Flüchtlingshilfe Rakka

Die Freude ist einfach unbeschreiblich

Wer es schafft dem IS und den Kämpfen zu entfliehen, findet Schutz im kurdischen Rojava. medico unterstützt die Medikamentenverteilung in den Flüchtlingslagern.

Fährt man auf den Straßen des Gouvernements Rakka, ist es unmöglich, die oft kilometerlangen Kolonnen aus Kleintransportern, Traktoren mit Anhängern und PKWs zu übersehen. In ihnen kommen Flüchtlinge aus Rakka, der selbsternannten Hauptstadt des „Islamischen Staat“. Wer es schafft dem IS, den Kämpfen zur Befreiung der Stadt und den Luftangriffen der USA zu entfliehen, findet Schutz in Rojava, dem kurdischen Nordsyrien.

Über 200.000 EinwohnerInnen von Rakka sind dort aktuell gestrandet und zusätzlich viele IrakerInnen aus und um Mossul. Ihre Fahrzeuge sind zum Bersten beladen mit allen Habseligkeiten der Geflüchteten, viele ziehen einen Tankanhänger mit Trinkwasser hinter sich her.

Sie alle werden so gut es inmitten des Krieges geht von der lokalen kurdischen Selbstverwaltung versorgt. Trotzdem ist der Mangel an medizinischer Versorgung unübersehbar. medico international unterstützt deshalb den Gesundheitsrat von Rojava mit dringend benötigten Medikamenten. Der Gesundheitsrat koordiniert den Aufbau und die Verwaltung des gesamten Gesundheitssystems in Nordsyrien. Die Hilfe erfolgt dabei sowohl mobil durch die Ambulanzen des kurdischen Halbmonds als auch durch improvisierte Gesundheitsposten in Zelten oder alten Gesundheitsposten in den befreiten Dörfern.

Ein Akt der Befreiung

Am Rande der Straßen sind provisorische Lager, deren Bewohner dort in der Hoffnung ausharren, bald zurückkehren zu können. Sie haben oft nur das Nötigste zum Überleben und bekommen kaum Hilfe internationaler Organisationen. Deshalb fahren die meisten von ihnen weiter, raus aus dem Frontbereich in die befreiten Gebiete Nordsyriens. An den Checkpoints ist der Boden oft übersät mit schwarzen Kleidern und Burkas, die sich die Frauen in einem Akt symbolischer Selbstbefreiung vom Körper reißen und zu Boden werfen. Diejenigen, die nicht am Straßenrand ausharren, werden durch das El-Aktam-Flüchtlingslager in Ayn Issa kommen. Von dort aus wird ihr weiterer Weg organisiert.

Bei unserem Besuch brennt die Sonne unerbittlich auf das Flüchtlingslager. Es ist noch früher Vormittag, doch die Temperaturen erreichen bereits fast 40°C im Schatten. Tausende Geflüchtete kommen hier täglich an, müssen sich registrieren, bekommen ein Zelt, Matratzen und ein Küchenset. Tausende gehen weiter nach Minbic, Azaz, oder zu ihren Familien im Norden. Der Boden ist mit Kalk bestreut, um Ungeziefer fernzuhalten und damit er sich nicht zu sehr aufheizt. Überall sitzen und stehen Menschen in den Schattenplätzen, die Zelte und geparkte Fahrzeuge spenden. Die Stimmung ist ruhig, fast abwartend.

Erst, als ein Laster vorbeifährt und die Brotrationen verteilt werden, kommt Bewegung ins Camp. Schnell bildet sich eine unübersichtliche Traube, um die sichtlich überforderten Helfer, die das Brot verteilen und bald dazu übergehen, die Pakete gezielt denen zuzuwerfen, die noch keine haben. Nach wenigen Minuten sind alle Rationen verteilt und der Lastwagen fährt ab. Einige Kinder rennen ihm hinterher und versuchen, halb im Spiel, doch noch eine Brotration abzubekommen. Einige Männer, die ihrer Meinung nach zu wenig abbekommen haben, bleiben zurück und machen ihrem Ärger Luft. Sie bekommen seit Tagen nur Brot und Wasser, beschwert sich ein Turkmene, der eigentlich in den Irak fliehen wollte, aber nicht über die Grenze gekommen ist. Ein anderer, der neu aus Rakka gekommen ist, beschwert sich über die Alternativlosigkeit: "In der Türkei werden wir erschossen und in den Libanon kommen wir nur mit viel Geld, was bleibt uns also übrig, als hier zu warten?"

Hilfe durch Selbstverwaltung

"Die Selbstverwaltungsstrukturen können Brot und Wasser kostenlos zur Verfügung stellen", erklärt Jalal el Aayaf, Ko-Vorsitzender des Camp-Komitees, "andere Organisationen stellen Matratzen, Decken und Küchen-Sets, aber es fehlt an allen Ecken. Manchmal kommen kleine Essensspenden von Hilfsorganisationen, aber das reicht nicht, um die grundlegenden Ernährungsbedürfnisse zu decken. Diese Hilfe ist aber nicht nachhaltig und sie kommt auch zu unregelmäßig. Wir wollen eine Kollektivküche aufbauen, um davon unabhängig zu werden."

Trotz der schwierigen Versorgungssituation und aller Strapazen des Weges sind die meisten froh, hier zu sein. Eine, die froh ist, es geschafft zu haben, ist Rabaa el Abdallah. Sie ist erst zwei Tage vor unserem Treffen angekommen und ist noch erschöpft von der Flucht. "Als wir die kurdischen Linien überquert hatten, habe ich mich das erste Mal in sehr langer Zeit sicher gefühlt. Ich bin hier her gekommen aus einer Welt voll Furcht und Gewalt, meine Seele ist lange tot, aber hier bin ich am richtigen Platz. Unter Daesh hatte ich solche Angst, dass ich nicht richtig essen oder schlafen konnte. Natürlich ist die Situation hier nicht leicht, wir haben nicht genug zu Essen und ich bin krank und bräuchte eigentlich einen Arzt und Medikamente. Aber wenigstens können wir das bisschen Essen, was wir haben, in Frieden essen und ich kann wieder schlafen, ohne Angst zu haben." Die noch frischen Erinnerungen an das Erlittene bringen die ältere Frau zum Weinen.

Als wir bereits weitergehen, kommt eine Gruppe Kinder angerannt und möchte auch noch etwas loswerden. Nachdem sie sich untereinander geeinigt haben, wer denn nun überhaupt reden möchte, macht ein etwa neunjähriger Junge einen Schritt nach vorne. Sie wollten eigentlich nur eine Sache loswerden, erklärt er, "Wir sind hier in der Demokratie angekommen und die Demokraten sind viel besser als Daesh. Von Daesh wurden wir ständig geschlagen, ausgepeitscht und ins Gefängnis gesteckt, hier können wir lachen und spielen." Ob er denn wisse, was "Demokratie" überhaupt bedeutet, frage ich ihn. "So ganz genau kann ich das nicht sagen, aber ich weiß, dass Demokratie etwas Wunderschönes ist." Für die Kinder ist das Gespräch damit beendet und die Gruppe rennt lachend davon.

Im Camp herrscht ein ständiges Kommen und Gehen. Viele bleiben nicht länger als wenige Wochen, bevor sie in andere Camps oder zu ihren Familien weitergehen. Jalal el Aayaf erklärt, dass Geflüchtete, die Familie in Nordsyrien haben, mit Bürgschaft zu ihnen dürfen, für alle anderen geht es entweder nach Minbic oder Azaz. Wer das nicht möchte, kann auch im Camp bleiben, bis Rakka befreit ist. Diese Maßnahme sei notwendig, erklärt er, da der IS Attentäter schicken könnte die sich als Flüchtlinge ausgeben und dann zu einer Gefahr für die befreiten Gebiete werden würden. Generell ist die Sicherheitslage aber gut, versichert er. "Wir sind seit Oktober 2016 hier und es gab keine Angriffe von außen und auch keine Konflikte oder Spannungen unter den Gemeinschaften."

Dem Tod entkommen

Hamoudi und Emel hoffen auch, bald zu ihrer Familie nach Tel Abyad zu dürfen. Auf etwa vier Quadratmetern leben die beiden mit neun weiteren Familienmitgliedern im Camp in Ayn Issa. Bei schwarzem Tee und Zigaretten erzählen sie die Geschichte ihrer Flucht. Die Familie kam Mitte Mai im Camp in Ayn Issa an. "Die Freude ist einfach unbeschreiblich", erzählt Emel mit Tränen in den Augen, "Wir sind dem Tod entkommen."

Das Leben in Rakka, nachdem der "Islamische Staat" die Stadt im Januar 2014 unter seine Kontrolle gebracht hat, sei furchtbar gewesen. “Wir hatten Angst aus dem Haus zu gehen. Wenn sie Frauen erwischten, die keine “legale Kleidung” anhatten, haben sie sie wie Tiere in Käfige gesperrt und durch die Stadt zur “Hassbeh” gefahren. Dort haben sie der Frau dann “legale Kleidung” gegeben. Dann musste sie ihr Mann abholen kommen, mit dem Familienbuch oder einem Ausweis für sie bürgen und eine Strafe bezahlen. Außerdem wurde der Mann dafür ausgepeitscht, dass er seine Frau so auf die Straße gelassen hat. All das legitimieren sie mit dem Islam.” berichtet Emel und wird durch Hamoudi ergänzt: "Auch wir Männer mussten spezielle Kleidung tragen. Unsere Hosen zum Beispiel durften die Knöchel nicht bedecken. Wir durften uns die Bärte nicht rasieren und für unsere Haare hatten wir zwei Möglichkeiten: Entweder wir rasierten sie komplett ab, oder wir ließen sie ganz lang wachsen. Frisuren waren verboten.”

Je größer der militärische Druck auf die Djihadistenmiliz wurde und je mehr Land sie verlor, desto größer wurde der Druck auf die Zivilbevölkerung. "Besonders in der letzten Zeit war der häufigste und gefährlichste Vorwurf “tahalof”, das bedeutet “Koalition”. Wenn sie Probleme mit jemandem hatten, bezichtigten sie die Person einfach, ein Kollaborateur zu sein, und schlachteten sie in kürzester Zeit ab.” berichtet Emel. Und Hamoudi ergänzt: "Sie haben die Person vor ihrer gesamten Familie hingerichtet, alle mussten dabei zusehen." Ein paar Minuten herrscht Stille im Zelt, Hamoudi zieht ein paar Mal an seiner Zigarette, auch das stand unter der Herrschaft des IS unter schwerer Strafe. Irgendwann durchbricht Emel die Stille. "Der Naim Kreisverkehr war früher ein wirklich schöner Ort, heute ist es ein Ort der des Todes, der Fliegen und der Krankheiten. Daesh hat dort die abgeschlagenen Köpfe seiner Opfer aufgehängt."

Der Terror weicht der Hoffnung

Der Schock über das Erlebte sitzt bei allen noch tief. "Die Menschen, die bei uns ankommen, sind auf allen Ebenen absolut erschöpft." berichtet Jalal el Aayaf. Die meisten haben auch nach wie vor Angst vor dem IS und wollen weder fotografiert werden, ihre Namen nennen oder ihre Geschichte erzählen. Einige, wie Hamoudi und Emel, haben noch Familie in Rakka und fürchten, der IS würde sich an denen rächen, die noch nicht fliehen konnten. Andere haben Angst, der IS wird doch nicht besiegt werden und die Befreiung von der Terrorherrschaft ist nur vorübergehend. Die jahrelange Terrorherrschaft hat ihre Spuren hinterlassen. "Daesh hat den Terror fest in unseren Köpfen installiert. Deshalb haben auch immer wenige von Ihnen gereicht um viele von uns zu kontrollieren“, versucht Emel zu erklären.

Obwohl ihre Situation im Camp nicht einfach ist, sind sie froh entkommen zu sein und hoffen auf eine bessere Zukunft und zu ihrer Familie nach Tel Abyad zu dürfen. „Wir wollen nur in Sicherheit leben und in Sicherheit schlafen können“, damit verabschiedet sich Emel, und Hamoudi ergänzt ein letztes Mal „und ich hoffe, dass überall Schulen gebaut werden, damit unsere Kinder Bildung bekommen können“.

Von Beginn an hat medico international die demokratischen Entwicklungen in Rojava/Nordsyrien begleitet. Wir konnten diverse medizinische Nothilfemaßnahmen unterstützen: Medikamentenlieferungen, die Anschaffung einer Blutbank und von mehreren Krankenwagen für Kobane. Wie in der Reportage eindrücklich beschrieben, benötigen die Menschen, die vor dem IS und den Kämpfen aus Rakka aktuell in die befreiten Gebieten Rojavas fliehen, dringend Hilfe. In den selbstverwalteten Flüchtlingslagern gelingt es die Menschen unterzubringen, aber es fehlt an den grundlegendsten Dingen. medico unterstützt die Medikamentenversorgung in den umliegenden Flüchtlingslagern Rakkas durch den Gesundheitsrat von Rojava. Seine Mitglieder ermitteln den Bedarf und organisieren, dass die Medikamente dort ankommen, wo sie am dringendsten benötigt werden. Diese Hilfe braucht solidarische Unterstützung.

Spendenstichwort: Rojava

Veröffentlicht am 13. Juli 2017

Jetzt spenden!