„Nein, Israel ist gnädiger in seiner Gewalt“

Interview mit dem syrisch-palästinensischen Aktivisten Yasin

Über Leben und Sterben in Jarmuk, über Widerstand und Zukunft in Syrien, über Solidarität und Krieg in Palästina. Ein Gespräch mit dem Aktivisten Yasin vom medico-Partner Jafra Foundation in Jarmuk, dem palästinensischen Flüchtlingscamp im südlichen Damaskus.

Es gibt Zonen im syrischen Bürgerkrieg, aus dem schon länger kein Entkommen möglich ist und in denen – im Gegensatz zu den kurdischen Regionen – ohne mediale Öffentlichkeit gestorben wird. Ende 2014 ist es still geworden um das palästinensische Flüchtlingslager Jarmuk in Damaskus.

Ein Jahr zuvor noch hatten internationale Medien über die Nahrungsmittelblockade berichtet, mit der die syrische Armee die BewohnerInnen des Camps kollektiv aushungerte. Damals starben mindestens 128 Menschen an Auszehrung. Die Blockade wurde mittlerweile gelockert, aber die UN-Hilfswerke können ihre Transporte noch immer nur bis zu dem Checkpoint am Lagereingang bringen. Hier warten dann die BewohnerInnen in größeren Gruppen. Allein 50 zivile Helfer von palästinensischen Initiativen wurden bei dieser Gelegenheit in den letzten Monaten verhaftet.

Wir haben bei den palästinensischen AktivistInnen vom medico-Partner Jafra nachgefragt, wie heute der Alltag in Jarmuk ist, ob es auch dort den „Islamischen Staat“ (IS) gibt, und was sie als PalästinenserInnen in Syrien empfanden, als sie die jüngsten Kriegsbilder aus Gaza sahen. Es entspannten sich lange abendliche Unterhaltungen am Computer, der einzigen Verbindungslinie ins abgeschlossene Jarmuk. Wir schrieben die Gespräche ab und mussten feststellen, dass sie für die flüchtige Lesegewohnheit im Internet eigentlich viel zu lang waren. Dennoch veröffentlichen wir sie jetzt, weil sie ein einzigartiges Dokument aus dem inneren Syriens sind, dort, wo schon seit sehr langer Zeit kein westlicher Beobachter mehr hinkommen kann.

Es lohnt sich daher die Zeit zu nehmen, um nachzuvollziehen zu können, was es heißt in einer der gefährlichsten Zonen in Damaskus zivilen Widerstand zu leisten. Es lohnt sich zu verstehen, wie PalästinenserInnen in Damaskus empfinden, wenn es zwar eine Solidarität mit Gaza gibt, die fortwährende Belagerung von Jarmuk aber nur wenig Öffentlichkeit erfährt.

medico: Es fällt sich vorzustellen, wie das Leben in Jarmuk nach einer so langen Zeit der Blockade und des Bürgerkrieges aussieht. Wer lebt heute noch in Yarmouk?

Yasin: Drei Gruppen sind geblieben: Die einfachen Zivilisten, die AktivistInnen und die bewaffneten Gruppen. Die einfachen Leute, die noch immer hier sind, sind die Ärmsten der Armen. Sie haben keine Wahl. Wenn sie das Lager verlassen würden, könnten sie keine Wohnung mieten, da sie völlig mittellos sind. Es gibt aber auch jene, die aus Gründen der politischen Standfestigkeit (Sumud) nicht weichen. Für sie gilt Yarmouk weiterhin als Ausgangspunkt einer möglichen Rückkehr nach Palästina.

Dann gibt es junge Leute wie mich, die humanitäre Hilfe leisten. Auch unter uns gibt es verschiedene politische Motivationen. Es gibt diejenigen, die aus Liebe zum Camp hier bleiben. Andere sind hier, weil sie weiterhin an die syrische Revolution glauben. Sie wären niemals bereit in einen Stadtteil zu gehen, der sich mehrheitlich zum Regime bekennt. Und natürlich gibt es all jene, die gleichermaßen auf Distanz zum Regime und zur Opposition gehen und einfach humanitäre Arbeit leisten wollen.

Wieder andere halten an den Idealen der Revolution fest und wollen nicht aufgeben. Und es gibt auch jene, die eher verzweifelt sind und keine Wahl mehr haben: sie haben sich in der Revolution bewaffnet und können weder zurück noch das Camp verlassen.

Wie verläuft heute der Alltag in Jarmuk? Was machst du oder eine einfache Familie?

Mein Leben verläuft natürlich anders als bei einer normalen Familie. Ich verlasse morgens das Haus und gehe ins Jafra-Center und fange an zu arbeiten. Ob nun Bürotätigkeiten, in den Bepflanzungsprojekten oder im Bildungsbereich. Bei uns sind Leute, die wirklich aktiv sind und jeden Tag auf die Straße gehen. Sie arbeiten in den zivilgesellschaftlichen Komitees oder in den Schulen. Das ist unser Leben. Wir arbeiten von morgens bis abends. Danach treffen wir uns, sitzen zusammen, surfen ein bisschen im Internet und anschließend gehen wir nach Hause. Eigentlich hat jeder Tag diesen Ablauf.

Während der „Phase des Hungers“, haben wir alle, ob nun Familien oder Aktivisten, wirklich alle Zeit damit verbracht irgendwas Essbares aufzutreiben. Heute ist die Situation ein wenig besser, da am Eingang nach Jarmuk nun wieder Essenspakete verteilt werden. Immer wenn eine Verteilung ansteht, dann siehst du die Hälfte der verbliebenen BewohnerInnen in Richtung Raje-Platz ziehen, wo die Kartons ausgeteilt werden. Die Leute sind nicht mehr so viel auf der Straße. Früher war das anders, heute gehen die Menschen nur noch aus dem Haus, wenn sie etwas Lebensnotwendiges erledigen müssen.

Viele wirken wie innerlich erloschen. Ich möchte ein Bespiel geben. Unlängst gab es wieder Gespräche über einen Waffenstillstand im Camp. Diesmal schien es sogar zu klappen, aber dennoch war niemand optimistisch. Vielmehr herrscht so etwas wie eine allgemeine Depression und ob nun der Weg aus Jarmuk hinaus oder auch hinein geöffnet wird, ist vielen fast gleichgültig geworden. Es sind so viele Leute unter uns einfach gestorben, sodass auch die Überlebenden nicht mehr wirklich am Leben sind.

Außerdem wurden viele Familien durch die Belagerung getrennt. Ein Teil befindet sich hier, ein anderer Teil außerhalb irgendwo in Damaskus. Und jetzt haben manche regelrecht Angst davor, wenn sie sich vorstellen, dass ihre Familien und mit ihnen das normale Leben zurückkehren könnte. Natürlich sollen die Wege wieder offen sein, aber es gibt auch eine Angst vor einer Zukunft, der man möglicherweise nicht mehr gewachsen sein könnte und wo man nicht mehr weiß, wie mit jenen ein harmonisches Zusammenzuleben klappen soll, die in der schweren Zeit draußen waren.

Meinst du, dass die Leute dennoch bleiben, auch wenn Jarmuk tatsächlich wieder offen ist?

Viele werden für einige Tage Yarmouk verlassen, aber sie werden dann wieder zurückkehren. Die Leute, die hier blieben, sind die Überlebenden der 1948-Vertreibung aus Palästina oder diejenigen, die wirklich an dem Geist unseres Stadtteils festhalten. Viele von ihnen könnten auch nicht woanders hin, weil sie vom Regime gesucht werden. Diejenigen, die von der Situation profitieren und Schwarzhandel betreiben, sind sowieso nicht allzu viele. Alle, die wirklich raus wollten, sind schon vor Ewigkeiten weg. Wer anderthalb Jahre unter einer Belagerung gelebt hat, der geht nicht so einfach, auch wenn der Weg jetzt offen sein sollte. Die Menschen sind aber auch davon überzeugt, dass diese brutale Form der Hungerblockade so nicht mehr zurückkehren wird.

Ich persönlich werde alles tun, dass es dazu nicht noch einmal kommt. Ich werde aber auch alles einsetzen, damit Jarmuk nicht einfach wieder an das Regime übergeben wird. Nie wieder dürfen wir das, was wir im vergangenen Jahr erleben mussten, noch einmal durchmachen. Wirklich, die Menschen hier haben alle denkbaren Formen des Todes erlebt: Wir wurden bombardiert, wir wurden von Scharfschützen ermordet oder man ließ uns schlicht verhungern.

Ich glaube, dass selbst in Somalia die Menschen anders sterben. Natürlich gibt es auch in Somalia einen großen Hunger. Hier aber, nur 500 Meter von Jarmuk entfernt, wo andere Damaszener Stadtteile beginnen, sind die Märkte und Lokale voller Menschen, dort gibt es genug Essen. Bei uns war es auch so unerträglich, weil wir alle wussten, dass es hinter dem Checkpoint der Armee genug zu essen für alle gab. 

Du sagst, die Leute sterben von innen. Das heißt, die direkten Auswirkungen der Belagerung sind gar nicht so sehr die körperlichen Mangelerscheinungen, sondern vor allem eine beschädigte Psyche?

Ja, das meine ich, obwohl auch die körperliche Auszehrung unerträglich ist. Selbst als die UN-Lebensmittelkartons von Jafra oder anderen Organisationen verteilt wurden, gab es darin nur Rationen, die einen so gerade am Leben hielten: Reis, Bulgur oder Linsen. Erst im Oktober haben sie wieder Gemüse hereingelassen. In Yarmouk gibt es noch etwa 15.000 Menschen und lediglich 2000 konnten ein wenig davon bekommen. Es mangelt an Vitaminen, Proteinen und Calcium. Klar, wir bewegen uns noch und arbeiten. Aber diese Form der Ernährung wirkt sich auf unsere Körper aus.

Wir haben nicht mehr die gleiche Kraft wie noch vor zwei Jahren. Wir haben auch seit fast zwei Jahren keinen Strom mehr. Ein Viertel der Menschen besitzen Generatoren, sodass sie vielleicht 3-4 Stunden Strom am Abend haben. Aber es gibt kaum noch Diesel. Das fehlende Licht schädigt auch unsere Augen, besonders jetzt im Winter. Jarmuk war immer dicht besiedelt. Heute gibt es nur noch wenige Einwohner und unsere Viertel sind leer und dunkel geworden.

Ihr arbeitet auch mit Kindern. Wie wirkt sich auf sie dieses Leben aus? Hast du das Gefühl, dass ihr ihnen wirklich helfen könnt?

In unserem Center versuchen wir die Kinder mit vielfältigen Maßnahmen psychologisch zu unterstützen. Alle Kinder haben Angst und leiden unter den tagtäglichen Schießereien. Oft bleiben sie zuhause, isolieren sich, werden verschlossen und spielen nicht mehr auf der Straße. Wir versuchen damit umzugehen. Bei uns lernen sie wieder zusammen zu spielen und ein Teil der Gesellschaft zu sein. Wir betreuen sie individuell und versuchen herauszubekommen, was die einzelnen Charaktere brauchen. Wir versuchen auch ihre Talente zu fördern. Es gibt künstlerische Angebote wie Singen, Musik und Malen, oder Sportkurse. Wichtig ist, den schlechten Alltag irgendwie aufzufangen, denn alle Kinder kommen sehr früh mit Waffen in Berührung oder mit Verhaftungen und dem gewaltsamen Tod von FreundInnen und Familienangehörigen.

Vor drei Jahren haben uns die Kinder noch gesagt, dass sie, wenn sie groß sind, gerne ein Arzt sein wollen. Heute wollen sie zur Freien Syrischen Armee (FSA) gehen, ein Anführer eines Bataillons werden oder einfach nur ein Gewehr in der Hand halten. Gleichzeitig haben die Familien große Angst davor, dass ihren Kindern etwas passiert, ob nun eine tödliche Kugel oder eine Entführung. Auch deshalb werden die Kinder nicht mehr vor die Tür gelassen. In unserem Center versuchen wir, dem mit etwas Freude zu begegnen.

Die Kinder sollen wieder anfangen von sich zu erzählen, von ihren Sorgen, aber auch ihren Wünschen, damit sie quasi wieder ins Leben zurückkehren. Das hat Auswirkungen auf die gesamte Familie. Viele Eltern wollen das Camp gerade wegen der Kinder verlassen. Wenn sie aber sehen, dass ihr Liebstes wieder auflebt und beginnt zu lachen, dann ist das auch ein Grund vielleicht doch in Jarmuk zu bleiben.

Wie ist die gesundheitliche Lage? Es gab Fälle von Typhus und es wurde gesagt, dass es vor allem an schmutzigem Wasser lag?

Wir haben im Camp dem Hunger mit all den schrecklichen Folgen der Mangelerscheinungen getrotzt. Während der Blockade kostete ein Kilo Reis wirklich zwischen 20 und 50 Dollar. Wir bereiteten ihn mit so viel Wasser zu, dass es eher eine Suppe war. Somit reichte das Kilo dann für 20 Menschen, anstatt nur für fünf. Eine Hauptmahlzeit bestand manchmal nur aus Wasser mit Gewürzen.

Wir als AktivistInnen und Organisationen konnten das Essen ja noch irgendwie bezahlen und kochten daher öffentlich für alle Bedürftigen. Wir machen das heute noch für die Kinder von Märtyrern, von Verhafteten, für Behinderte und alte Menschen. Damals gab es oft nur eine Wassersuppe mit ein wenig Reis. Unsere Hauptmahlzeit bestand aus gekochten sogenannten „Spatzenwurzel“ und Radieschen. Die Spatzenwurzel ist ein schädliches Unkraut, das selbst die Kühe verschmähten, die es hier früher noch gab.

Doch im Juli 2014 begann dann der Typhus sich auszuweiten. Es gab mehrere Todesfälle und das lag tatsächlich am schmutzigen Wasser. Früher gab es überall Pumpen und die Leitungen hatten so viel Wasserdruck, dass auch die umliegenden Viertel versorgt werden konnten. Dann versiegte der Druck und die Leitungen trockneten aus. Wir stiegen auf Brunnen um, aber über das Jahr regnete es kaum.

Auch jetzt haben wir nur maximal 20 Prozent des ursprünglichen Wasserdrucks in  den Leitungen. Und das geschieht nicht aus Liebe für die Bevölkerung in Jarmuk, sondern die staatlichen Wasserwerke können die Leitungen nicht völlig stilllegen, ohne damit nicht auch die regimetreue Bevölkerung in den Nachbarvierteln zu treffen. Das Wasser ist immer noch sehr verschmutzt, weil viele Leitungen während der Kämpfe im Lager zerstört wurden.

Konntet ihr den Erkrankten helfen?

Wir arbeiteten mit dem Roten Halbmond zusammen und begannen eine Präventionskampagne, weil Typhus so ansteckend. Wir gingen direkt in die Schulen, ins Jafra-Kindercenter und in Krankenhäuser, um über Schutzmaßnahmen aufzuklären. Die Kinder wiederum erzählten es in ihren Familien und die sagten es ihren Nachbarn. In den Krankenhäusern fehlten aber Medikamente gegen den Typhus. Also baten wir um die Genehmigung über den Checkpoint Gegenmittel ins Lager bringen zu dürfen.

Die Sicherheitsdienste wollten uns nicht glauben und forderten eine „Probe“ ein. Also mussten Erkrankte an den Checkpoint gehen und „nachweisen“, dass sie tatsächlich infiziert waren - obwohl es zu diesem Zeitpunkt bereits Typhus an anderen Orten in Damaskus gab. Natürlich konnten die jüngeren Leute nicht dahin gehen, sie wären sofort verhaftet worden. Wir haben also Frauen aller Altersklassen zur Untersuchung geschickt.

Wir bekamen erst sehr spät die notwendigen Medikamente und die dann nur in kleinsten Dosen. Denn das Mittel kann auch bei Verletzungen genutzt werden und alles, was nach Yarmouk kommen soll ist in erster Linie eine Frage der „patriotischen Sicherheit“.

Nach der Wiederwahl von Assad im Mai bekam das Ausland den Eindruck, das Regime habe sich wieder stabilisiert. Wie ist eure Erfahrung und was heißt das für die Zukunft in Yarmouk?

Zumindest hier in der Hauptstadt war es schon vor den Wahlen so, dass das Regime die Kontrolle zurückgewonnen hat. Selbst der Opposition ist eigentlich klar, dass sie nicht weiter nach Damaskus vordringen kann. Dennoch gehen viele Leute davon aus, dass die Zeit von Assad eigentlich vorbei ist. Sicher, es kann noch viele Monate oder gar Jahre dauern, das Regime wird sogar bestimmte Gebiete wieder zurückerobern, aber irgendwann wird es dennoch vorbei sein.

Die meisten Menschen wünschen sich einfach nur, dass sich ihre Lebenssituation endlich verbessert und der Alptraum aufhört. Viele der verschiedenen Kämpfer haben endlich verstanden, dass die „Revolution“ unserem Camp extrem geschadet hat. Sie beginnen tatsächlich einzusehen, dass Jarmuk von allen Seiten, dem Regime, aber auch der bewaffneten Opposition, ausgenutzt wurde. Mittlerweile geben viele sogar zu, dass jeder irgendwie seinen Gewinn aus Jarmuk schlagen wollte.

Natürlich halten alle an der Revolution fest, aber viele wollen eine Versöhnung oder einen Waffenstillstand mit dem Regime erreichen, damit die noch vorhandene Symbolkraft von Jarmuk auch erhalten bleiben kann. Der Geheimdienst bietet einzelnen Milizen sogar an die Seite zu wechseln und dann als loyales „Vaterlandsverteidigungsmilitär“ [Jaish ad difa´ al wantani] zu operieren.

Wir fürchten uns wirklich davor, dass sich die Situation in Yarmouk wieder zuspitzen könnte. Alle im Camp sind völlig ausgelaugt und alle die, die Jarmuk verlassen konnten, haben es auch nicht geschafft dem Elend zu entkommen. In Damaskus sind die Mieten unbezahlbar geworden und viele campieren irgendwo schutzlos auf der Straße. Denn auch alle anderen palästinensischen Camps im Land sind fast völlig zerstört. Das Camp Dara‘a existiert nicht mehr, ähnlich ist es in Aleppo oder Homs.

Nur in Jarmuk gibt es noch Reste eines palästinensischen Lebens. Aber weil Jarmuk eine hohe Symbolkraft hat, haben sowohl das Regime als auch die Opposition ein politisches Interesse daran, dass seine BewohnerInnen zurückkehren. Wir als AktivistInnen sagen, dass es nicht nur allein um die Rückkehr geht, sondern dass auch der Ort selbst, seine besondere Geschichte und Architektur berücksichtigt werden muss. Yarmouk ist zu weiten Teilen zerstört und wenn es einen Wiederaufbau geben sollte, dann werden moderne Hochhäuser sein. Der einzigartige Charakter unserer Häuser und Gassen, diese spezielle Atmosphäre wird dann für immer vorbei sein.

Wir versuchen daher, dass wirklich alle bleiben oder zurückkehren und wir treten auch weiter dafür ein, dass unser Rückkehrrecht nach Palästina erhalten bleibt. Viele von uns sind felsenfest davon überzeugt, dass wir nur aus Jarmuk nach Palästina zurückkehren können. Lassen wir uns zerstreuen auf andere Staaten, dann wird es noch unmöglicher werden und auch von daher ist es uns so wichtig, auf das Camp aufzupassen.

Tatsächlich sind wir jetzt von allen Seiten bedroht. Wenn wir zum Checkpoint am Eingang von Yarmouk gehen, wo die Essenspakete verteilt werden, werden wir ohne eine klare Abmachung mit dem Regime sofort festgenommen oder sogar liquidiert. Solange die die Bevölkerung nicht nach Jarmuk zurückkommt, sind wir also in permanenter Gefahr, zudem uns auch die bewaffneten Gruppen verfolgen und manche, wie der IS, sogar regelrechte Fahndungslisten haben, mit denen sie zivile AktivistInnen suchen.

Aber wenn ein Waffenstillstand beinhalten würde, dass das Regime wieder die Kontrolle übernimmt, sind wir uns auch ziemlich sicher, dass wir auchz keine Chance mehr haben. Wir werden wahrscheinlich hingerichtet und selbst unsere Familien werden wegen uns bestraft. Wir können also nur im Camp ausharren und auf irgendeinen Ausweg aus diesem tödlichen Dilemma hoffen.

Es gab immer wieder Verhandlungen um Waffenruhen, die aus sehr unterschiedlichen Gründen gescheitert sind. Werden die AktivistInnen überhaupt gefragt, wenn es um diese Waffenstillstände geht?

Nein, natürlich nicht. Dabei kam die allererste Initiative für eine Waffenpause von uns und den hiesigen zivilgesellschaftlichen Organisationen. Sie scheiterte natürlich, aber seitdem schlugen alle ständig eine Initiative vor, egal, ob sie einen politischen, militärischen oder sonst irgendeinen Hintergrund haben. Zurzeit spielen wir keine Rolle und das Regime sieht uns schlicht als Kriminelle an.

Bei der letzten Verhandlung verlangte das Regime, dass ein Vertreter der Zivilgesellschaft anwesend sein sollte, obwohl man uns ausdrücklich als Konfliktpartei bezeichnet, die sogar gefährlicher als die Bewaffneten sei. Uns hat der Geheimdienstvertreter der „Palästinaabteilung“ direkt ins Gesicht gesagt, dass in Yarmouk alle zivilgesellschaftlichen Organisationen Komplizen des Konfliktes seien.

Der letzte Waffenstillstand war schon sehr weit verhandelt. Er beinhaltete verschiedene Regelungen für jene bewaffnete Gruppen, die aus dem Camp stammten und auch für andere, die von draußen nach Yarmouk gekommen waren. In der Schlussphase wollte sich das Regime sogar verpflichten, nicht wieder die Kontrolle im Camp zu übernehmen. Aber die Vereinbarung scheiterte dann an den islamistischen Milizen. Ein Ende der Kämpfe hätte sie erneut herausgefordert: Frauen wären wieder zurück gekommen, die nicht verschleiert sind, die nicht beten, die nicht mal gläubig sind. Sie hätten gegen diese Leute nicht wirklich etwas machen können, also sabotierten sie die Vereinbarung, damit ihre Macht erhalten bleibt.

Vor knapp zwei Monaten breitete sich plötzlich „Daesh“ (IS) in Jarmuk aus. Was heißt das für euch und könntet ihr euch an diese Politik anpassen?

Nein, das wäre unmöglich. Der IS ist als Phänomen im Camp völlig neu. Bei uns gab es lange Zeit diese Gruppen nicht. Der IS war in Gebieten um Jarmuk herum aktiv, aber nicht bei uns. Selbst in den Nachbarstadtteilen war diese Strömung am Anfang nicht wirklich stark. Doch als beispielsweise in den Vierteln Babila und Beit Sahem eine Waffenruhe beschlossen wurde, konnte die lokale IS-Gruppe dort nicht mehr bleiben. Also zog sie weiter und tauchte in Yalda auf, einem Stadtteil, der unmittelbar an Jarmuk grenzt.

Am Anfang waren sie wirklich sehr wenige. Dann begannen sie die rumhängenden Jugendlichen der Umgebung zu rekrutieren. Sie boten ihnen ein Gehalt und eine sichere Verpflegung. Dann erzählten sie ihnen etwas über die Ideale des „Islamischen Staat“ und begannen ihre Gehirnwäsche. So wurden sie immer mehr und sickerten auch ins Camp ein.

Zu Anfang waren sie nur Einzelne und keine Gruppe. Im benachbarten Stadtviertel Tadamon begannen dann die ersten Probleme, denn die IS-Leute sind einfach völlig extrem: Wenn sie auf der Straße umherlaufen und jemanden schimpfen hören, dann ziehen schon mal ihre Waffe und schießen dem Fluchenden einfach ins Bein. In Jarmuk akzeptierten wir das nicht und konnten ihre Ausbreitung erstmal verhindern.

Im Juli spaltete sich eine ganze Einheit von der Al-Nusra-Front ab und schloss sich dem IS an. Sie eröffneten auf der Hauptstraße von Jarmuk ihre Zentrale und erklärten das auch öffentlich. Wir waren dann erst mal zurückhaltend, denn wir wollten nicht, das es auf einmal heißt, die PalästinenserInnen greifen den IS an.

Dann begann in Yalda der Kampf um die Vorherrschaft im Viertel und die anderen Milizen bekamen Unterstützung aus Jarmuk. Innerhalb eines Tages wurde der IS aus Yalda rausgeschmissen und ebenso erging es ihm vor zwei Monaten in Jarmuk.

Wurdet ihr denn dadurch in eurer Arbeit gehindert? Ihr habt in Jarmuk Schulen, in denen Jungs und Mädchen zusammen unterrichtet werden?

Schon vor dem Auftauchen des IS war die Frage der Geschlechtertrennung ein Hauptthema für die Al-Nusra-Miliz. Das begann vor knapp einem Jahr. Sie kamen zu uns ins Jafra-Center, immer, wenn sie irgendwie ein Zusammensein von Jungs und Mädchen feststellten, und haben uns irgendwelche Flyer an die Wand geklebt oder uns persönlich zur Rede gestellt. Sie erklärten uns dann, was Gott erlauben würde, wie die neuen Gesetze seien. Aber Al-Nusra-Front besteht zu fast 90 Prozent aus Jugendlichen von hier. Sie haben daher auch nicht wirklich diese völlig radikale Kultur und wissen letztlich, dass sie, anders als in anderen Gegenden, uns in Jarmuk nicht einfach alles aufwzingen können.

Als sich aber der IS ausbreitete, wurde die Angst der Menschen tatsächlich größer. Selbst Mädchen, die vorher nicht verschleiert waren, verhüllten sich auf einmal. Auf der Straße wurden Jungen und Mädchen angehalten und gefragt, warum sie zusammen laufen und wie ihr Verwandtschaftsverhältnis sei. Teilweise hatten sie sogar ein Problem damit, wenn auf der Straße gegessen wurde. Allen zivilgesellschaftlichen Zentren wurde mit Schließung gedroht, wenn wir uns nicht an die neuen Gesetze halten würden.

Homs war belagert, Kobane wurde vom IS angegriffen. Gibt es da eine Form der Solidarität untereinander?

Jarmuk ist ein sehr solidarischer Ort. Als die Leute aus Homs, oder auch aus den umliegenden Regionen bei uns Zuflucht suchten, da hat die Bevölkerung ihre Häuser geöffnet. Selbst heute ist es noch so, wenn in irgendeiner näheren Gegend Freiwillige gebraucht werden, dann gehen wir hin, wenn wir es können. Den Zerfall Syriens können auch wir nicht aufhalten, weil wir weiter entfernte Gebiete ja physisch gar nicht erreichen können. Unser einziges „Transportmittel“ ist das Internet.

Aber es gab auch ziemliche Unterschiede zwischen den Belagerungen. In der eingeschlossenen Altstadt von Homs gab es landwirtschaftliche Flächen und auch in Kobane war die Nahrungsmittelproduktion lange Zeit nicht das größte Problem. Jarmuk aber ist einfach absolut urban und bebaut, so dass wir jeden Meter Beet regelrecht suchen mussten.

Du bist Palästinenser aus Syrien, deswegen will ich noch ein bisschen mit dir über Gaza sprechen. Wie seht ihr in Jarmuk den letzten Krieg Israels gegen Gaza?

Früher, wenn auch nur eine Rakete nach Palästina flog, dann ist ganz Jarmuk aufgestanden. Tagsüber und abends demonstrierten wir und führten Sitzstreiks durch. Heute hält uns unsere Situation davon ab. Unsere Stimme wird ja auch gar nicht mehr gehört. Wir machen zwar alle paar Tage immer noch eine Demonstration, aber viele Leute sind auch weggegangen.

Während des jüngsten Gaza-Kriegs diskutieren wir sogar darüber, dass, wenn der Weg von Jarmuk offen wäre, wir wie damals vor zwei Jahren auf die Golan-Höhen gezogen wären, auch wenn es bedeutet hätte, dass die Regierung uns hier zusammenschießen würde.

Vergleicht ihr die Methoden Israels mit denen des syrischen Regimes?

Der Unterschied ist groß. Als die extreme Gewalt des Regimes gegen Jarmuk losging, haben wir mit Leuten in Palästina geredet. Sie haben uns erklärt, was bei ihnen passiert und welche Gewalt Israel einsetzt. Dann meinten sie: Israel ist unser Feind, nicht das Regime, konzentriert euch darauf. Leider sind wir an dem Punkt, dass wir ihnen geantwortet haben: Nein, Israel ist in seiner Gewalt gnädiger als das Regime.

Zu Zeiten Sharons, im Jahr 1982, während der Belagerung von Beirut, haben die Aufständischen immer noch Essen erhalten. Es gab einen berühmten Satz, den Sharon damals gesagt hat: Er will nicht, dass die Menschen aufgeben, weil sie hungrig sind. Wie das syrische Regime uns hier mit einer Hungerblockade bestraft hat, ist mit den Methoden Israels nicht zu vergleichen. Das betrifft auch die Frage der Bombardierungen, die Verhaftungen oder den Foltertod.

Wir haben bislang nicht gehört, das PalästinenserInnen in israelischen Gefängnissen zu Tode gefoltert wurden und wenn, dann kann es nur eine sehr geringe Zahl sein. Und selbst hier in Syrien ist es ganz offensichtlich, dass PalästinenserInnen schneller als SyrerInnen in den Regimegefängnissen sterben.

Israel gibt vorher bekannt, wenn es ein Haus bombardieren will. Wenn dies einmal nicht passiert und das Haus ohne zerstört wird, gibt es meistens einen Aufschrei. Wegen uns schreit niemand. Wir sterben einfach durch alle möglichen Formen des Todes, die Raketen werden über unsere Köpfe und in unsere Häuser geschossen.

Sind Gaza und Jarmuk zwei unterschiedliche Kämpfe, oder ist es der gleiche Kampf an zwei unterschiedlichen Orten?

Meine ganz persönliche Sicht finden hier einige etwas komisch, denn ich fühle mich mehr an Palästina gebunden, als an das Camp. Was in Jarmuk und Gaza passiert, lässt uns noch mehr an Palästina festhalten. Egal, wie sehr wir Syrien und den Boden auf dem wir aufgewachsen sind, lieben, so gibt es doch etwas, was uns am Rückkehrrecht festhalten lässt.

Als der Krieg in Gaza losging, da wurden wir wieder etwas zum Leben erweckt. Wir sind hier fast verhungert, aber als wir dann gesehen haben, wie standfest die Menschen in Gaza sind, haben wir uns zusammengerissen und gesagt, dass wir ebenso standfest sein müssen. Wir sind ein Volk.

Israel und Syrien sind nicht der gleiche Gegner. Aber egal, wo wir unterdrückt werden und wer der Gegner ist, müssen wir zusammenhalten. Ob die Besatzung und Syrien nun ein oder zwei Kämpfe sind? Wir wissen alle, wie es ist. Wenn das syrische Regime fällt, dann wissen wir, dass unser Ziel Palästina ist. Das kann nicht voneinander getrennt werden.

Letztes Jahr, als in
Jarmuk die ersten Menschen verhungerten, gab es nur wenig Solidarität aus Palästina. Nur einmal diskutierten Studierende an der Beer Zeit Universität mit einer aus Syrien zurückgekehrten Delegation. Findest du nicht, dass euch die PalästinenserInnen auf der Westbank mehr im Stich gelassen haben als die SyrerInnen?

Ja, dieser Meinung sind viele in Jarmuk. Als wir hier wegen Gaza auf die Straßen gegangen sind und die Leute dazu motivieren wollten, haben viele einfach entgegnet: „Warum? Als wir verhungert sind, hat sich niemand für uns interessiert.“ Aber es gibt hier einen Unterschied: die PalästinenserInnen auf der Westbank, die sich für uns nicht bewegt haben, sie leben letztendlich doch auf ihrem Boden. Wenn wir daher für Palästina demonstrieren, dann tun wir das eben immer auch, um unsere eigenen Rechte zu verteidigen.

Wir warten nicht mehr darauf, dass die Leute sich für uns erheben. Sie erleben die Besetzung auf ihrem eigenen Boden und bekämpfen sie. Wir aber sind außerhalb unseres Bodens und verlangen, auf unseren Boden zurückkehren zu können. Das, was uns zu unserem Boden hinzieht, ist größer als das, was sie haben. Wir erwarten von ihnen nichts mehr.

Diskutiert ihr die Frage nach der generellen Zukunft der palästinensischen SyrerInnen in Syrien?

Natürlich reden wir darüber. Die Mehrheitsmeinung, selbst von den Oppositionellen war immer, dass wir hier schon seit etlichen Jahren leben und uns niemand so gut behandelt wie das syrische Regime. Als dann aus den umliegenden Gebieten bewaffnete Oppositionskräfte ins Camp eindrangen, raubten sie uns mit der Bemerkung aus, dass es doch ihr Land sei und dass wir wesentlich besser leben würden als sie. Da bekamen wir richtige Angst und begannen darüber nachzudenken, was eigentlich passieren würde, falls das Regime an der Macht bliebe, denn die palästinensische Camps in Daraa und anderen Städten, aber auch ein großer Teil von Jarmuk hatten sich ja auf die Seite der Opposition gestellt.

Das Regime und die mit ihm loyale Bevölkerung werfen jetzt den PalästinenserInnen den Verrat vor: Sie kamen nach Syrien, wir haben ihnen alles geboten und jetzt haben sie unsere Gastfreundschaft missbraucht. Die Opposition ist in ihren öffentlichen Reden auch nicht besser. Selbst zu Zeiten der Syrisch Nationalen Koalition hörten wir immer wieder Sätze wie, dass die PalästinenserInnen viele Arbeitsplätze hätten. Einige sagten auch deutlich, dass sie die PalästinenserInnen als ein Hindernis für eine innersyrische Lösung sehen.

Es wird also viel über uns gesprochen und wir befinden uns zwischen zwei Feuern: dem Verbleib des Regimes an der Macht und seinem möglichen Ende. In beiden Fällen ist unsere Lage wirklich schlecht. Die Mehrheit der PalästinenserInnen, die in Syrien lebte, hat inzwischen das Land verlassen oder ist auf dem Weg nach Europa.

Früher chattete ich noch mit einigen syrischen Schulfreunden im Internet. Ich versuchte ihnen zu erzählen, wie unsere Lage im belagerten Jarmuk war und dass die Leute hier verhungerten. Da kam dann einfach nur noch als Antwort: das habt ihr verdient, ihr seid Verräter und hoffentlich werdet ihr auch noch mit Chemiewaffen bombardiert. Es waren mal meine besten Freunde, heute sind sie nur noch loyale Anhänger des Regimes.

Viele PalästinenserInnen aus Syrien betonen immer, dass sie palästinensische SyrerInnen seien und nicht nur einfach PalästinenserInnen. Hat sich das mit der Belagerung von Jarmuk für euch geändert?

Für uns? Nein, ganz sicher nicht. Jarmuk ist der Ort, wo wir leben und aufgewachsen sind. Wenn ich sage, dass ich palästinensischer Syrer bin, dann hat das sicher was mit dieser Verbundenheit zu tun. Es bedeutet, dass ich Palästinenser bin und keinen Boden habe, Syrien aber mein zweites Land ist.

Die Leute werden ganz sicher sagen: wenn ich kein Palästinenser wäre, dann wäre ich Syrer. Das liegt nicht nur daran, dass wir hier aufgewachsen sind, sondern Syrien ist auch in uns. Früher habe ich immer auch auf Facebook geschrieben: meine Eltern, das sind Syrien und Palästina. Der Vater ist Palästina, die Mutter Syrien.

Das Interview basiert auf mehreren Gesprächen, die medico im November 2014 über Skype mit Jarmuk führte. Der Name des Aktivisten ist verändert, um ihn nicht zusätzlich in Gefahr zu bringen. medico unterstützt weiterhin die Arbeit der Jafra-Foundation.

Veröffentlicht am 18. Dezember 2014

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