Covid-19

Nicht stark genug, nicht laut genug

Der südafrikanische Menschenrechtsaktivist Mark Heywood über die globale Gesundheitskrise und die Notwendigkeit eines Aktivismus von unten.

Bisweilen wird ein Ereignis erst im Verlauf der Geschichte zu einem Jahrestag. Der 30. Januar 2020 gehört dazu. Von der europäischen Öffentlichkeit kaum beachtet, rief Tedros Adhanom Ghebreyesus, Generaldirektor der Weltgesundheitsorganisation (WHO), vor genau einem Jahr wegen der Ausbreitung von Covid-19 den internationalen Gesundheitsnotstand aus. Das war mutig, weil der WHO immer wieder Panikmache vorgeworfen worden war. Vor einem Jahr hatten sich 8.100 Menschen mit dem Coronavirus infiziert. Inzwischen sind es 101.605.084.

medico: Nach einer langen Phase der Hoffnung, dass die afrikanischen Länder von der Covid-19-Pandemie weitgehend verschont bleiben würden, erreichen uns nun Nachrichten über steigende Infektionsraten und überlastete Krankenhäuser vor allem in Südafrika. Kannst du die aktuelle Situation beschreiben?

Mark Heywood: Richtig. In der sogenannten ersten Welle war der größte Teil Afrikas relativ milde von Covid-19 betroffen. Man hatte erwartet, dass wir aufgrund unserer schwachen Gesundheitssysteme, aufgrund von Tuberkulose, HIV und der anderen Epidemien wirklich hart getroffen werden würden, sobald Covid-19 Afrika erreicht. Wir verstehen immer noch nicht ganz, warum es bei der ersten Welle nicht so war. Aber viele afrikanische Länder befinden sich jetzt mitten in einer zweiten Welle von Covid-19-Infektionen, die sich als sehr viel schlimmer erweist als die erste Welle.

In Südafrika haben wir offiziell mehr als 42.000 Todesfälle erreicht. Die Sterberate liegt seit Beginn der Pandemie um 125.000 Tote höher im Vergleich zu dem, was durchschnittlich normal ist. Das bedeutet, dass die Lage in Südafrika genauso schlimm ist wie in Großbritannien. Wenn es um die Sterblichkeit geht, ist die Situation vergleichbar mit den Vereinigten Staaten oder Brasilien. Wir befinden uns also wirklich in einer verzweifelten Situation. Unser Gesundheitspersonal ist erschöpft. Wir verlieren viele Mitarbeiter*innen im Gesundheitswesen, darunter viele, die jahrzehntelange Erfahrung haben. Wenn diese Pandemie vorbei ist, wird der Verlust enorm sein.

Ist Südafrika das einzige Land in der Region, das so stark betroffen ist?

Nein, das gilt nicht nur für Südafrika. Die zweite Welle im südlichen Afrika, zum Beispiel auch in Simbabwe, ist viel schlimmer als die erste. Genau wie in vielen anderen afrikanischen Ländern. Eines der Probleme, die wir haben, ist, dass die Gesundheitssysteme sehr schlecht sind. Und ich denke, dass es aktuell nicht genug internationale Aufmerksamkeit für das gibt, was in Afrika passiert.

Weil Covid-19 auch die sogenannten entwickelten Länder und die reichen Menschen betrifft, schauen sie hauptsächlich auf sich selbst und ignorieren, was in den ärmsten Teilen der Welt, wie Afrika, passiert. Von unserer Seite aus, als Afrikaner*innen müssen wir mehr tun, um die Welt zu zwingen, auf die Krise in unseren Ländern zu schauen und die Notwendigkeit der internationalen Solidarität anzuerkennen, die notwendig ist, um dieser Krise zu begegnen.

In Deutschland tobt gerade die Debatte über die Geschwindigkeit der Impfstofflieferungen. Der anfänglich nationalistische Fokus weicht nun einem eurozentrischen. Die globale Perspektive wird weitgehend ausgeblendet. Es ist keine globale Strategie erkennbar...

Die Sache ist die, dass wir uns, egal wo auf der Welt, gerade inmitten einer sehr intensiven Pandemie befinden. Und natürlich müssen viele Regierungen auf die Infektions- und Sterberaten und die unmittelbaren Herausforderungen der Gesundheitssysteme reagieren. Aber weißt du, ich erwarte viel mehr von den Regierungen. Die Regierungen haben die Ressourcen, sie haben das Fachwissen, sie haben Zugang zu den wichtigsten und aktuellsten Informationen, die von Wissenschaftlern generiert werden. Natürlich erwarte ich, dass die Regierungen die unmittelbaren Auswirkungen der Krise bekämpfen – aber sie sollten sich auch mit den zugrundeliegenden strukturellen und sozioökonomischen Fragen befassen – und das tun sie zurzeit furchtbar schlecht. Das wird deutlich, wenn wir uns im Moment die Vereinigten Staaten anschauen mit der Debatte über die Größe von Hilfspaketen.

Aber noch schlimmer ist es in einem Land wie Südafrika, wo es überhaupt keine Hilfspakete gibt und – außer von der Zivilgesellschaft – auch kein Druck dahingehend ausgeübt wird. In unserem Land ist die Zahl der arbeitslosen Menschen um Millionen gewachsen! Die Zahl der hungernden Menschen ist um Millionen gewachsen. Du musst bedenken, dass es anders als in den meisten sogenannten entwickelten Ländern gar keine soziale Absicherung gibt. Für unsere Leute hier gibt es so gut wie nichts an sozialer Sicherheit.

Es ist wirklich die Zeit für vernünftige, aber radikale Veränderung in der Welt. Der Kapitalismus und das System des profitorientierten Gesundheitswesen, das unsere Gesundheitssysteme und unsere Sozialsysteme kaputt gemacht hat, kann diese Krise nicht lösen. Es ist jetzt an der Zeit, dass die Regierungen dieser Welt erkennen, dass etwas anderes getan werden muss.

Es ist für mich eine Situation, die der Situation am Ende des Zweiten Weltkriegs sehr ähnlich ist, als die Regierungen bereit waren, wirklich anders zu denken. Sie waren bereit, die Steuern für die Reichen drastisch zu erhöhen, um die dem Staat zur Verfügung stehenden Mittel zu vergrößern. Sie waren bereit, in öffentliche Dienstleistungen und Infrastruktur zu investieren, einschließlich der öffentlichen Gesundheitssysteme. 

Das ist die Art von Antwort, die wir jetzt fordern sollten. Und wenn wir das nicht fordern, besteht die Gefahr, dass wir, sobald genug Menschen gegen Covid-19 geimpft sind, um die Pandemie unter Kontrolle zu bringen, mit den neuen Ungleichheiten leben müssen, die durch Covid-19 geschaffen werden – anstatt den Moment zu nutzen, um diese Ungleichheiten zu stürzen.

Angedockt an die WHO wurde die Covax Initiative ins Leben gerufen, eine öffentlich-private Partnerschaft, die die Versorgung mit Impfstoffdosen in ärmeren Ländern sicherstellen soll. Kann das eine Lösung für Südafrika sein?

Nein, das glaube ich nicht. Bis jetzt wurde in Südafrika noch keine einzige Person geimpft! Das Gleiche in den meisten anderen afrikanischen Ländern. Die globalen Ungleichheiten, die wir in den globalen Gesundheitssystemen in Bezug auf jede andere Krankheit gesehen haben, manifestieren sich also jetzt wieder mit Covid-19.

Auch wenn Covax eine wichtige Innovation ist, reicht das nicht aus. Was wir brauchen, ist, dass die Entwicklung von Impfstoffen und die Versorgung mit Impfstoffen als ein Menschenrecht und als öffentliches Gut behandelt wird. Und was wir uns jetzt alle fragen sollten, ist, ob die globale Führung und die WHO stark genug sind – im Moment ist sie leider nicht stark genug –, um alle globalen Kapazitäten für die Impfstoffproduktion zu mobilisieren und sich nicht durch Patente daran hindern zu lassen.

Denn was wir auch gesehen haben, ist, dass die Entwicklung von Impfstoffen nicht mit privatem Geld, sondern mit öffentlichen Geldern finanziert wurde. Und jetzt wird die Versorgung der Entwicklungsländer mit Impfstoffen dadurch abgewürgt, dass die Versorgung an privates Eigentum gebunden ist. Ich würde also sagen, Covax ist keine komplette Zeitverschwendung, aber es ist einfach nicht genug für das Ausmaß der Krise, mit der wir konfrontiert sind.

Anders als in Deutschland gibt es in Südafrika ein starkes zivilgesellschaftliches Engagement, die C-19 People's Coalition. Kannst du uns etwas darüber und über deren Forderung nach einem Aktionsplan erzählen?

Gleich zu Beginn der Pandemie haben wir beschlossen, dass wir ein zivilgesellschaftliches Bündnis im Kampf gegen Covid-19 schaffen müssen. Im März 2020 entwickelten wir eine Konsenserklärung, auf die sich die Zivilgesellschaft einigen konnte, und im Laufe der kommenden Monate wurden über 400 Organisationen Teil dessen, was wir jetzt die C-19 People's Coalition nennen. Es ist ein sehr breites Bündnis und es arbeitet an einer Vielzahl von Themen und ist in verschiedenen Arbeitsgruppen organisiert. Es gibt eine Arbeitsgruppe zum Gesundheitssystem, es gibt eine Arbeitsgruppe zur Bildung und es gibt eine Arbeitsgruppe zur sozialen Sicherheit.

Und sie mobilisiert auch in den Nachbarschaften und übt Druck auf die Regierung und natürlich bis zu einem gewissen Grad auch auf den privaten Sektor aus. Ende letzten Jahres, als die C-19 People's Coalition sah, dass wir als Land beim Zugang zu Impfstoffen diskriminiert werden würden, und als wir sahen, dass unsere Regierung es versäumt hatte, den Zugang zu Impfstoffen zum richtigen Zeitpunkt auszuhandeln, und dass es Monate dauern würde, bis Südafrika die erste Ladung Impfstoffe erhalten würde, rief die C-19 People's Coalition die People's Vaccine Alliance ins Leben, um einen zivilgesellschaftlichen Impfplan für das Land zu entwickeln.

Und genau hier sind wir jetzt. Wir entwickeln einen Plan, um der Regierung zu zeigen, wie ein guter Plan für die Beschaffung und Verteilung von Impfstoffen aussehen würde, denn man kann die Bereitstellung von Impfungen für die Menschen nicht davon trennen, wie man mit der Verletzlichkeit der Menschen umgeht und wie man mit dem Ausmaß der Infektionen und Todesfälle umgeht. Dies ist eine sehr wichtige Entwicklung.

Kann das ein Modell für die internationale Bewegung sein?

Was wir bisher während dieser Pandemie nicht getan haben, ist der Aufbau starker internationaler Allianzen über Grenzen hinweg. Hier und da kommunizieren Leute miteinander, aber es gibt keine international koordinierte Strategie von Organisationen der Zivilgesellschaft und der sozialen Gerechtigkeit.

Und wenn es so etwas gibt, dann ist es nicht stark genug und nicht sichtbar genug. Wenn es internationale Organisationen gibt, die daran arbeiten, dann kann ich euch nur sagen, dass wir euch vor Ort nicht spüren. Und wir müssen euch vor Ort spüren. Die andere Sache ist, dass die Zivilgesellschaft das Narrativ gestalten muss.

Während der HIV-Krise brachten Gesundheitsaktivisten die Regierungen und die Vereinten Nationen dazu, mit uns zu reden. Wir hatten einen Plan. Wir wussten, was als Nächstes getan werden musste. Ich glaube, dass die Zivilgesellschaft auf internationaler Ebene im Moment nicht stark genug ist und das Narrativ nicht mitgestaltet. Und ich glaube wirklich, dass das die Herausforderung der Stunde ist. Sie muss an alle NGOs und sozialen Bewegungen herangetragen werden. Sie muss an all die vielen Organisationen herangetragen werden, die auf der Ebene der internationalen NGOs arbeiten. Wir müssen also zusammenkommen und eine gemeinsame Agenda entwickeln.

Wenn wir als Zivilgesellschaft an Covid-19 scheitern, werden wir viele Jahrzehnte brauchen, um uns davon zu erholen. Die Zivilgesellschaft muss schnell stärker werden, wenn wir in diesem Moment etwas bewirken wollen. Die C-19 People’s Coalition ist gut und sie ist wichtig, aber sie ist nicht genug. Sie ist nicht stark genug. Sie ist nicht laut genug. Sie ist nicht radikal genug. Sie ist nicht kämpferisch genug. Sie ist nicht genug eingebettet in das Leben und in die Nachbarschaften der armen Leute.

Das ist die Zeit, in der Aktivisten Risiken für Menschenrechte und öffentliche Güter eingehen müssen. Wir können nicht hinter unseren Computern sitzen und denken, dass man die Welt mit einem Zoom-Anruf verändern kann. Wir müssen raus auf die Straße. Wir müssen es auf eine Art und Weise tun, die sicher für uns selbst und sicher für andere ist, aber das ist es, was wirklich erforderlich ist.

Es besteht eine große Dringlichkeit, all das zu tun, denn es gibt nicht nur die Bedrohung durch das Virus. Es ist auch die Bedrohung durch die autoritäre Politik, die folgen wird, wenn wir das Virus und seine politischen Folgen nicht richtig angehen. Die Politik des Populismus, die Politik der Stärkung von autoritären Regimen. Jede demokratische Regierung hat diese Pandemie genutzt, um Angriffe auf die Zivilgesellschaft zu verstärken und in einigen Ländern sogar um Menschenrechte zu unterdrücken.

Ich hoffe, dass unsere bevorstehende Konferenz ein kleiner Beitrag sein wird, um mit Menschen aus der ganzen Welt zusammenzukommen und eine gemeinsame Strategie einen Schritt voranzutreiben.

Ich hoffe, dass es nicht nur ein kleiner, sondern ein großer Beitrag sein wird. Ich spreche immer wieder von HIV. Ich erinnere mich, dass wir als Zivilgesellschaft globale Aktionstage zu HIV hatten, gegen Pharmaunternehmen. Ich erinnere mich, als Aktivisten vor Pharmaunternehmen in London, in Deutschland und in vielen anderen Ländern wegen der Patente protestiert haben. Das ist es, was wir jetzt tun müssen. Wir müssen da draußen sein und wir müssen die Auseinandersetzung darüber gewinnen, wie die Welt aussehen muss und was die Werte und die Prioritäten der Welt sind!

Das Interview führte Anne Jung.

Mark Heywood ist ein südafrikanischer Menschenrechtsaktivist mit dem Schwerpunkt auf das Recht auf Gesundheit. Er war Generalsekretär der Treatment Action Campaign, die sich für den freien und kostenlosen Zugang zu Aids-Medikamenten einsetzt, und stand bis 2019 der Nichtregierungsorganisation SECTION 27 vor, die mit Öffentlichkeitskampagnen und juristischen Mitteln für das Recht auf Gesundheit und Bildung streitet. Seitdem fungiert er als Mitherausgeber der neuen zivilgesellschaftlichen  Rubrik in der meistgelesenen Online-Zeitung Südafrikas, dem Daily Maverick, Maverick Citizen. Außerdem forscht er zu Aktivismus und Strategien zur Durchsetzung sozioökonomischer Rechte und der Ausrichtung der Wirtschaftspolitik an der Verwirklichung dieser Rechte.

Veröffentlicht am 29. Januar 2021

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