Schweigen ist Verrat

Intellektuelle haben die Pflicht, über die Mauern zu schauen. Nicht nur im Nahen Osten. Von Moshe Zimmermann.

Vortrag auf dem Symposium der stiftung medico international "Der Andere als Sicherheitsrisiko". Der Autor lehrt deutsche Geschichte an der Universität Jerusalem.

Meine Universität, die Hebräische Universität in Jerusalem, organisierte vor kurzem eine Tagung zum Thema Verrat. Verschiedene Arten von Verrat, im privaten wie im nicht-privaten Bereich, Verrat und Verräter in der Geschichte usw. waren Gegenstand dieser Tagung. Darüber, dass sich eine israelische Universität diesem Thema widmet, soll man sich nicht wundern. Als Historiker möchte ich für den folgenden Beitrag zwei Aspekte beleuchten: den "Verrat der Intellektuellen" und den Verrat im Sport.

Das gesellschaftliche Spielfeld

Verrat im Sport ist weltweit ein brisantes Thema. Welche Reaktionen Michael Ballack für seinen "Verrat" am FC Bayern München erntete, ist eher bescheiden im Vergleich zu dem, was der Fußballer Sandberg von Makkabi Haifa an Beschimpfungen wegen Verrat über sich ergehen lassen musste, nur weil er sich für den Wechsel zu Beitar Jerushalaim entschied. Ganz zu schweigen von Uri Malmillian, seinerzeit das Idol von Beitar Jerushalaim. Als er zu Makkabi Tel Aviv wechselte, "desertierte" er. Das breite Publikum jedoch, das sich nicht oder nur wenig für Fußball interessiert, betrachtet den Begriff "Verrat" in diesem Zusammenhang als Übertreibung oder als Etikettenschwindel, wenn nicht als Sakrileg, weil aus der Sicht der Nicht-Sportfreunde das sakrosankte Wort Verrat nur im Zusammenhang mit Staat, Volk und Nation verwendet werden darf. Denn das Wortpaar Treue-Verrat (auf Hebräisch benutzt man den Begriff "Verrat" auch für Ehebruch oder Seitensprung) stellt ja schlicht und einfach die Dichotomie zwischen Gut und Böse dar, und die Benutzung des Wortes "Verrat" auf Hebräisch oder in einer europäischen Sprache verurteilt somit absolut die Verhaltensweise der als Verräter bezeichneten Person. Wie kann man bloß, heißt es jedoch, eine Bagatelle, wie den Wechsel von einer Mannschaft zur anderen, oder die Entscheidung, Fan der einen und nicht mehr der anderen Mannschaft zu sein, mit dem illustren Wort "Verrat" bezeichnen?

Die, die so denken, haben wahrscheinlich recht. Aber dann sind sie die Antwort auf die Frage schuldig, worin der Unterschied zwischen dieser Art von Frontwechsel und dem Verrat am Staat, an der Nation liegt? Wenn es nicht um Menschenleben geht – geht es nicht um denselben Mechanismus und um ähnliche Kollektivkonstrukte? Wir konstruieren ein Kollektiv, eine kollektive Identität, und versuchen sie für bestimmte soziale oder politische Zwecke aufrechtzuerhalten und zu instrumentalisieren. Gleich ob Nation, Staat, Militär oder Fußballmannschaft – es handelt sich um kollektive Identitäten, die nicht von der Natur oktroyiert wurden, sondern aufgrund der bewussten oder unbewussten Entscheidung entstanden, zum Kollektiv zu gehören. Die Begriffe Treue oder Verrat sind also Instrumente zur Festigung und Legitimierung des konstruierten Kollektivs, sind eine Sanktion, die einer freiwilligen und freien Überlegung über Wert und Sinn des Kollektivs zuvorkommen soll. Die, die nicht daran glauben, dass der Wechsel von einer Mannschaft zur anderen die Bezeichnung "Verrat" verdient, müssen sich auch überlegen, was "Verrat" im Kontext der Nation, des Volkes, der Religionsgemeinschaft, des Militärs eigentlich bedeutet. Ist hier, wie dort beim Fußball, das Kollektiv nicht ein Konstrukt, das in Frage gestellt werden darf, ein Konstrukt, das die Funktion hat, den Unterschied zwischen "uns" und "den Anderen" zu schaffen und zu legitimieren, kollektive Ressentiments zu verankern, ja, die Exklusion der "Anderen" zu rechtfertigen? Die Antwort auf diese Frage ist in Israel besonders schmerzhaft, weil der Mord am Regierungschef Itzhak Rabin vor 10 Jahren von einem Rechtsextremisten ausging, der Rabin für einen Verräter an der jüdischen, israelischen Nation hielt. "Wir" Juden verstehen die Zusammenarbeit eines jüdischen Ministerpräsidenten mit Arabern - mit den "bösen Anderen" - als Verrat. Nun sind wir zurück beim Fußball – genauso wie kolumbianische Fußballfans den glücklosen Verteidiger Escobar für einen Verräter hielten und deswegen umbrachten, so hielt der israelische Fanatiker Rabin für einen Verräter und "beseitigte" ihn.

Das ist der entscheidende Punkt: Der Verräter ist nur Symptom eines größeren Phänomens, der Neigung, die Welt dichotom zu betrachten, manichäisch in zwei zu teilen – "Wir" - die Guten, und "die Anderen" - die Bösen. Seit der Antike existiert die Unterscheidung zwischen Hellenen, also "zivilisierten Menschen", und Barbaren, die sich im religiösen Zeitalter in die Unterscheidung zwischen Gläubigen und Ketzern, im nationalen Zeitalter in die Auseinandersetzung zwischen der Nation und ihren äußeren und inneren Feinden verwandelte, um im gegenwärtigen, post-klassenkämpferischen, neo-religiösen Zeitalter zum globalen "Kampf der Kulturen" zurückzukehren .

"Nation - das ist der Zufluchtsort der Schurken", meinte seinerzeit ein englischer Schriftsteller. Ja, das "Wir" überhaupt ist in der Regel der Zufluchtsort, der Vorwand, um Diskriminierung weiß zu waschen, um "die Anderen" unmenschlich oder mindestens schlecht zu behandeln. Solange "die Anderen" zu "uns" wechseln können, ist das Unrecht mindestens nicht absolut. Dort aber, wo zwischen "uns" und "den Anderen" keine Brücke geschaffen werden kann, wo eine Mauer entsteht, dort ist die Versöhnung unmöglich, dort ist jeder Versuch der Annäherung gleich Verrat. Wenn zum national geschürten Hass noch der erneute Religionskrieg hinzukommt, wie seit Khomeinis Machtübernahme 1979 im Iran, ist die Dichotomie perfekt, ihre Rechtfertigung absolut und das Resultat verheerend.

Kampf der Kollektive

Wo anders zeigt sich dieser Vorgang deutlicher als im Nahen Osten. Die Parole heißt: "Wir sind hier und die Anderen dort." Zwischen hier und dort zieht man nicht einfach eine Grenze, man baut eine Mauer. Wer die Mauer durchbrechen will, gilt auf der einen Seite als Gefahr, auf der anderen als Verräter. Ich spreche hier selbstverständlich nicht von den Waffen- oder Sprengstoffträgern, die beim Überqueren der Mauer bzw. der Grenze die Absicht haben, Gewalt anzuwenden und Menschen zu töten. Gemeint sind diejenigen, die diese Grenze als falsche Antwort auf das Problem des Nahen Ostens oder der eigenen Probleme empfinden. Das, was zwischen Israel und Palästina seit drei Jahren entsteht, diese nicht zu überwindende Grenze, hat eine allzu deutliche Gestalt angenommen, in Form einer zum Teil acht Meter hohen Mauer. Anderswo in der Welt hat sich aber eine ähnliche Dynamik entwickelt – die "Wir" Gruppe nimmt die Grenze zu "den Anderen" ernst, baut Zäune und setzt Polizei und Militär ein, um den unerwünschten Grenzübergang zu verhindern. So Europa in Nordafrika und im Mittelmeer, so auch Amerika an der Grenze zu Mexiko. Und wenn die physische Mauer oder der Zaun nicht reicht, baut man die Mauer im Kopf und schafft klare Verhältnisse: Die zivilisierte Welt gegen die Schurken-Staaten oder gegen die Achse des Bösen. Somit sind wir beim "Verrat der Intellektuellen" angelangt. Intellektuelle verraten ihre Aufgabe, ihre Bestimmung, wenn sie die Idee vom Verrat am Kollektiv, an der Nation, an dem Volk, an der Klasse usw. kritiklos übernehmen. Vom Intellektuellen ist ja zu erwarten, dass er mit dem Inhalt der kollektiven Identität äußerst kritisch umgeht. Er hat seine Stimme für die Idee der Aufklärung zu erheben, den Weltbürger als Ausgangspunkt zu betrachten, nicht den Mensch als bloßen Baustein eines Kollektivs, das sich von anderen konstruierten Kollektiven absetzt, ja sogar zum Kampf gegen andere Kollektive prädestiniert ist. Ohne den Anschluss an die Realität zu verlieren, ohne zu vergessen, dass die Welt nicht nur voller "Gutmenschen" ist, dass man sich für die Bekämpfung vielerlei Übel einsetzen und Farbe bekennen muss, ist diese aufklärerische Haltung möglich, ja erforderlich.

Lob der Skepsis

Der Verrat der Intellektuellen ist ein weltweites Phänomen, das parallel zum Prozess der Globalisierung läuft. Auch der Konflikt im Nahen Osten, wie spätestens seit dem 11.9. weltweit, schuf eine Form von Verrat der Intellektuellen, die durch Schweigen und Wegschauen gegenüber Unrecht einerseits und der unkritischen Haltung gegenüber den konstruierten kollektiven Identitäten – dem "Wir" und dem "Anderen" besteht. Die Vorstellung von einer permanenten Notstandssituation delegitimiert ja sowieso alle Annährungsversuche zwischen den in kompromissloser Konfrontation befindlichen Kollektiven, sodass die Voraussetzung für eine skeptische oder offene Betrachtung der einzelnen Ereignisse und Herausforderungen völlig entfällt.

Viele wundern sich über den Wandel in der Politik Ariel Sharons: Wie konnte der Antreiber der Siedlungsbewegung plötzlich zum Vater des Rückzugs aus den besetzten Gebieten werden? Über die für ihn charakteristischen taktischen Überlegungen hinaus, die eher mit seiner Neigung zu tun haben, mit Gegnern im eigenen Lager abzurechnen, steht im Endeffekt die Idee von der "demographischen Gefahr": Wenn die Palästinenser zur Mehrheit in Palästina, in Eretz Israel, werden, wird das Unternehmen "Judenstaat" in Gefahr geraten. Am deutlichsten stellte sich diese Gefahr im Gaza-Streifen und deswegen begann Sharon mit seiner Rückzugspolitik eben dort. Dass Israel mit diesem Rückzug endlich beginnt, ist zweifelsohne positiv. Aber die Begründung kann man nicht als positiv bewerten, denn sie beruht nicht auf der Erkenntnis, dass die Besatzung ungerecht ist: Es sind pragmatische Überlegungen, die bei dieser Entscheidung eine Bedeutung haben, und dabei spielen die Intellektuellen eine nicht unerhebliche Rolle.

Zum einen sind es die Leviten, die ein israelischer Geographie-Professor uns ständig liest, die auch einen großen Einfluss auf Ariel Sharon hatten: Seine Prognosen über die demographischen Verhältnisse in Palästina, in der Region, und selbstverständlich im Gaza-Streifen für das Jahr 2020 klangen so deprimierend, dass sogar die politische Klasse zum Handeln bereit war. Hinzu kam, dass die Parole von der "Trennung" – wir sind hier und die anderen dort – auf dem Hintergrund der opferreichen Terroranschläge gegen Israelis sogar von den angeblich linken Intellektuellen unterstützt wurden, und die meisten Intellektuellen auch die in der Politik verkehrenden Euphemismen nicht demaskieren wollten (z.B. "Transfer"), sodass die Mehrheit der Israelis die Motivation für den Rückzug wie auch für den Bau des Zauns nicht hinterfragen mochte, ja ohne weiteres akzeptierte.

Wenn es "die Anderen" gibt, wenn die Anderen einzig als Terroristen zu bezeichnen sind, wenn die Gefahr, "wissenschaftlich" bewertet, immer größer zu werden droht – scheint die Lösung in Form von "Trennung" die beste, ja die einzige zu sein. Wenn man davon ausgeht, dass "die Anderen" zum Terrorismus prädestiniert sind, weil eben der Islam auf Djihad setzt, scheint es keine Alternative zu geben. Da sich auf der palästinensischen, bzw. arabischen oder moslemischen Seite ein paralleler Verrat der Intellektuellen bemerkbar macht, ist eine konstruktive Alternative nicht in Sicht. Die Konstrukte von "Gläubigen" vs. "Ungläubigen", "Volksgemeinschaften", "Heiligem bzw. unumgänglichem Krieg" blockieren den Weg zur Verständigung, und schon vorher zur notwendigen Skepsis, die zu neuen Fragen und neuen Hypothesen führt. Gerade von den Intellektuellen aber muss diese Skepsis erwartet werden.

Veröffentlicht am 18. August 2006

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