El Salvador

Rütteln am Status Quo

In El Salvador sind auf Druck von unten vor allem im Gesundheitsbereich erstaunliche Bewegungen angestoßen worden. Eine Allianz aus linker Regierung und traditionsreicher sozialer Bewegung will das Recht auf Gesundheit verwirklichen.

Von Dieter Müller

„Einige Ärzte und Krankenschwestern fürchten uns, weil wir ihnen auf die Finger schauen, mit den Leuten sprechen und das neue System betreuen, das Patientinnen und Patienten ermöglicht, anonym Beschwerden, Anregungen, aber auch Lob vorzutragen“, erzählt Inés vom lokalen Gesundheitskomitee des Foro Nacional de Salud (Nationales Gesundheitsforum; FNS) bei einer Versammlung von Gemeindeaktivistinnen und -aktivisten in der verschlafenen Kleinstadt Nueva Granada. Zwar gebe es noch Klagen, dass das medizinische Personal den Menschen vom Land nicht mit Respekt begegnet oder die Qualität der Sprechstunden unzureichend sind. Aber genau deshalb sei das lokale Gesundheitskomitee des FNS als Anlaufstelle geschaffen worden und sind Aktivistinnen wie Inés fortgebildet worden.

Die in den lokalen Gesundheitszentren gesammelten Beobachtungen werden monatlich mit den Verantwortlichen des Gesundheitsministeriums ausgewertet. „Unsere Arbeit der ‚controlaría social‘ ist enorm wichtig, um die Errungenschaften im Gesundheitsbereich zu vertiefen und verstetigen“, so Inés. Was sie damit meint? „Wir müssen auch dem Bürgermeister weiter Druck machen, damit die Missstände in der Wasserversorgung und der Abfallbeseitigung abgestellt werden, denn sonst werden unsere Kinder immer wieder krank.“

Aus diesen Worten spricht ein neues Selbstbewusstsein. Ein Selbstbewusstsein, das in langen Kämpfen und angesichts jüngster Erfolge gewachsen ist. Das Nationale Gesundheitsforum, seit 2011 Projektpartner von medico, ist im Zuge der Gesundheitsreform von 2010 eingeführt worden. Im Forum sind alle relevanten gesundheitspolitischen Instanzen der Zivilgesellschaft und Akteure des staatlichen Gesundheitswesens vertreten. Es geht um Bürgerbeteiligung und Mitgestaltung, vom Dorf über die Provinz bis zur nationalen Ebene, sowie um Dialog und Konzeptentwicklung.

Inés und ihre Kolleginnen aus Nueva Granada sind Teil dieser Instanz, die so keineswegs zum Standardrepertoire der progressiven Regierungen Lateinamerikas gehört. Undenkbar wäre es etwa im benachbarten Nicaragua, wo die Gesundheitsreform der sandinistischen Revolutionsregierung in den 1980er Jahren international Anerkennung fand. Aber das ist lange her – und längst haben sich auch viele linke Regierungen Lateinamerikas fragwürdigen expansiven Entwicklungsmodellen verschrieben. El Salvador bildet da eine Ausnahme.

Das Land als Beute

Über Jahrzehnte war die Mehrheit der salvadorianischen Bevölkerung auf dem Land und in den Armenvierteln der Städte von dem Recht auf Gesundheit ausgeschlossen. Es gab weder ärztliches Personal noch Medikamente. Und es mangelte an vielem, was für ein Leben in Würde und Gesundheit notwendig ist, vom Zugang zu Wasser und Bildung über Wohnungen bis zu Erwerbsmöglichkeiten.

In den 1970er Jahren mündete die soziale Ausgrenzung und politische Unterdrückung in ein Erstarken der Volksorganisationen und später auch des politisch-militärischen Widerstands durch Guerillaorganisationen, die sich in der Nationalen Befreiungsfront Farabundo Martí (FMLN) zusammengeschlossen hatten. Schon damals entstanden, von medico unterstützt, erste autonom organisierte Basisgesundheitsstrukturen.

Doch in den vergangenen 20 Jahren setzten wechselnde Regierungen der rechtsextremen Nationalistisch-Republikanischen Allianz (ARENA) einen neoliberalen Sozialabbau durch, der mit einer Demontage der öffentlichen Gesundheitsversorgung einherging. Ein Privatisierungsprojekt folgte dem nächsten – und immer bereicherte sich die politische Klasse. So waren fast alle ARENA-Präsidenten entweder Besitzer von pharmazeutischen Unternehmen oder hielten Anteile.

Eine der Folgen: Die Preise für Medikamente in El Salvador gehörten weltweit zu den höchsten. Doch statt auf erheblich günstigere Produkte von internationalen Anbietern auszuweichen, orderte das öffentliche Gesundheitswesen ergeben bei den inländischen Unternehmen. 2007 kam es denn auch zu einer massiven Versorgungskrise, als mit dem bewilligten Budget nur die Hälfte der benötigten Medikamente gekauft werden konnte.

Doch je offensichtlicher die Mächtigen das Land als Beute behandelten, desto stärker wurde der Widerstand. 2002 gründete sich die Allianz gegen die Privatisierung der Gesundheit (Alianza contra la privatización de la salud, ACCPS). In ihr kamen Nichtregierungsorganisationen und engagierte Ärzte und Gesundheitsarbeiterinnen aus Praxis und Hochschule zusammen, die sich bereits während des Bürgerkrieges und im Rahmen der Wiederansiedlungen nach dem Friedensabkommen von 1992 für die Förderung alternativer, basismedizinischer Dienste eingesetzt hatten. Die Gründung dieser Allianz war Ausdruck und Motor eines neuen Aufbegehrens.

Ärztevereinigungen und Gewerkschaften riefen zu Streiks auf und organisierten gemeinsam mit Volksorganisationen und der ACCPS neun „Weiße Märsche“. Bis zu 200.000 Menschen demonstrierten gegen den Ausverkauf der Gesundheit. Trotz manches Teilerfolges aber konnte dies der neoliberalen Politik nicht wirklich Einhalt gebieten. So führte der Protest etwa zur Verabschiedung des Dekrets 1024, in dem Gesundheit als öffentliches Gut festgeschrieben und Privatisierungen ausgeschlossen wurde. Doch drei Monate später war das Dekret wieder einkassiert.

Protest und Interventionen

Solche Rückschläge hielten die zivilgesellschaftliche Bewegung jedoch nicht davon ab, sowohl den Protest als auch den legislativen und juridischen Kampf fortzusetzen. Schon 2002 wurde dem Parlament der Entwurf für ein neues Medikamentengesetz vorgelegt, 2005 wurden Vorgaben für ein Gesetz zur Einführung eines Einheitlichen Nationalen Gesundheits-systems erarbeitet, 2007 reichte die ACCPS vor dem Obersten Gerichtshof Klage gegen den Direktor des Sozialversicherungsinstituts ein, wegen Unterversorgung mit Medikamenten und medizinischem Bedarfsmaterial. 2008 forderte sie eine umfassende Untersuchung zum Verbleib des Kredits der Weltbank für einen Krankenhausneubau, der in dubiosen Kanälen versickert war. Früchte trägt der Druck seit 2009, als die FMLN erstmals die Parlaments- und die Präsidentenwahlen gewann.

Mit dem Amtsantritt der Regierung Funes entstand eine starke Allianz zwischen Gesundheitsministerium und zivilgesellschaftlicher Bewegung. Diese mündete in die 2010 verabschiedete Gesundheitsreform, die auf einen tiefgreifenden Wandel zielt: Erstmals wird der primären Gesundheitsversorgung und einer Verbesserung der Lebensbedingungen der breiten Bevölkerung zentrale Bedeutung beigemessen. Hierbei geht es nicht nur darum, Gesundheitsdienste zu den Menschen zu bringen. Vielmehr wird ihre aktive Beteiligung gefördert – wie in den beschriebenen lokalen Gesundheitszentren.

Letztlich steht die neue Allianz dafür, Gesundheit als ein Menschenrecht anzuerkennen, für dessen Gewährleistung der Staat verantwortlich ist. Nur so ist es zu erklären, dass trotz massiver Einflussnahme von Pharmalobby, Unternehmerverband und ARENA ein progressives Medikamentengesetz verabschiedet und eine Regulierungsbehörde gegründet wurde. Als großen Erfolg bezeichnet Gesundheitsministerin Violeta Menjivar, dass 2014 rund 80 Prozent des Bedarfs an Medikamenten, medizinischem Bedarfsmaterial und Impfstoffen für das öffentliche Gesundheitswesen gesichert werden konnte. Doch die Ziele sind höher gesteckt: „Für uns ist das auch ein Signal, dass wir weitere Anstrengungen unternehmen müssen, um das Recht auf Gesundheit vollumfänglich zu gewährleisten“, so Mejivar. Ein Hindernis sind die beschränkten Haushaltsmittel.

Folgerichtig fordert der medico-Partner ACCPS eine Steuerreform, die vor allem die Reichen im Land adressiert, deren fiskalischer Beitrag bislang lächerlich ist. Hier zeigt sich die grundsätzliche Konstellation im heutigen El Salvador: Eine progressive Regierung kann sich auf ein in langen Kämpfen gewachsenes zivilgesellschaftlichen Netzwerk stützen. Dieses trägt dafür Sorge, dass der angestrebte Politikwechsel umgesetzt wird. All dies angesichts von tradierten Machtverhältnissen. „Auch wenn die FMLN nun die Regierung stellt, liegt die Macht weiterhin bei den wenigen mächtigen Familien El Salvadors“, sagt Margarita Posada, Koordinatorin des ACCPS. „Und diese haben noch immer relevante Bereiche von Wirtschaft und Justiz unter ihrer Kontrolle.“ Der Wandel hat gerade erst begonnen.

Das heutige El Salvador ist ein Beispiel für eine echte Gesundheitsreform von unten. medico unterstützt in diesem Reformprozess das zivilgesellschaftliche Netzwerk Alianza contra la privatización de la salud (ACCPS), ein 2002 gegründetes Bündnis von Nichtregierungsorganisationen und engagierten Ärzten und Gesundheitsarbeiterinnen und ein entscheidender Akteur in dem nationalen Gesundheitsforum Foro Nacional de Salud (FNS). Gemeinsam werden lokale Gesundheitskomitees organisiert, Studien über die aktuelle Gesundheitssituation durchgeführt und Personal im Gesundheitswesen ausgebildet.

Dieser Artikel erschien zuerst im Rundschreiben 1/2015. Das Rundschreiben schicken wir Ihnen gerne kostenlos zu. Jetzt bestellen!

Veröffentlicht am 26. Mai 2015

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