Hungerkrise

Nothilfe auf Augenhöhe

Die medico-Partner in Somalia und Kenia geben ihr Äußerstes, um den Menschen gegen den Hunger beizustehen. Ein Bericht.

Auf der Fahrt durch die verstopften Straßen der kenianische Hauptstadt Nairobi entdecken wir eine kleine Herde Kühe. Einige Nomaden treiben ihre Herden inzwischen nach Nairobi und lassen sie auf den Grünsteifen der Ausfallstraßen weiden. »Freiwillig würden sie nicht in die Stadt kommen, die Lage außerhalb der Stadt muss schlimm sein«, erklärt uns der Taxifahrer Cyrus Muriuki, der uns auf den langen Fahrten durch den chronischen Stau immer wieder mit Hintergrundinformationen zur Geschichte Kenias versorgt.

Menschenrechte und Nothilfe

Erst als uns die Kollegen der Menschenrechtsorganisation KAPLET von ihrer Sondierungsmission in die Provinz Garissa im kenianisch-somalischen Grenzgebiet berichten, bekommen wir eine Vorstellung vom Ausmaß der sich abzeichnenden Katastrophe. KAPLET ist seit 2011 Partner von medico, wir haben die Gruppe kennengelernt als mutige und kluge Menschenrechtsaktivist*innen, die in den Slumgebieten, den Villages von Nairobi, laienjuristische Beratung anbieten. Unermüdlich organisieren sie Workshops und erstreiten den Zugang zu Gesundheitsversorgung für die Ärmsten.

Als sich die Dürre im Jahr 2011 sukzessive auf immer mehr Provinzen des Landes ausbreitete, meldete sich KAPLET bei uns mit dem Ansinnen, Nothilfemaßnahmen zu organisieren. Menschenrechtsarbeit und Nothilfe, geht das überhaupt zusammen? Offen gestanden haben wir einen Moment gezögert. Aber die Aktivist*innen haben sie uns mit einer so überzeugenden Klarheit die Motivation ihres Handelns auseinandergesetzt, dass jeder Zweifel schnell ausgeräumt war: In ihrer Herangehensweise verorten sie die Verteilung von Hilfsgütern als Teil eines solidarischen, politischen Handelns zur dauerhaften Überwindung von Not und Unmündigkeit. Auch indem KAPLET zum Beispiel von der kenianischen Regierung fordert, dass das in der neuen Verfassung verbriefte Recht auf Nahrung für alle Bürger*innen des Landes gleichermaßen gelten muss.

»Aber wie bitte sollen wir mit Menschen über ihre Grundrechte sprechen, wenn sie gerade vom Hungertod bedroht sind«?, fragt David Makori von KAPLET.

Erschütternde Berichte

Die Berichte aus Garissa sind erschütternd. Viele Menschen sind zu entkräftet, um zu fliehen und Orte zu suchen, an denen es noch Wasser und Nahrung gibt. Wenn die Hilfe nicht zu ihnen kommt, werden sie sterben. Tote Tiere, darunter sogar Kamele, die bekanntlich besonders dürreresistent sind, zeugen vom Ernst der Lage. Auch wurde uns berichtet, dass Ziegen beginnen, Kadaver zu fressen – bei ansonsten reinen Vegetariern ein eindeutiges Zeichen für die Bedrohlichkeit der Situation.  

Die Journalist*innen Marc Engelhardt und Bettina Rühl erklären die überlebensnotwendige Bedeutung der Tiere: »Für Nomaden sind ihre Tiere eine Art Bankkonto: Sie werden verkauft, wenn die Familie Getreide braucht, Schulgeld für die Kinder bezahlen muss, oder wenn größere Anschaffungen anstehen. Wenn die Herde verendet, ist das für einen Nomaden dasselbe, als würde ein Europäer seinen Job, sein Eigenheim und sein Konto verlieren«.

Vertrauen als Sicherheitsstrategie

Bei einer Sondierungsreise für die Vorbereitung der Hilfslieferung in die Provinz Garissa haben die Menschenrechtsaktivist*innen von KAPLET zugehört, genau hingeschaut und mit den Menschen gesprochen. Sie haben mit Dorfältesten und mit religiösen Führern die Lage sondiert und gemeinsam ausgelotet, wie Wasser und Lebensmittel schnell und so (bedarfs-)gerecht wie das in einer solcher Situation möglich ist, verteilt werden können. Angesichts einer gesellschaftlichen Stimmung, die von Misstrauen, Angst und Unsicherheit geprägt ist, weil es seit Jahren immer wieder zu Überfällen durch die islamistischen Milizen der al-Shabaab kommt, eine schwierige Aufgabe. Die Milizen suchen Schutz in den raren bewaldeten Gegenden, daher traut sich die Bevölkerung der Region auf der Suche nach Nahrung nicht mehr dorthin – auch aus Angst, selber verdächtigt zu werden, die Milizen zu unterstützen.

In der Region, in der KAPLET Nothilfe leistet, ist bisher keine staatliche Hilfe angekommen. Aus mehreren Gründen: Schlechte Straßen, schlechte Vorbereitung der Bevölkerung und Angst vor Attacken der Milizen, aber auch der wütenden ausgezehrten Bevölkerung.

Gemeinsam mit den Vertreter*innen der lokalen Bevölkerung fanden die Aktivist*innen von KAPLET eine kreative Lösung für das Sicherheitsproblem: Dorfälteste und andere lokale Persönlichkeiten begleiten die LKW mit den Hilfslieferungen, die Nahrung und Wasser in die Dörfer bringen, einen Teil der Strecke. KAPLET bindet die lokalen Hierarchien ein und bleibt gerade deshalb unabhängig. Und doch bleibt die Lage bedrohlich: Die Angst fährt immer mit.

Cholera breitet sich aus

Der medico-Partner NAPAD wurde 2006 von somalischen NGO- und UN-Mitarbeiter*innen gegründet. Er bündelt Erfahrungen in der Nothilfe und ist seit vielen Jahren im Südwesten Somalias an der kenianischen Grenze aktiv. Die Mitarbeiter*innen kennen die Bedingungen vor Ort und verfügen über ein gutes Netzwerk.

Aktuell versorgt NAPAD mit Unterstützung von medico in der somalischen Region Gedo Haushalte mit Nahrungsmitteln und gewährleistet den Zugang der Menschen zu Wasser. Letzteres ist besonders wichtig, denn die Wasserpreise sind hier mit Beginn der aktuellen großen Dürre um 300 Prozent gestiegen. Krankheiten wie Cholera und wässriger Durchfall breiten sich immer weiter aus, Zehntausende sind betroffen.

Darüber hinaus verteilen die NAPAD-Mitarbeiter*innen Gutscheine an Bedürftige, die sie bei den Händlern in den Dörfern gegen Essen und Wasser eintauschen können. Das Geld bekommen diese dann von NAPAD zurück – ein Prinzip, das ohne Vertrauen niemals funktionieren würde.

Der gesichtslose Feind

Die Gefahr des „gesichtslosen Feindes“, wie NAPAD die Milizen der al-Shabaab bisweilen nennt, ist in Gedo noch weit größer als im Osten Kenias: Die Milizen selbst versuchen sich mit der Verteilung von Hilfsgütern als Akteure guter Regierungsführung zu etablieren und gleichzeitig die Untätigkeit der Regierung zu demonstrieren.

»Die Lage ist paradox. Viele Hilfsorganisationen trauen sich aus der berechtigten Angst vor al-Shabaab nicht in die entlegenen Provinzen. Das Risiko wird auf uns abgewälzt, was es uns ermöglicht, genau den lokalen, partnerorientierten Hilfsansatz umzusetzen, den wir seit Jahren einfordern«, sagt Dr. Abdullahi Hersi von NAPAD. »Und genau das wollen wir über die Zeit der Dürre hinweg verteidigen.« Deshalb hat sich NAPAD mit anderen Organisationen aus dem globalen Süden vernetzt, um dieser Forderung auch international Nachdruck zu verleihen.

Warum funktioniert die Prävention nicht?

Wieso haben die Präventionsmaßnahmen nach der Dürre von 2006 nicht funktioniert, fragen wir nach. »Wir konnten nach der letzten großes Dürre schon einiges umsetzen«, berichten Abdullahi Hersi und Mohamed A. Arai von NAPAD. So wurden Wasserauffangbecken gebaut, die zunächst Schlimmeres verhindern konnten. Auch einkommensschaffende Maßnahmen vor allem für Frauen, um die ökonomischen Folgen der Dürre zu überwinden und die Einnahmequellen zu diversifizieren, waren wichtig.

Doch ein langfristiger Ansatz, der auf Vorsorge setzt, ließ sich dennoch nicht umsetzen, weil die Fördergelder nach der letzten Dürre vor sechs Jahren immer weiter zurückgingen. Ergebnis politischer Entscheidungen, auch auf internationaler Ebene. Die Folge: Viele fachkundige Kolleg*innen von NAPAD mussten entlassen werden oder wurden von großen internationalen Hilfswerken oder den Vereinten Nationen abgeworben. Gewollt oder ungewollt tragen die kurzfristige Hilfe und deren schnelles Ende allzu oft zur Stabilisierung von (welt)-gesellschaftlichen Verhältnissen bei, die Abhängigkeiten systematisch reproduzieren.

Die Katastrophe ist wieder da

Und nun ist die Katastrophe wieder da und sie ist größer denn je. Kenia, Südsudan, Nordnigeria, Somalia, Zentralafrikanische Republik, die Region um den Tschadsee, Jemen: Millionen Menschen drohen den Hungertod zu sterben oder, sollten sie überleben, gesundheitliche Schäden für den Rest ihres Lebens zu haben – über Generationen hinweg. Hinzu tritt ein weiteres: Das Ausmaß der Dürre, die weite Teile Ostafrikas erfasst hat, ist so gravierend, dass alle getroffenen Schutzmaßnahmen gar nicht ausreichen konnten. Diese Erkenntnis hat NAPAD dazu gebracht, sich stärker als bisher mit den strukturellen Ursachen von Dürren und Hungersnöten auseinander zu setzen, darunter dem Klimawandel. Dabei schmieden sie auch neue Allianzen.

Begegnung auf Augenhöhe

Was lag daher näher als unsere Partner zusammen zu bringen? In Nairobi trafen im April erstmals die Menschenrechtsaktivist*innen aus den Slums auf die Nothilfeexpert*innen von NAPAD. Anfänglich dauerte es einen Moment, bis die auf den ersten Blick so ungleichen medico-Partner miteinander warm wurden, doch dann entstand ein grundsätzliches Gespräch über die Lage in Kenia, die Politik der letzten Jahre, die bevorstehenden Wahlen und die Frage, was getan werden müsste.

Das Verbindende dieser so unterschiedlichen Partner wurde sichtbar: Die Solidarität mit und das Eintreten für die Ausgeschlossenen und Abgehängten der ungerechten kenianischen und somalischen Gesellschaften.

Ursachen verstehen um sie zu bekämpfen

Wir müssen die Ursachen von Tragödien verstehen, damit sich diese nicht wiederholen, heißt es in dem Aufruf, den medico 2011, anlässlich der letzten großen Dürre, gemeinsam mit afrikanischen und europäischen Schriftsteller*innen lanciert hat. Die darin benannten strukturellen Ursachen der Dürre wie die Spekulation auf  Nahrungsmittelpreise, der Landraub für die Produktion von Biosprit und Lebensmitteln für die reichen Länder, die Einflüsse des Klimawandels, der Abschluss neuer Freihandelsverträge wie zum Beispiel das Freihandelsabkommen EPA zwischen der EU und Kenia, eine Sicherheitspolitik, die die existenziellen Bedürfnisse der Bevölkerung geostrategischen Interessen unterordnet. Alle diese Probleme haben sich seit der letzten großen Dürre in Ostafrika verschärft.

Der kenianische Dürreexperte Dr. Alex O. Awiti erläutert im Gespräch mit medico, wie eng Fragen von Handelspolitik mit den bewaffneten Konflikten in Ostafrika korrelieren: »Schrumpfende Handlungsspielräume, verursacht durch Klimawandel und die Privatisierung von fruchtbarem Land, haben die die Verteilungskonflikte in der ganzen Region angeheizt«.

2016 hat die kenianische Regierung nach massivem Druck das Freihandelsabkommen EPA mit der EU unterschrieben. Die kenianische Menschenrechtskommission weist darauf hin, dass die lokale Landwirtschaft nicht gegen die subventionierten Lebensmittel aus der EU konkurrieren kann. Damit droht die Ernährungssouveränität verloren zu gehen. Langfristig gehen wichtige Staatseinnahmen verloren, wenn die Importzölle auf null abgesenkt werden. Die Notwendigkeit einer globalen Perspektive, die sich im Lokalen verortet, wurde uns auf unserer Keniareise erneut deutlich.

Anne Jung, Gesundheitsreferentin medico international
 

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Veröffentlicht am 04. Mai 2017

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