Luftangriffen geschützt sind. Für die Atemluft braucht es Ventilatoren, die nur mit Diesel oder Ersatzbrennstoff betrieben werden können. Das Projekt ist auch deshalb so wichtig, weil die Schulen die einzigen unabhängigen in Erbin sind. Außerdem ermöglichen sie den Kindern und Jugendlichen aus der alltäglichen Bedrohung herauszukommen und so etwas wie Alltag zu erleben.

Kobanê mon Amour

Bekannt wurde die kurdische Stadt Kobanê an der syrischtürkischen Grenze für ihren Widerstand gegen die Terrormiliz des „Islamischen Staates“. Doch der zum Symbol gewordene Widerstand hatte einen hohen Preis. Es starben Hunderte Zivilisten und die Stadt wurde zu achtzig Prozent zerstört. Damals war Kobanê in der Weltpresse und sogar große Teile der deutschen Öffentlichkeit bis in die etablierte Politik hinein zeigten ihre Sympathien für die kurdische Bevölkerung in ihrem Widerstand gegen den religiösen Terror der internationalen Dschihadisten. Doch der Wiederaufbau der geschundenen Stadt gestaltet sich mühsam und bleibt bedroht. Im Sommer 2015 griff der IS wieder an und ermordete fast 200 Menschen. Bis heute eine schwere Bürde für den Wiederaufbau in der kurdischen Stadt. Hinzukommt, dass die AKP-Regierung in der Türkei alles dafür tut, das kurdische Experiment einer demokratischen Selbstverwaltung innerhalb des syrischen Staates scheitern zu lassen. Seit die türkische Armee in den kurdischen Städten der Türkei einen neuen Krieg begonnen hat, ist die Grenze komplett geschlossen. Auch Idriss Nassan, der Außenbeauftragte von Kobanê, der noch vor Kurzem in Europa um Unterstützung für seine Stadt werben konnte, fühlt sich festgesetzt: „Niemand von uns kann mehr in die Türkei ausreisen. Die Grenzpolizei stellt sich taub, wenn wir um die Einfuhr von Baumaterialien oder Nutzmaschinen bitten. Auf Menschen, die versuchen aus Syrien zu fliehen, wird geschossen.“ Das Embargo hat Methode. Denn wenn die Häuser nicht wieder aufgebaut werden können, wenn die Wirtschaft nicht mehr funktioniert, kein Strom und kein Benzin vorhanden sind, dann – so das Kalkül – könnten die Menschen kapitulieren. Und die anhaltende Flucht aus Rojava, besonders der besser ausgebildeten Mittelschichten, würde das ohnehin prekäre Modell der demokratischen Autonomie vollends in eine Elendsverwaltung verwandeln. medico bleibt in Rojava weiterhin aktiv. Zuletzt gelang es, eine medizinische Mutter-Kind-Station in das neue Krankenhaus von Kobanê zu bringen.

Ein fast verlorenes Projekt

Die Kleinstadt Nawa in der Region Daraa im Süden Syriens hatte vor dem Krieg etwa 30.000 Einwohner. Aufgrund der anhaltenden Kämpfe im Umland sind es heute 80.000. Lokale Räte bemühen sich mit zivilen Aktivisten, die ehemals staatliche Verwaltung zu ersetzen. Es gibt eine selbstorganisierte Stadtreinigung, basismedizinische Dienste, Schulprojekte. All das soll einen Alltag ermöglichen und gleichzeitig die zerrütteten sozialen Strukturen stabilisieren. Hier hat medico 2015 ein neues Projekt gefördert: Ein lokales medizinisches Komitee stattete ein zivil verwaltetes Krankenhaus mit Solarzellen und einer Blutbank aus. Doch allein zwischen Mitte November und Ende Dezember wurde das Krankenhaus dreimal bombardiert. Missverständnisse sind das nicht. Vielmehr versucht die syrische Armee mit der Unterstützung der russischen Luftwaffe in der Provinz wieder die Kontrolle zu gewinnen. Letztlich gingen alle Kollektoren zu Bruch.

Hat es in diesem Archipel der Gewalt überhaupt noch Sinn, zivilgesellschaftliche Strukturen zu stärken? Ja, denn jede Maßnahme hilft der Bevölkerung zu widerstehen und ein Quäntchen Lebensmut zu schöpfen. Die Blutbank blieb übrigens intakt. So konnte tatsächlich verletzten Zivilisten das Leben gerettet werden.

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Veröffentlicht am 19. Mai 2016

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