Corona in Syrien

Selbsthilfe in Rojava

Gastbeitrag von Domenico Chirico aus Rom. Chirico arbeitet eng mit dem Kurdischen Roten Halbmond zusammen und unterstützt die Projektarbeit.

In Syrien – wie in allen Peripherien der Welt – erzeugt die Ankunft der Pandemie keine Angst, allenfalls Resignation. Seit Jahren fallen Bomben, es wird geschossen. Die Welt führt in diesem Land einen Stellvertreterkrieg. Seit Jahren sucht die blinde Gewalt Syrien heim. Mit mehr als 5 Millionen Flüchtlingen, rund 6 Millionen Binnenvertriebenen und 11 Millionen Menschen in Not (bei einer Bevölkerung von 20 Millionen in der Vorkriegszeit) trifft Syrien das Covid19 Virus als eine weitere Verdammnis, die das Land in seiner durch den Konflikt erzeugten immensen Fragilität umso schwerer trifft.

Die Covid-Krise hat in Syrien mehrere alarmierende Aspekte. So vermindert sie auf drastische Weise den Zugang des Landes zu humanitären Hilfsgütern. Viele humanitäre Akteure, einschließlich der Vereinten Nationen und NGOs, sind wie alle anderen in ihrer Bewegungsfreiheit eingeschränkt. Die Grenzen sind geschlossen oder werden nur in Ausnahmefällen geöffnet. Es besteht Mangel an einigen Waren. Das Gesundheitssystem ist nicht auf eine Pandemie vorbereitet. Zudem traten in den letzten Jahren schon Krankheiten wie Polio auf, die anderswo längst ausgerottet sind.

Das einzige Labor im Land, in dem Tests durchgeführt werden können, befindet sich in Damaskus. Die Proben sollte die WHO liefern. Doch in Gebieten außerhalb der Kontrolle von Damaskus kann es bis zu 10 Tagen dauern, bis die Ergebnisse vorliegen, und es gibt wenig Vertrauen in deren Zuverlässigkeit. Im Nordwesten Syriens, in der Region Idlib leben seit Dezember wegen des Krieges 900.000 neue Vertriebene. Die Hilfe für sie ist auf ein Minimum reduziert. Viele medizinische Grundversorgungseinrichtungen sind aus Angst vor Infektionen geschlossen worden. Das Problem ist, dass dort, wo es kein Gesundheitssystem gibt, solche Grundversorgungseinrichtungen den einzigen Zugang zu medizinischen Leistungen darstellen. Schon immer bildeten sie die Frontlinie. Sie einzuschränken, bedeutet bereits ein Todesurteil.

Im Nordosten – dem Gebiet, in dem auch die Kurden leben – ist die Situation kaum besser. Nicht nur für die Einwohner, sondern auch für die Hunderttausend Menschen, die in den Flüchtlingslagern leben, ist die Lage äußerst besorgniserregend: Für jene, die durch die letzte türkische Invasion wie auch für jene, die aus den IS-Gebieten vertrieben worden sind. Das Al Hol-Lager, bekannt, weil in ihm die Familien von 10.000 ausländischen IS-Kämpfern festsitzen, ist ein Pulverfass. Dort verstärken sich nun die ohnehin großen Spannungen, aufgrund der Angst vor einer Ausbreitung von Covid19.

Die Intensivstationen lassen sich an einer Hand abzählen; es sind vielleicht fünf im ganzen Gebiet von Nordostsyrien. Ein allumfassendes Gesundheitssystem ist schlicht inexistent. Als Gegenmittel zur Pandemie gibt es nur die Herdenimmunität. Bis jetzt liegen nur wenige offizielle Fälle vor. Allerdings ist es sehr schwierig, valide Daten in einem Land zu erhalten, in dem die Lebenserwartung seit 2011 um 7 Jahre gesunken ist und erst vor kurzem eine geringfügige Verbesserung zu verzeichnen war. In Syrien ist es heute durchaus normal ist, an heilbaren Krankheiten oder einer Schusswunde zu sterben und es in Regionen keine medizinische Grundversorgung gibt.

Selbsthilfe in der Not

Angesichts der zusätzlich aufkommenden Katastrophe des Coronavirus haben drei syrische Techniker im kurdischen Gebiet begonnen, Beatmungsgeräte herzustellen, die anscheinend mit Erfolg getestet werden. Seit einem Monat produzieren Textilfirmen Schutzmasken für alle. Auch Desinfektionsmittel werden in Eigenproduktion hergestellt. Es werden Lösungen gefunden, wo es unmöglich schien. In den autonomen Gebieten des Nordostens baut die Verwaltung zwei Covid19 -Krankenhäuser mit jeweils 60 Betten. Ein altes Lagerhaus am Rande der Stadt Hasakeh kann schon bald geöffnet werden. Wie immer arbeiten Ärzt*innen und Krankenpersonal des kurdischen Roten Halbmonds an vorderster Front der humanitären Hilfe. Das Krankenhaus wird 60 Betten für Covid19-Erkrankte haben. Allerdings gibt es keine Möglichkeit der Intensivpflege. Es soll ein weiteres Krankenhaus in der Region Raqqa entstehend, der Weg dorthin ist mühsam. Im gesamten Nordosten wird die Bevölkerung weitreichend informiert und Präventionsarbeit geleistet. Hilfe der WHO- die ihren Hauptsitz in Damaskus hat – bleibt bisher fast gänzlich aus, angekündigte Maßnahmen wirken unkoordiniert.
Aber nur durch koordinierte und systematische Maßnahmen kann ein Pandemieausbruch verhindert werden. Notwendig dafür sind Fortbildungen, Hygienematerialien und Medikamente.
Die Helfer*innen vor Ort allein zu lassen, wird nur ein Bumerangeffekt erzeugen. Bei einem Ausbruch sind neue Fluchtbewegungen nicht auszuschließen. Auch könnte die Krankheit dauerhaft um sich greifen, einfach weil sie nicht geheilt werden kann. Und neben all diesem Unheil findet auch der Krieg kein Ende. Auch wenn er aktuell nur von mittelschwerer Intensität ist – es werden wieder Bomben in Idlib fallen und die türkische Armee wird weiterhin die Kurden angreifen. Einige Akteure werden die Gunst der Stunde nutzen, um ihre militärische Macht auszuweiten. Die syrische Bevölkerung ist gewohnt, Leid zu ertragen, aber auch Solidarität zu üben - angesichts des Todes, der sie seit Jahren umgibt. Aus Sorge um uns, sandten sie zu Beginn der Pandemie Botschaften der Solidarität und Brüderlichkeit nach Italien und in den Rest der Welt.

Die Menschen organisieren sich, um im Ernstfall angemessen zu reagieren. Angesichts ihres jahrzehntelangen Leidensweges, werden sie hoffentlich auch diese Krise überstehen. Jetzt ist es an uns, in diesen Zeiten auch an sie zu denken. Denn wir wissen nun aus direkter Erfahrung, dass sich niemand alleine rettet.

Der Artikel erschien zuerst an Ostern in der italienischen Ausgabe der Huffigtonpost: Risorgere ogni mese in Siria, tra pandemia e guerra

 

Seit Jahren unterstützt medico in Rojava die Sicherstellung einer angemessenen Basisgesundheit für die Bevölkerung. Der Anspruch ist dies flächendeckend zu gestalten und so kostengünstig wie möglich für Alle. Dies gilt ebenso für die Versorgung hunderttausender Flüchtlinge. Aktuell unterstützt medico den Kurdischen Roten Halbmond u.a. bei dem Bau einer Klinik in einem Flüchtlingslager bei Manbij, wo Familien aus Idlib eine sichere Unterkunft gefunden haben.

Veröffentlicht am 16. April 2020

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